Einleitung
Mitte des 17. Jahrhunderts kamen im radikalprotestantischen Flügel in England erstmals Forderungen nach Religions-, Gewissens-, Pressefreiheit und allgemeinem Männerwahlrecht auf. Michael Farris hat dazu eine umfangreiche Untersuchung zu den frühen Quellen der Religionsfreiheit in den USA vorgelegt, darunter ungezählte Predigten und Traktate. Nachdem Sebastian Castellio, der als ehemaliger Calvinschüler 1554 gegen Johannes Calvin für eine noch recht rudimentäre Religionsfreiheit - die etwa weiterhin die Bestrafung von "Gottlosen" vorsah - eingetreten war, stammt das erste bekannte Traktat, das eine völlige Religionsfreiheit postuliert, von dem englischen Baptisten Leonard Busher aus dem Jahr 1614.
Der Gedanke breitete sich unter Baptisten und anderen Dissenters in England, den Niederlanden und dann den USA aus. Es war der Baptist und Spiritualist Roger Williams (1604 - 1685), Mitbegründer der ersten amerikanischen Baptistengemeinde mit kongregationalistischer Struktur, der 1644 die völlige Religionsfreiheit forderte und 1647 im späteren Rhode Island die erste Verfassung mit Trennung von Kirche und Staat und mit der Zusicherung der Religionsfreiheit - auch für Juden und Atheisten - errichtete, obwohl er ein Freund der christlichen Mission war. Bereits 1652 wurde dort die Sklaverei abgeschafft: "Nicht obwohl, sondern weil er tief religiös war, forderte Williams eine Trennung von Politik und Religion." Für William Penns (1644 - 1718) späteres "heiliges Experiment" Pennsylvania gilt dasselbe.
Stiefkinder der Reformation
Der evangelische Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch hat die Meinung vertreten, dass die Kodifizierung der Menschenrechte nicht dem Protestantismus der etablierten Kirchen, sondern den in die Neue Welt vertriebenen Freikirchen, Sekten und Spiritualisten - von den Puritanern bis zu den Quäkern - zu verdanken sei: "Hier haben die Stiefkinder der Reformation überhaupt endlich ihre weltgeschichtliche Stunde erlebt." In den USA verbanden sich die von tief gläubigen Vorkämpfern wie Williams und Penn erkämpfte Religions- und Gewissensfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat mit den von Puritanern und anderen Reformierten ausgebauten Verfassungsstaatsentwürfen (zunächst ohne Religionsfreiheit) und der von aufklärerischen und deistischen Politikern umgesetzten Demokratie für Flächenstaaten, welche die frommen Vorgaben in säkulares Recht umsetzten.
Die Geburtsstunde der Religionsfreiheit - so könnte man zugespitzt formulieren - ist also der Freiheitskampf christlicher Minderheitenkirchen gegen christliche Majoritätskirchen und in manchen nichtchristlichen Ländern von religiösen Minderheitsbewegungen gegenüber der Mehrheitsreligion - etwa der Buddhisten in Indien gegenüber den Hindus. Dies erklärt auch die Ambivalenz des historischen Christentums gegenüber demokratischen Entwicklungen, die "Ambivalenz christlicher Toleranz", die es unmöglich macht, historisch eine direkte Linie vom Christentum zur Demokratie zu ziehen.
Es gibt noch zu wenige Studien über die Frage, ob die enge Verbindung zwischen Demokratie und Minderheitenkirchen allein geschichtlich ist oder heute noch zutrifft. Jeff Haynes hat eine umfangreiche Analyse darüber vorgelegt, welche religiösen Gruppen und Richtungen im heutigen Afrika Demokratie fördern oder behindern. Er kommt zu dem Schluss, dass die großen, etablierten Kirchen meist größere Probleme mit der Demokratie haben als kleine und neue Kirchen. Obwohl letztere "fundamentalistischer" seien, sind sie in sich demokratischer, böten mehr Aufstiegschancen und seien nicht so stark vom Hegemoniestreben bestimmt. Für den Islam in Afrika kommt Haynes zu ähnlichen Ergebnissen.
