Einleitung
Als Papst Johannes Paul II. am 30. Dezember 1988 sein nachsynodales apostolisches Schreiben "Christifideles Laici: Über die Berufung und Sendung der Laien in der Kirche und Welt"
Hier wird deutlich, dass der christliche Glaube und das konkrete Handeln von Christen immer auch eine öffentliche Dimension haben. Christliches Leben beschränkt sich nicht - wie manche zu glauben meinen oder gar lautstark fordern - auf den Bereich einer isolierten Innerlichkeit. Vielmehr stehen Aktion und Kontemplation in einem unauflöslichen Wechselverhältnis. Der Sendungsauftrag Jesu, zu allen Völkern zu gehen und alle Menschen zu seinen Jüngern zu machen (Matthäus 28,19), stellt die Kirche mitten in die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Weil diese Öffentlichkeit keine statische, sondern eine dynamische ist, die von Wandel und ständiger Veränderung geprägt ist, gilt es immer wieder neu, die Gesellschaft in den Blick zu nehmen, um die jeweiligen Zeichen der Zeit zu erkennen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. Trotz sich verändernder Rahmenbedingungen bleibt festzuhalten: Christen können nicht darauf verzichten, sich in die Politik einzuschalten.
Mit dieser Feststellung ist noch nicht gesagt, wodurch sich Christen in der Politik auszeichnen, warum die Demokratie den politischen Einsatz von Frauen und Männern, die im Glauben an Jesus Christus Halt und Orientierung finden, so notwendig braucht. In seiner bis heute wegweisenden Schrift "Politik als Beruf" (1919) beschreibt Max Weber "drei Qualitäten", die "vornehmlich entscheidend sind für den Politiker: Leidenschaft - Verantwortungsgefühl - Augenmaß". Leidenschaft versteht er "im Sinn von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine Sache'", die verbunden sein muss mit Augenmaß als "der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also: der Distanz zu den Dingen und Menschen". Die "Sache" aber, der die Hingabe gilt, ist das "Ethos der Politik".
Wir können - auch wenn es sich lohnen würde - der von Max Weber aufgewiesenen Grundspannung zwischen "Gesinnungsethik" und "Verantwortungsethik" und seinem heute vielfach ideologisch missbrauchten Begriff einer "Realpolitik" an dieser Stelle nicht weiter nachgehen. Was sich auch 90 Jahre nach Erscheinen dieses Textes ganz unmittelbar aufdrängt: Es ist vor allem der Typus des "christlichen" Politikers, der sich und sein Handeln ausdrücklich aus seinem Glauben heraus versteht, den wir auch heute so notwendig brauchen - und damit meine ich keineswegs nur den Berufspolitiker, sondern alle Frauen und Männer, die sich auf ganz unterschiedliche Weise und auf den verschiedenen Ebenen der Demokratie einbringen und politisch engagieren. Waren es doch Persönlichkeiten wie Robert Schuman in Frankreich, Alcide de Gasperi in Italien und für Deutschland Konrad Adenauer, die unmittelbar in Orientierung an ihren christlichen Grundüberzeugungen die Grundlagen für die heutige Friedensordnung Europas gelegt haben.
Doch was ist das - ein "christlicher" Politiker? Es ist, das muss deutlich gesagt werden, nicht eo ipso schon der, der das Christliche im Namen führt. Und das ist bei allem Wert, den das Bestehen "christlicher" Parteien in Europa hat, die schon durch ihren Namen wie durch einen Stachel im Fleisch immer wieder an ihre ideellen Grundlagen erinnert werden, unverändert. Es kommt zuallererst auf die Inhalte an, auf die Glaubwürdigkeit und auf die konkreten Entscheidungen, die im politischen Alltag gefällt werden.
