Einleitung
Ein paar aktuelle Streiflichter auf unser Thema: Zur Feier des Tages der Deutschen Einheit findet ein ökumenischer Gottesdienst statt; eine evangelische Bischöfin und ein katholischer Bischof predigen vor der versammelten politischen Prominenz. Der Bundesminister für Verteidigung dankt den Kirchen für den Dienst der Militärseelsorge. In Frankreich wird Präsident Nicolas Sarkozy von den einen kritisiert, von anderen verteidigt, weil er den Papst offiziell empfangen hat. In Spanien protestieren Bischöfe mit Millionen Katholiken gegen ein liberales Abtreibungsgesetz und gegen die Einführung der "Homoehe". Die feierliche Amtseinführung des neuen Präsidenten der USA wird eingeleitet und beendet durch Gebete zweier Pastoren; Barack Obama leistet den Eid auf die Verfassung, indem er eine Hand auf die Bibel legt. Der Verfassungskonvent der Europäischen Union lehnt die Aufnahme eines "Gottesbezugs" in den Verfassungsvertrag ab.
Wie steht es mit der angeblichen "Privatsache" Religion im weltlichen Staat der angeblich säkularisierten westlichen Gesellschaften? Unsere Beispiele zeigen, dass einfache Formeln das Verhältnis nicht erfassen können. Unsere Frage lautet, ob christliche Ethik einen legitimen Ort im säkularen Staat hat; ob sie Einfluss nehmen darf und soll auf dessen Gestaltung und Politik.
Der säkulare Staat
Der Staat, wie er sich in der europäischen Neuzeit herausgebildet hat, versteht sich als weltlich.
Das war für die Kirchen ein langer, schwieriger Weg. Die ältere Vorstellung vom christlichen Gemeinwesen kannte zwar die zwei Gewalten, die geistliche und die weltliche. Aber letztlich sollte die Christenheit gemäß dem gemeinsamen Glauben regiert werden. Diese Vorstellung blieb bis weit ins 19. Jahrhundert in den Kirchen mächtig. In den evangelischen Landeskirchen Deutschlands verstanden sich die Landesherren als christliche Obrigkeit. Für die katholische Staatslehre formulierte Papst Leo XIII. (1878 - 1903) zwar einerseits, Heilssorge sei nicht Aufgabe des Staates, sondern der Kirche, und diese sei neutral gegenüber den Staatsformen; er hielt aber andererseits am Ideal des christlichen Staates fest, der im Einvernehmen mit der Kirche und deren Lehren seine weltlichen Aufgaben wahrnehmen sollte.
Heute sieht die christliche Theologie und Sozialethik in Übereinstimmung mit der politischen Philosophie klarer als früher, dass die Säkularisierung auch eine geschichtliche Folge christlichen Glaubens ist. Dieser relativiert als Glaube an einen transzendenten Gott alle irdischen Mächte und macht ihren Absolutheitsanspruch unmöglich. Er unterscheidet "zwei Reiche" ("Mein Reich ist nicht von dieser Welt", Johannes-Evangelium 18,36); er stellt die Gewissensüberzeugung des Einzelnen über den Gehorsam gegenüber dem Gesetz ("Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen", Apostelgeschichte 5,29); er leitete ein Auseinandertreten von Religion und Politik, von Staat und Kirche ein und wurde im Laufe der abendländischen Geschichte zum Element fortschreitender Gewaltenteilung.
Der frühere Widerstand der Kirchen gegen den säkularen Staat wird historisch bis zu einem gewissen Grad verständlich, weil sich mit diesem, vor allem in der Französischen Revolution, massive Religions- und Kirchenfeindlichkeit, aber zugleich auch der Versuch, Glauben und Kirche dem neuen Staat dienstbar zu machen, verband. Allgemein gilt in den westlich-demokratischen Staaten heute das Prinzip: freie Kirche im freien Staat.