Die Feststellung, dass es religiöse, zudem oft verfolgte Minderheiten waren, die Demokratie und Religionsfreiheit forderten, gilt nicht nur für das Christentum, sondern auch und gerade für das Judentum oder - um ein viel jüngeres Beispiel einer erst im 19. Jahrhundert erstandenen Religion zu wählen - für die Bahá'i. Ob man so weit gehen und mit Hannes Stein sagen muss: "der moderne Rechtsstaat kam nicht aus Athen. Er kam aus Jerusalem", mag dahingestellt sein, aber der Gedanke einer Bundesverfassung und einer Trennung von Priester und König stammt tatsächlich aus dem Alten Testament. Es ist kein Zufall, dass es der bedeutende jüdische Philosoph und Reformer Moses Mendelssohn (1728 - 1786) war, der in Europa als Erster für die Trennung von Kirche und Staat und für Religionsfreiheit eintrat - auch wenn das noch nicht die Duldung von Religionslosen einschloss. Die von Mendelssohn ausgehende jüdische Aufklärung beeinflusste sowohl die säkulare Aufklärung als auch das Christentum und hat einen festen Platz in der Vorgeschichte der Demokratie.
Die antiklerikale Aufklärung der Französischen Revolution und die von sehr frommen und von deistischen Menschen geprägte Amerikanische Revolution haben eine tiefe Gemeinsamkeit, die man auf den ersten Blick nicht vermuten würde. Beide richteten sich gegen die herrschenden Großkirchen. Alexis de Tocqueville (1805 - 1859) vertrat in seinem berühmten Werk über die Demokratie in Amerika, dass hier tief religiöse, meist reformierte Bewegungen eine untrennbare Symbiose mit aufgeklärten Sichtweisen eingegangen seien. Das Zusammenspiel von Christentum und Aufklärung funktionierte, was die Entstehung der Demokratie betraf, in Amerika wesentlich reibungsloser, während es in Europa erst am Ende zahlreicher, oft gewalttätiger und blutiger Auseinandersetzungen stand. Das wirkt nach und erklärt vielleicht bis heute das oft vorhandene Unverständnis von Amerika und Europa füreinander.
Christentum und Demokratisierung
Weder hätte die Aufklärung zur Demokratie geführt, wenn sie nicht auf christliche Konzepte in der abendländischen Kultur hätte zurückgreifen können, noch hätte das Christentum ohne Aufklärung seine politische Ethik geändert oder die bequeme Stellung im Bündnis von Thron und Altar aufgegeben: "Die Demokratie wurzelt vor allem - jedoch nicht ausschließlich - in Ländern, die kulturell vom Christentum geprägt sind und - trotz einer langwierigen spannungsreichen Beziehung zwischen Demokratie und christlichen Religionen - von dort Leitvorstellungen für die Ordnung des Zusammenlebens übernommen und weiterentwickelt haben." Manfred G. Schmidt verweist dabei auf einen der bedeutendsten australischen Politologen, Graham Maddox. Während dieser ebenso wie der amerikanische Historiker Page Smith nicht in eigener Sache spricht, sind die bekanntesten deutschen Vertreter dieser These Theologen wie William J. Hoye oder Politiker wie Hans Maier. Die These ist natürlich nicht unwidersprochen geblieben. Zu offensichtlich haben sich in Festland-Europa die Staatskirchen im 19. Jahrhundert mit den Monarchien gegen revolutionäre Bestrebungen oder gegen die 1848er-Bewegung verbündet, als dass man einen monokausalen Weg vom Christentum zur Demokratie zeichnen könnte.
Samuel P. Huntington hat 1993 die breit rezipierte These von den vier Wellen der Demokratisierung aufgestellt. Neben soziologischen und wirtschaftlichen Faktoren stellt er eine Häufung der Rolle der religiösen Mehrheitsreligion bzw. -konfession fest, nach der in einer ersten Welle (1828 - 1926) vor allem protestantische, in der zweiten (1943 - 1962) vor allem protestantische, katholische und fernöstliche, in der dritten (1974 - 1988) vor allem katholische und orthodoxe Länder demokratisch wurden und in der vierten Welle (nach 1989/1990) alle genannten Religionen erneut zum Zug kamen. Heute sind von weltweit 88 freien Demokratien 79, also 90 Prozent, mehrheitlich christlich. Daneben steht eine jüdische Demokratie und sieben mit Mehrheiten fernöstlicher Religionen, wobei in Mauritius und Südkorea die Christen eine zweite große Bevölkerungsgruppe darstellen. Nur Mali hat eine mehrheitlich muslimische Bevölkerung in einem freien, demokratischen Staat. Man könnte auch auf die Türkei und Indonesien verweisen, auch wenn die genannten Listen sie nicht zu den "freien" Ländern zählen.