Wer Politik treibt - ob in der Kommunalpolitik oder in den Parlamenten -, hat unweigerlich mit Macht zu tun. Er arbeitet, noch einmal mit Max Weber gesprochen, "mit dem Streben nach Macht als unvermeidlichem Mittel. Machtinstinkt - wie man sich auszudrücken pflegt - gehört daher in der Tat zu seinen normalen Qualitäten." Wo aber schon die staatliche Ordnung um die grundsätzliche Gefährdung und Korrumpierbarkeit von Macht weiß und deshalb durch die Regeln der Gewaltenteilung und vielfältige Instrumente gegenseitiger Kontrolle von Institutionen um eine möglichst weitgehende Begrenzung von Macht bemüht ist, weiß der Christ um die grundsätzliche Infragestellung aller menschlichen Macht durch den Glauben. Er weiß darum, dass der Schöpfungsauftrag Gottes, die Erde zu unterwerfen und über sie zu herrschen (Genesis 1,28), nicht auf gewaltsame Ausbeutung, sondern auf bewahrende Fürsorge zielt. Er weiß, dass die Bibel Gott als den preist, der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht (Lukas 1, 52); und die Liturgie der Osternacht, die Nacht der Auferstehung Jesu, besingt sie als die Nacht, welche die Gewalten beugt (curvat imperia). Gott allein ist der Herr, in dessen Reich am Ende "jede Macht, Gewalt und Kraft vernichtet" wird (1 Korinther 15,24).
Macht, die nicht Gottes eigene Macht ist, sondern von Menschen über Menschen, ist nicht von sich aus, nicht von vornherein und grundsätzlich schon gut. Das gilt im Politischen ebenso wie in den Machtverhältnissen des Alltags, etwa im Arbeitsleben oder in Verwaltungshierarchien. Und doch ist menschliche Macht in der gegebenen Ordnung der Welt ein legitimes, ja unverzichtbares Mittel der Gestaltung - auch in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat. Die Kirche wird deshalb genauso wenig in jene Überbewertung von "Leitung" und "Führung" einstimmen, die in erster Linie Spiegel einer wieder autoritär gewordenen gesellschaftlichen Grundströmung ist, so wenig sie den antiautoritären Versuchen der 68er Jahre folgte.
Wo ein Politiker dezidiert aus seinem Glauben heraus handelt, wird er, bei aller Kunstfertigkeit im Umgang mit der Macht, immer Distanz zu ihr wahren. Er wird es vermeiden, "die Macht lediglich um ihrer selbst willen, ohne inhaltlichen Zweck, zu genießen" (Max Weber), Macht vielmehr einsetzen als das Vermögen zur Gestaltung: Macht als Dienst. Gerade im Umgang mit Macht darf und muss aber immer wieder auch mit der Möglichkeit des Scheiterns gerechnet werden. Vielleicht ist in Zeiten einer perfektionistischen Hülle, von Null-Toleranz und entsprechenden ständigen Verschärfungen von Strafbestimmungen gerade das ein besonderes christliches Zeugnis, dass - wie jeder Gläubige - auch der in der Öffentlichkeit stehende Politiker um Schuld, eigene und fremde, weiß und aus dem dauernden Angebot von Gottes Vergebung leben darf.
Die Kirche hat in ihrer Sozialverkündigung umfassende Weisungen zur Gestaltung des Zusammenlebens in der Gesellschaft gegeben. In der Orientierung an der menschlichen Person mit ihrer unhintergehbaren Würde (Personalität), der Verpflichtung zu Ausgleich und wechselseitiger Hilfe (Solidarität), dem Vorrang des Einzelnen und der kleinen Gemeinschaften vor den großen gesellschaftlichen Strukturen, die gleichzeitig zu deren Unterstützung verpflichtet sind (Subsidiarität), schließlich der Orientierung am Gemeinwohl als umfassender Zielbestimmung findet sie ihre klassische Ausgestaltung. Diese Prinzipien haben sich in ihrer Umsetzung, etwa in der ursprünglichen Gestalt der Sozialen Marktwirtschaft, im Nachkriegsdeutschland aufs Beste bewährt. Wer sich politisch betätigt, ist wie jeder Christ zuerst und uneingeschränkt seinem Gewissen verpflichtet. Zugleich sieht er sich jedoch von den genannten und anderen inhaltlichen Vorgaben des kirchlichen Lehramtes im Bereich des politischen Lebens herausgefordert, die für den Katholiken verpflichtenden Charakter haben. So hebt die "Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben"
So wenig wie es genügt, die Globalisierung einzig als eine Herausforderung für Ökonomen zu sehen, so wenig genügt es, die immer neuen Möglichkeiten der Bio- und Gentechnologien für ein nur wissenschaftliches und technisches Problem zu halten, das man getrost den Fachleuten überlassen kann. Zweifellos: Unsere Gesellschaft, unsere Welt kommt ohne Expertenwissen nicht aus. Aber die Verantwortung für den Umgang mit diesem Wissen geht uns alle an, so wie wir die Folgen - die positiven wie die negativen - tragen.