Säkularer Staat - freiheitlicher Verfassungsstaat - freie Gesellschaft
Diese Formel gibt noch keine hinlängliche Antwort auf unsere Frage nach dem Ort der Kirchen und ihrer Ethik in und gegenüber dem Staat. Die Typisierung des Staates als "säkular" genügt nicht zur Kennzeichnung freiheitlicher Demokratien. Schon in seinen Anfängen sollte der säkulare Staat zwar religiös neutral sein, konnte aber keineswegs wertneutral aus einem nur formalen Gesellschaftsvertrag begründet werden. Sein Hauptziel Friede wurde in den Vertragstheorien der Aufklärung unterschiedlich begründet und ausgelegt. Thomas Hobbes gründet seinen "Leviathan" auf einem pessimistischen Menschenbild. John Locke geht dagegen von Vernunft und Freiheitsrechten des Menschen aus und kommt zu einer konstitutionellen Ordnung. Bei Jean-Jacques Rousseau schlägt naturalistischer Individualismus in die kollektive Ordnung des Gesellschaftsvertrags um. Immanuel Kant begründet die rechtsstaatliche Republik aus der sittlichen Autonomie der Person und macht deren Würde zum Legitimationsgrund des freiheitlichen Staates. Die Verfassungsväter der USA berufen sich auf ursprüngliche, vom Schöpfer verliehene Freiheitsrechte des Menschen.
So wurde der säkulare Staat zum freiheitlichen Verfassungsstaat, der auf dem Konsens seiner Bürger in grundlegenden Wertüberzeugungen gründet und auf dessen ständige Erneuerung angewiesen ist. In der freiheitlichen Verfassung bindet sich der Verfassungsgeber an Grundwerte. Mit seiner freiheitlich-offenen und zugleich wertgebundenen Verfassung realisiert der Staat, dass er nicht souverän über der Gesellschaft schwebt, sondern von dieser getragen wird; dass er aus den moralischen und sozialen Ressourcen der Gesellschaft lebt. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das in dem bekannten, viel zitierten Diktum formuliert, dieser Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne.
Der freiheitliche Staat gibt den Raum der Gesellschaft frei. Er beansprucht zwar Allzuständigkeit für die rechtliche Ordnung des Zusammenlebens seiner Bürger, aber diese Ordnung zielt auf äußere Sicherung und auf Gewährleistung von Freiheiten, nicht auf eine umfassende, sittlich gegründete Lebensordnung wie der vormoderne Herrschaftsverband. Der moderne Staat ist nicht mehr societas perfecta im Sinn der vormodernen Staatsethik, nicht mehr umfassende Lebensordnung, sondern auf bestimmte Funktionen zurückgenommene Rechtsordnung. Im Unterschied zu modernen totalitären Systemen ist er nicht auf die ideologische Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens ausgerichtet. Er akzeptiert vielmehr die religiöse, kulturelle und soziale Vielfalt der Gesellschaft. Auf Freiheitsrechte gegründet, ermöglicht er das Auseinandertreten und die eigengesetzliche Entfaltung verschiedener sozialer Daseins- und Leistungsbereiche wie etwa Kunst und Kultur, Wissenschaften, Wirtschaft, öffentliche Meinung sowie die private Lebensführung der Bürger nach ihren eigenen Vorstellungen im Rahmen der Gesetze: "Nicht im Staat stellt sich heute die Einheit der Lebenswelt dar, sondern in der Person des Menschen, die sich ihrer Individualität gemäß in den verschiedenen Lebensbereichen entfaltet."
Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist doppelseitig. Der Staat gibt private und gesellschaftlich-öffentliche Räume nicht nur frei, sondern er muss die Entfaltung von Menschen- und Bürgerfreiheiten auch schützen und fördern; und zwar sowohl um der Menschen als auch um seiner selbst willen. Die moderne Gesellschaft ist durch hohe Komplexität gekennzeichnet. Die private Lebensführung, die Teilbereiche Wirtschaft, Kultur, Bildung, Medien erfüllen zwar ihre Funktion nach den ihnen eigenen Erfordernissen, sie sind aber zugleich hochgradig interdependent und konfliktreich; sie bedürfen ständig der rechtlichen Ordnung durch den Staat. Die richtige Balance zu finden zwischen Freilassen und Ordnen, zwischen Sicherung des gesellschaftlichen Friedens und Gewährung von Freiheit, ist eine schwierige Aufgabe und Gegenstand ständigen politischen Streits zwischen konkurrierenden Interessen und Ordnungsvorstellungen. Dieser Staat kann nicht mehr nur liberaler Rechtsstaat sein. Er ist auch Sozial- und Kulturstaat. Seine Zielwerte sind Friede, Freiheit und Gerechtigkeit zugleich und in ihrer Spannung zueinander.
In der Katholischen Soziallehre wurden in Auseinandersetzung mit diesen Problemen seit dem 19. Jahrhundert zwei Sozialprinzipien formuliert, die zwar keine Lösungen vorgeben, aber orientierend wirken im Ringen um die nötige Balance: Subsidiarität und Solidarität. Beide gründen im Fundamentalsatz dieser Lehre, wonach die menschliche Person der Gesellschaft bedarf, aber ihrerseits Ursprung, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen ist und sein muss.
Allerdings steckt in Subsidiarität das Wort subsidium, Hilfe. Die Menschen und ihre unmittelbaren Einrichtungen haben Anspruch auf Hilfe entfernterer, stärkerer, auch staatlicher Instanzen, wo ihre Kräfte nicht ausreichen. Damit kommt das Prinzip der Solidarität ins Spiel: Es setzt eine ursprüngliche Sozialität der Menschen voraus und bezeichnet gegenseitige Hilfe so wie das Einstehen aller für die Gesamtheit und der Gesamtheit für alle Einzelnen als Pflicht. Nicht alle Solidarpflichten können in verbindliches Recht gefasst werden; lebendige Solidarität leistet mehr, als das Gesetz fordert. Aber die grundlegenden gesetzlichen Pflichten des Bürgers, zum Bestand des politischen Gemeinwesens gemäß seiner Leistungsfähigkeit beizutragen, sind in der Solidarität begründet; ebenso die Pflichten gegenseitiger Hilfe in den Systemen sozialer Sicherung, die man gern als Solidareinrichtungen bezeichnet. Insofern fordert christliche Sozialethik mehr als äußeren Gesetzesgehorsam; sie zielt auf innere Loyalität, auf Gemeinsinn der Bürger zu ihrem Staat und zu den sozialen Einrichtungen.
Öffentlichkeit als Ort kirchlichen Wirkens
Es gab und gibt noch einen radikalen Laizismus. Dieser lebt aus der Vorstellung, um der religiösen Neutralität des Staates willen müsse alles Religiöse aus der Öffentlichkeit verbannt werden. Aber Öffentlichkeit ist viel mehr als öffentliches Staatshandeln. Es gibt die Öffentlichkeit der gesellschaftlichen Kräfte und Einrichtungen, ihren Prozess der Auseinandersetzung mit Fragen von allgemeiner Bedeutung, ihr Einwirken auf politische Meinungs- und Willensbildung. Es gibt die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch Einrichtungen gesellschaftlicher Kräfte in der Arbeitswelt (Tarifparteien), in Wissenschaft (Universitäten und Akademien), Kultur (Theater, Museen), Erziehung und Bildung (Kindergärten und Schulen) sowie im Gesundheitswesen. Es grenzt an Aberwitz, Religion und Kirchen aus diesem breiten Tätigkeitsfeld verbannen zu wollen. Dieses Feld gehört in einer freien Gesellschaft nicht dem Staat. Er muss darin zwar für die nötige rechtliche Ordnung sorgen, er kann die darin handelnden Kräfte möglicherweise auch unter Wahrung von Parität fördern. Aber er kann sie gerade auch um seiner Neutralität willen nicht absorbieren wollen.