Ist es Zufall, dass sich die Zuordnung von religiöser Ausrichtung und die Fähigkeit zur Demokratisierung nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums wiederholte und die säkularen, protestantischen und katholischen Länder aus dem ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion recht schnell zu funktionierenden demokratischen Staaten wurden, die orthodoxen Länder nur zum Teil (unvollendet blieb die Demokratie in Russland, Georgien, Montenegro und Mazedonien) und die islamischen gar nicht? Damit soll nicht gesagt werden, dass islamische Länder grundsätzlich nicht demokratiefähig seien (was Mali seit 1991 widerlegt). Erst recht kann es nicht darum gehen, aus irgendwelchen historischen Vorteilen des Christentums Gründe für ein Überlegenheitsgefühl abzuleiten. Das Versagen großer Teile des Christentums angesichts des Nationalsozialismus erinnert Christen an die Worte des Paulus: "Wer steht, sehe zu, dass er nicht falle." Demokraten, auch christliche Demokraten, kann nur der Wunsch beseelen, dass auch muslimische Staaten demokratisch werden.
Die Forschung hat es bisher versäumt, genauer zu untersuchen, was in den islamischen Kulturen dem Errichten einer Demokratie hinderlich ist und welche theologischen und kulturellen Spielarten des Islam welche Auswirkungen auf das politische Gefüge haben. Selbstverständlich geht man davon aus, dass die Ausgestaltung des türkischen, persischen, arabischen und asiatischen Islam Einfluss auf den Demokratisierungs- und Freiheitsgrad der von ihnen dominierten Länder hat. Aber es wurde kaum der Frage nachgegangen, ob es im Islam nicht Parallelen zur innerchristlichen Entwicklung gibt, also ob islamische Minderheiten und Sekten nicht eine größere Aufgeschlossenheit der Demokratie gegenüber aufweisen als der jeweilige Mehrheitsislam.
Politische Ethik und Binnenstruktur der Konfessionen
John Witte hat darauf verwiesen, dass den Hauptdemokratisierungswellen von Staaten mit einer bestimmten konfessionellen Mehrheit in der Regel eine Befürwortung der Demokratie in der politischen Ethik vorangegangen ist. Ist es Zufall, dass die Wende der Katholischen Kirche hin zu Religionsfreiheit und Demokratie im Zweiten Vatikanischen Konzil der weltweit dritten Demokratisierungswelle von 1974 bis 1990 vorausging, die viele katholische Länder in Europa und Lateinamerika erfasste? Ich will hier keine unmittelbare Abhängigkeit begründen, aber dass die Theologie der größten Religionsgemeinschaft der Welt einen Einfluss auf die reale Politik ihrer Anhänger hatte und hat, wird wohl niemand ernsthaft bestreiten wollen.
Da sich die orthodoxe Theologie in der Rezeption einer nachaufklärerischen politischen Ethik am schwersten tat, wäre es demnach kein Wunder, dass sich unter den christlichen Ländern vor allem orthodoxe Länder am schwersten mit einer freien Demokratie tun, obwohl überall inzwischen das Parlament (und die Regierung) frei gewählt wird. Einige dieser Länder weisen noch immer erhebliche Demokratiedefekte auf, etwa Autokratie (Russland) oder eingeschränkte Religionsfreiheit (Griechenland). Gleichzeitig wäre die erkennbar voranschreitende Reform der Theologie und der politischen Ethik orthodoxer Kirchen hin zu Menschenrechten und demokratischen Staatsformen eine Hoffnung darauf, dass die Demokratie in den orthodoxen Ländern stärker und freier werden wird.
Eine Durchsicht deutschsprachiger Ethikentwürfe christlicher Theologen aller Richtungen der vergangenen 20 Jahre ergibt, dass keiner eine undemokratische Staatsform verteidigt oder einer Form von christlicher Theokratie das Wort redet. Zur Demokratie zähle ich die Wahl des Parlaments (und der Regierung) durch freie Wahlen, den Verfassungsstaat, das heißt die Gewaltenteilung und die überprüfbare Übereinstimmung des staatlichen Handelns mit Recht und Gesetz, unabhängige Gerichte und wirksame Opposition, den Rechtsstaat mit Gewährleistung und Schutz der Menschen- und Bürgerrechte durch den Staat und den Schutz von Minderheiten sowie die Trennung von Kirche und Staat samt Religionsfreiheit. Eine Durchsicht englischsprachiger Entsprechungen zeitigt dasselbe Ergebnis. Entwürfe politischer Ethik von christlichen Theologen, die nicht die Demokratie als beste Staatsform darstellen, stammen entweder aus unfreien Ländern oder aber aus orthodoxer Feder, wobei erfreulicherweise meines Wissens im 21. Jahrhundert keine neuen Beispiele hinzugekommen sind. Dass sich die größte Religion der Welt in ihrer Ethik fast vollständig auf die komplizierteste und jüngste Staatsform der Geschichte eingelassen hat, ist eine noch nicht geschriebene Erfolgsgeschichte.