Hier, meine ich, sind Christen besonders gefordert, durch Wort und Tat zu zeigen, was es heißt, in Verantwortung vor Gott und den Menschen zu leben. Dies bedeutet, dass Christen weder eine Kontrastgesellschaft, eine Art christliche Sonderwelt bilden, in der sie abgeschlossen von gesellschaftlichen Entwicklungen für sich leben, noch zu den Zaungästen der Gesellschaft zählen. Vielmehr stehen sie in der Verantwortung, als Christen und Glieder der Gesellschaft in diese hineinzuwirken und den Blick insbesondere auf diejenigen zu richten, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind oder deren Stimme nicht gehört wird.
Wenn wir uns, die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche, im Jahr 2006 gemeinsam zu Wort gemeldet haben, als wir das Wort zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens "Demokratie braucht Tugenden" vorstellten, dann nicht zuletzt deshalb, weil wir damals wie heute unser demokratisches Gemeinwesen vor Aufgaben sehen, die mit Routinepolitik nicht zu bewältigen sind. Erschüttert ist die Vision, alle Individualinteressen fügten sich harmonisch zum Gemeinwohl, wenn man sie ausschließlich den bekannten Marktmechanismen oder der Hand des Staates überlasse. Wir sind damals wie heute überzeugt: Demokratische Institutionen können auf Dauer ihre Funktion nur erfüllen, wenn die politisch Handelnden Grundhaltungen erkennen lassen, die über die Strategieregeln des Erwerbs und Erhalts von Macht und Einfluss hinausgehen. Wir als Kirchen wollen uns diesem Diskurs anbieten, weil wir glauben, dass gerade von uns das erwartet wird: nicht Politik zu machen, sondern für eine Werteorientierung in der Politik einzutreten, in deren Zentrum die Würde jedes Menschen, die Achtung der Menschenrechte und die Ausrichtung am Gemeinwohl stehen.
Hier braucht es überzeugte und überzeugende Christen als Gesprächspartner, als Handelnde, als Mitwirkende und Mitgestaltende in Demokratie und Gesellschaft. Als Christen geben wir Zeugnis, und ich bin überzeugt: Wir müssen noch mehr Zeugnis wagen! In der Öffentlichkeit, im Raum des Gemeinwohls, als Individuen, die diesen Staat mittragen und prägen: Das Wirken von Christen in die Zivilgesellschaft hinein ist unübersehbar und vor allem unverzichtbar. Es offenbart nicht nur die Notwendigkeit des Mitwirkens, sondern zeugt vom hohen moralischen Auftrag des Christen, Politik und Gesellschaft in einer Demokratie aktiv mitzugestalten. Diesem Auftrag darf sich ein Christ nicht entziehen, weshalb es die Notwendigkeit gibt, sich aktiv im demokratischen Geschehen - zum Beispiel durch die Beteiligung an Wahlen - zu engagieren.
Mehr Zeugnis wagen - in der Demokratie! Das wünsche ich mir. Auch und gerade mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen und die anstehenden Aufgaben in unserem Land, in Europa und der Welt.