Christliche Kräfte wirken in vielfältigen Gruppierungen und Einrichtungen in diesem öffentlichen Bereich. Die christlichen Kirchen verstehen ihr Wirken als Ausdruck eines Öffentlichkeitsauftrags. In Deutschland ist dieser vom Staat in spezifischen staatskirchenrechtlichen Regelungen anerkannt. Der Öffentlichkeitsauftrag wäre aber missverstanden, wenn man ihn als einen spezifisch politischen deuten würde. Er zielt nicht einmal in erster Linie auf Moral und Ethik. Vielmehr meint er das Recht und die Pflicht der Kirchen, in der Öffentlichkeit zu wirken. Für die Kirchen folgen Recht und Pflicht dieser Art aus ihrem Selbstverständnis, und sie nehmen damit zugleich das Recht auf korporative Religionsfreiheit in Anspruch. Der Bezug kirchlichen Handelns auf Öffentlichkeit gilt für alle kirchlichen Grundvollzüge, für Verkündigung, Gottesdienst (Liturgie) und Diakonie (Caritas). In ihnen erfüllen Kirchen ihre spezifischen Aufgaben.
Soweit sie das wirksam tun, nehmen sie damit indirekt Einfluss auf Gesellschaft und Politik. Sie beeinflussen und fördern mit ihrem in sich unpolitischen Wirken Menschen, die in Gesellschaft und Politik tätig sind. Sie fördern deren aktives Christsein in der Gesellschaft; sie helfen ihnen, christliche Identität zu gewinnen. Sie befähigen Bürger, aus Motiven ihres Glaubens sozial und politisch tätig zu sein, und leisten indirekt einen Beitrag zum Gemeinsinn und zum Gemeinwohl. Es ist nicht Aufgabe der Kirchen, der Gesellschaft gleichsam den Kitt ihres Zusammenhalts zu liefern, etwa in Form bürgerlicher Moral oder einer Zivilreligion. Vor allem dürfen sich die Kirchen nicht vom Staat in diesem Sinn vereinnahmen lassen. Aber dass sie indirekt durch ihr Dasein und ihr Wirken zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitragen, ist dennoch zu wünschen und liegt auch im Interesse des Staates.
Christliche Ethik im öffentlichen Diskurs
Über dieses indirekte ethisch-politische Wirken hinaus beteiligen sich die Kirchen am öffentlich-politischen Diskurs durch Soziallehre und Sozialethik. Sie stellt sich heute in großer thematischer Breite dar. Im katholischen Verständnis gehört sie zur Verkündigung der christlichen Botschaft, "weil sie deren konkrete Auswirkungen für das Leben in der Gesellschaft vor Augen stellt und damit die tägliche Arbeit und den mit ihr verbundenen Kampf für die Gerechtigkeit in das Zeugnis für Christus, den Erlöser, miteinbezieht".
Dass der Kampf um die Durchsetzung der grundlegenden Menschenrechte weltweit noch lange nicht gewonnen ist, bedarf keiner näheren Begründung; es ist evident. Aber auch in den auf Menschenrechten gegründeten freiheitlichen Demokratien wird immer wieder um Bedeutung und Reichweite von Menschenrechten und um den Schutz der Menschenwürde gestritten. Zumal an den umstrittenen Fragen nach Beginn und Ende des menschlichen Lebens, konkreter daran, ob und wie gesetzliche Regelungen dazu aussehen sollen, entzündet sich Streit. Die pluralistische Gesellschaft hat keine gemeinsame Begründung für das Bekenntnis ihrer Verfassung zur unantastbaren Menschenwürde. Deshalb ist auch die Frage nach der Reichweite ihres von der Verfassung gebotenen Schutzes umstritten. In diesem Meinungsstreit ist die Erinnerung von Christen und Kirchen an ihre "starke" Begründung der Menschenwürde aus Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen ein Dienst an Mensch und Gesellschaft, auch wenn oder gerade weil sie wissen, dass sie diese Begründung nicht allgemein verbindlich machen können. Die pluralistische Gesellschaft und ihr Staat brauchen Grundwerte, sind aber oft ratlos in deren Begründung.