Zur Frage der politischen Ethik tritt die innere Organisationsstruktur christlicher Konfessionen hinzu. Bereits der französische Staatstheoretiker Montesquieu (1689 - 1755) vertrat in seinem Hauptwerk, dass die Monarchie eher zur katholischen Religion passe, die Republik eher zur protestantischen. Für lange Zeit schien er Recht zu behalten, aber die zunehmende Demokratisierung katholischer Länder machte nach und nach eine Differenzierung notwendig. Doch müssen wir hier zur Rolle der Minderheitenkirchen und der Freikirchen zurückkehren. Die erste staatsgründende Verfassung der Geschichte, die des späteren US-Bundesstaates Connecticut (1639), wenige Jahre vor Rhode Island, ist ein offensichtliches Beispiel für den Einfluss des Kongregationalismus, dem die Mehrheit der Einwohner angehörten. In reformierten Ländern mit kongregationalistischen oder presbyterianischen Kirchenstrukturen wie den USA, der Schweiz und den Niederlanden ging die Entwicklung zur Demokratie schneller.
Evangelikale waren im 18. und 19. Jahrhundert in den USA, so Marcia Pally, ein "Rückgrat der bürgerlich-demokratischen Entwicklung", weil sie selbst kongregationalistisch strukturiert waren, die kommunale Entwicklung förderten und antiautoritär sowie stark individualistisch geprägt waren und schließlich aufgrund ihrer antirassistischen Vorgeschichte als Unterstützung schwarzer Kirchen und von Predigerinnen hervortraten. Es ist auffällig, dass sich christliche Konfessionen in der Gesamtentwicklung der Demokratisierungswellen schneller mit aufgeklärten demokratischen Staaten arrangierten, je ähnlicher ihre innere Struktur war. Je stärker die Laien mitzuentscheiden hatten und je stärker die Kirchen durch Wahl von unten nach oben aufgebaut waren, desto früher schwenkten die Konfessionen im Weltmaßstab um. Nur an einer Stelle geht diese Rechnung nicht auf: Die katholischen Länder hätten demnach nach den orthodoxen Ländern von der Demokratisierungswelle erfasst werden müssen.
Damit das nicht als einseitige, konfessionelle Parteinahme verstanden wird, sei darauf hingewiesen, dass bei der Entstehung des Grundgesetzes die genannte Gesetzmäßigkeit außer Kraft gesetzt war. Denn man muss das offizielle Lehramt einer Konfession von dem unterscheiden, was die Laien dieser Konfession tun: Katholische Laien agierten oft viel früher als ihre Kirche zugunsten der Trennung von Kirche und Staat. Vor allem in Gestalt der Zentrumspartei hatte der politische Katholizismus die Weimarer Republik mitgetragen. An der Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland wirkten überzeugte katholische Laien prägend mit. Für Protestanten gilt das so nicht. Zwar kann man für die angelsächsischen Länder zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und davor sagen: "In den Kirchen der USA, aber auch Großbritanniens, betrachtete man Demokratie und Christentum nahezu als Synonyme." Diese Sicht gelangte durch die angelsächsischen Siegermächte natürlich als mehr oder weniger sanfter Druck nach Deutschland. Doch taten sich die evangelischen Landeskirchen zur Entstehungszeit des Grundgesetzes mit der Demokratie noch schwer. Erst 1985 bekannte sich die EKD in einer berühmten Denkschrift ohne Wenn und Aber zur freiheitlichen Demokratie.
Evangelikale, christliche Fundamentalisten und Demokratie
Martin Riesebrodt meint, dass alle Fundamentalisten der Demokratie "feindselig" gegenüberstehen: "Echte Fundamentalisten sind niemals Demokraten aus Prinzip, sondern stets nur aus Opportunität." Doch diese These kann nicht durch historische oder empirische Untersuchungen bewiesen werden. Weder gibt ihm die Geschichte der Demokratie Recht, an deren Beginn viele Fundamentalisten standen, noch die Gegenwart. Man muss sich Gruppe für Gruppe anschauen, wenn man ihre Demokratiefähigkeit beurteilen will. Wohl wissend, dass der Fundamentalismusbegriff für wissenschaftliche Zwecke kaum taugt - Fundamentalisten sind bekanntlich immer die anderen -, möchte ich mich darauf einlassen, den Fundamentalismuscharakter bestimmter Bewegungen einmal vorauszusetzen.