Der große andere Bereich kirchlicher Sorge, soziale Gerechtigkeit, also die Bekämpfung sozialer Not, entspricht der Tradition kirchlicher Diakonie durch die Jahrhunderte. Unübersehbar stammen unsere im westlichen Kulturkreis selbstverständlichen sozialen Einrichtungen aus kirchlicher Tradition. Die zahlreichen kirchlichen Einrichtungen in diesem Feld sind eine wertvolle Bereicherung des Sozialstaats. Sie bringen in ihn nicht nur eine im Glauben begründete Motivation ein, sondern aus ihrer praktischen Erfahrung oft auch wichtige Vorschläge und Forderungen. Man kann etwa ohne Übertreibung sagen, dass die Hilfswerke beider Kirchen maßgeblich die Einsicht in die Notwendigkeit von Entwicklungshilfe und -politik verbreitet haben. Ganz selbstverständlich sind soziale Nöte und Probleme immer wieder Gegenstand kirchlicher Sozialverkündigung und Sozialethik.
Ihre Bedeutung hat Karl Kardinal Lehmann in drei Funktionen gefasst, eine inspirierende, eine kritisch-korrigierende und eine transzendierende: "inspirierend, indem sie Beweggründe und Kräfte für politisches Handeln weckt; korrigierend, indem sie vor Fehlentwicklungen warnt und solidarisch nach besseren Lösungen sucht; transzendierend, indem sie Grenzen menschlichen Handelns aufzeigt und innerweltliche Heilslehren oder Utopien zurückweist".
Darin stecken freilich auch Gefahren, zumal im hohen Anspruch auf ein Wächteramt. Es ist sicher richtig zu sagen, in einer Situation eklatanten Unrechts müsse sich die Kirche klar zu Wort melden, gleichsam prophetisch reden. Frühere Versäumnisse werden ihr heute auch von der profanen Gesellschaft vorgehalten. Aber die Regelform christlicher Ethik in der freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft ist das nicht. Politische Streitfragen berühren nur im Grenzfall den Kern des Glaubens. Sie sind meist nicht mit einem eindeutigen Ja oder Nein ohne jedes Aber zu entscheiden. Die kirchliche Soziallehre ist nicht fundamentalistisch.
Auch in den schwerwiegenden Fragen um ethische Grundwerte (Lebensschutz, Ehe und Familie) muss sich christliche Ethik davor hüten, immer nur sittlichen Verfall und moralischen Relativismus anzuprangern und mangelhafte staatliche Gesetze anzuklagen. Die Gesetze etwa betreffs Abtreibung sind in den westlichen Demokratien aus christlicher Sicht durchweg mangelhaft; die Regelungen zur Ehescheidung sind allzu liberal, um nicht zu sagen lax. Dagegen können und dürfen Christen protestieren. Aber keine Frau wird daran gehindert, ihr Kind auszutragen; kein Ehepaar, sich treu zu bleiben bis zum Tod. Niemand wird daran gehindert, Eltern in Not zu helfen, damit sie ihre Kinder annehmen und erziehen können. Niemand hindert die Kirchen an Ehe-, Familien- und Erziehungsberatung und an karitativer Hilfe. In den Anfängen des Streites um "Grundwerte" in den 1970er Jahren hatte Helmut Schmidt deshalb nicht ganz Unrecht, wenn er der Kirche entgegenhielt: Tua res agitur - es geht um deine Sache. Die Kirchen können und müssen in Wort und Tat für ihre und für gemeinsame Grundwerte eintreten, auch wenn für wünschenswerte gesetzliche Regelungen keine Mehrheit erreichbar ist. Die Klage über Werterelativismus und Werteverfall darf nicht die Sicht darauf verstellen, dass sie im freiheitlichen Verfassungsstaat die vergleichbar besten Möglichkeiten haben, ihre Ethik zu lehren und zu praktizieren.
Die Wege, auf denen Kirchen ihre Sozialethik vernehmbar machen können, sind vielfältig. Die profane Öffentlichkeit nimmt das kaum zur Kenntnis. In der katholischen Kirche sind die sozialen Rundschreiben der Päpste die wichtigste, zwar nicht strikt verbindliche, aber maßgebliche Form kirchlicher Sozialverkündigung. Auf nationaler Ebene gibt es Verlautbarungen der Bischöfe und der Bischofskonferenzen. Theologische Fakultäten und Akademien diskutieren wissenschaftlich über Auslegung und Anwendung kirchlicher Soziallehren. Auf der Basis der kirchlichen Lehre, aber in relativer Unabhängigkeit vom kirchlichen Amt handeln "Laien" auf allen Ebenen in gewählten Vertretungen und in Sozialverbänden. Schließlich gibt es zahlreiche kirchliche Medien. So ist die Kirche ständig am öffentlichen Gespräch beteiligt. In der massenmedialen Öffentlichkeit werden allerdings am ehesten zugespitzte Aussagen einzelner Amtsträger wahrgenommen. Talkshows tun es nicht unter einem Bischof. Die differenzierte Argumentation hat allenfalls bei Fachleuten und nachdenklichen Politikern die Chance, gehört zu werden. Sie könnte verstärkt werden, wenn die kirchlichen Amtsinhaber die Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils stärker beherzigen würden: Gesellschaft und Politik sind die vornehmlichen Aufgabenfelder der Laien.
Ausblick
Freie Kirche im freien Staat meint kein beziehungsloses Nebeneinander oder gar distanziertes Gegenüber. Beide nehmen ihre spezifischen Aufgaben unabhängig voneinander wahr, aber realisieren dabei, dass sie in und aus der selben Gesellschaft leben und ihre verschiedenartigen Dienste für die Gesellschaft in geordneter Kooperation wahrnehmen dürfen und sollten. Der Kirchenvertrag eines Bundeslandes mit der Evangelischen Kirche sagt das so: Der Vertrag werde geschlossen "in Würdigung der Bedeutung, die christlicher Glaube und kirchliches Leben und diakonischer Dienst auch im religiös neutralen Staat für das Gemeinwohl und den Gemeinsinn der Bürger haben".
Der Staat darf die Einlösung dieser Erwartung nicht erzwingen wollen; das würde die kirchliche Autonomie in Frage stellen. Die Kirche muss diese Erwartung im freien Vollzug ihrer Aufgaben erfüllen, ohne sich in den Dienst oder gar in Abhängigkeit von staatlichen Institutionen oder politischen Gruppierungen zu begeben. Was sie sagt und tut, ist indirekt immer auch von politischer Relevanz. Aber sie muss es so sagen und tun, dass deutlich wird: Es geht im Politischen um hohe menschlich-gesellschaftliche Güter, aber nicht um den letzten Sinn menschlichen Lebens. Staat und Politik sind auf vorletzte Fragen in dieser Welt bezogen. Indem die Kirchen das erkennbar machen, leisten sie zugleich auch der freiheitlichen Demokratie den vielleicht wichtigsten Dienst.
Denn diese Ordnung ist selbst Ausdruck der Vorläufigkeit, der Unvollkommenheit menschlich-gesellschaftlicher Verhältnisse. Aus dieser urchristlichen Erfahrung speisen sich die Institutionen der Teilung und Kontrolle aller Macht, die eigenartige Mischung von Vertrauen und Misstrauen gegenüber den Herrschenden; die Verfahren der Meinungs- und Willensbildung, der Entscheidung und Revision. Das fordert Geduld und Beharrlichkeit. Diese politische Ordnung ist anspruchsvoll und anstrengend. Eben deshalb verdient sie den Einsatz zumal der Christen aus ihrer im Glauben gründenden politischen Ethik.