Nehmen wir etwa die weitgehend pfingstkirchlich geprägten brasilianischen Evangelikalen. Nach Untersuchungen des Soziologen Alexandre Brasil Fonseca gehörten 2003 in Brasilien 25 der 57 evangelikalen Kongressabgeordneten den Oppositionsparteien an, 32 der regierenden Arbeiterpartei. Sie machten elf Prozent der Abgeordneten aus und damit in etwa den Prozentsatz der Evangelikalen an den Einwohnern. In Brasilien kann man die Stimmen auf bestimmte Kandidaten kumulieren. Fonseca stellt eine hochgradige Befürwortung der Demokratie fest, die er auf Seiten der katholischen Kirche nicht immer findet. Der Umstand, dass alle demokratischen Parteien als Orte christlichen Engagements gelten, zeigt ihm, dass der säkulare Charakter des Staates und der Parteien angenommen wurde. In Südkorea machen Evangelikale 15 Prozent der Einwohner aus, den größten Teil des Protestantismus. Gemessen an deutschen Maßstäben sind sie überwiegend fundamentalistisch orientiert - ob es sich um den presbyterianischen oder den pfingstkirchlichen Flügel handelt. Sie leben friedlich in einer buddhistischen Mehrheitsgesellschaft und stabilisieren die säkulare Demokratie.
In jüngster Zeit wurden soziologische Untersuchungen zum Verhältnis von Evangelikalen zur Politik und insbesondere zur Demokratie in fast allen Ländern des globalen Südens vorgelegt. Die Bilanz ist dabei insgesamt sehr positiv, die Unterstützung von Diktatoren oder Unrechtsregimen blieb die Ausnahme. Hier zeigt sich auch, dass man die 300 bis 400 Millionen Evangelikalen außerhalb der USA nicht mit den 50 Millionen Evangelikalen in den USA gleichsetzen darf, wobei auch unter ihnen einen erheblicher Anteil evangelikale Afroamerikaner und Latinos bilden und selbst unter George W. Bush immer noch 40 Prozent der Evangelikalen die Demokraten wählten. Politisch teilen sich die Evangelikalen weltweit in Rechts- und Linksevangelikale, wobei die Linksevangelikalen Lateinamerikas oder Indiens fast schon zur Befreiungstheologie gehören und in den USA mit Vertretern wie Ronald Sider oder Jim Wallis zu den schärfsten Kritikern der Politik Bushs zählten.
Nimmt man, um eine andere Messgruppe zu wählen, christliche Ethiken evangelikaler Theologen - nach Riesebrodts Definition ebenfalls "Fundamentalisten" -, so treten alle aus vielerlei Gründen für Demokratie ein, und das nicht nur zum Schein. Reinhard Hempelmann hat seine These, nach der die deutschen Evangelikalen überwiegend keine Fundamentalisten seien und der christliche Fundamentalismus in Deutschland keine Basis habe, unter anderem damit belegt, dass christliche Kleinparteien wie die pfingstkirchliche Partei Bibeltreuer Christen (PBC) oder die katholische Christliche Mitte kaum gewählt werden. Dazu kommt, dass sie von ihren jeweiligen Kirchen auch nicht ansatzweise unterstützt werden. Ähnliches gilt für die USA. Die Christian Reconstruction gilt als einzige Bewegung, die theoretisch eine christliche Republik mit biblischen Gesetzen im Sinne der ersten Gründerstaaten der USA verpflichtend machen wollte. Sie blieb bedeutungslos und hat den Tod ihres Gründers kaum überlebt.
Das Problem der evangelikalen Bewegung in ihrer Geschichte und in Teilen bis heute liegt eher darin, dass sich Evangelikale von der Politik fernhalten und anderen das Gestalten der Gesellschaft überlassen. Gerade dadurch sind sie aber für Demokratien ungefährlich (sofern man nicht den hohen Anteil der Nichtwähler als demokratiegefährdend ansieht). Die russlanddeutschen Evangelikalen in Deutschland beispielsweise arbeiten oft nicht einmal mit anderen Evangelikalen zusammen. Dennoch stammen sie überwiegend aus der ganz oder teilweise pazifistischen Tradition der Mennoniten und Baptisten und sind deswegen in punkto Gewalt oder Missbrauch der Politik "ungefährliche" Kirchen. Sie mögen im religiösen Sinne Fundamentalisten sein, im politischen Sinne sind sie es sicher nicht. Denn gerade, wenn Fundamentalismus bedeutet, den Ursprungszustand der Religion gegen die Moderne wiederherstellen zu wollen, entsteht im christlichen Bereich mit dem Ideal der ganz und gar unpolitischen Urgemeinde in Jerusalem eine eher pazifistische Bewegung.