Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Präsident Obama und die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen | NATO | bpb.de

NATO Editorial Auf dem Weg zum Weltpolizisten? Präsident Obama und die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen Im Westen nichts Neues? Partnerschaft, Kalter Krieg oder Kalter Frieden? Die Zukunft der NATO in Mittelosteuropa Russland und die NATO: Grenzen der Gemeinsamkeit Deutschland als europäische Macht und Bündnispartner

Präsident Obama und die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen

Markus Kaim

/ 15 Minuten zu lesen

Nach der "Rückkehr" der USA zum Multilateralismus wird der Wert des Bündnisses daran gemessen werden, ob es zukünftig schnell und wirksam militärisch handeln kann.

Einleitung

Wohl selten zuvor ist der Amtsantritt eines amerikanischen Präsidenten in Europa mit solch hohen Erwartungen begleitet worden wie der von Barack Obama. Dies hat verschiedene Ursachen, die miteinander verwoben sind: Zum einen fühlen sich viele Europäer dem neuen Amtsinhaber auf Grund seiner Person und seines Lebenslaufs offensichtlich nahe; zum anderen sprechen diejenigen Äußerungen aus dem Wahlkampf, die auf das politische Programm des neuen Präsidenten schließen lassen, in vielen Staaten Europas die Politik wie die öffentliche Meinung gleichermaßen an und verheißen ein großes Maß an Übereinstimmung und künftiger Zusammenarbeit. Schließlich profitiert das Ansehen Obamas von der - vorsichtig formuliert - geringen Wertschätzung der europäischen Öffentlichkeit für die außen- und sicherheitspolitische Bilanz der Regierung George W. Bush.



Nach acht Jahren, die in weiten Teilen der europäischen Gesellschaften als eine Zeit in Erinnerung bleiben werden, in der die USA den sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht oder nicht angemessen nachgekommen sind und in der die persönlichen Beliebtheitswerte von Präsident Bush nie zuvor bei einem amerikanischen Präsidenten gemessene Tiefen erreicht haben, erscheint vielen europäischen Betrachtern der Amtsantritt Obamas als ersehnte Zäsur für die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen. In zahlreichen Politikfeldern wird ein deutlicher Bruch mit den Entscheidungen der Regierung Bush erwartet: bei der Bekämpfung des Klimawandels, bei der Abrüstung und der Rüstungskontrolle, im Kampf gegen den transnationalen Terrorismus, bei der Nutzung internationaler Organisationen, um nur einige zu nennen.

Vor diesem Hintergrund hat es der neue amerikanische Präsident in Europa leicht und schwer zugleich: leicht deshalb, weil er in der Sache eigentlich nichts tun muss, um höhere Sympathiewerte als sein Vorgänger zu erreichen, die wiederum die Voraussetzung dafür sind, dass den USA eine Führungsrolle in der internationalen Politik zugewiesen wird und europäische Staaten bereit sind, wieder der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik zu folgen. Zugleich hat er es schwer, da die europäischen Erwartungen auf seine Person fokussiert sind, aber strukturelle Beschränkungen, denen er bei seiner Politik unterliegt, ausgeblendet werden.

Im Folgenden soll an drei Feldern beispielhaft die veränderte Haltung der Regierung Obama gegenüber den transatlantischen Sicherheitsbeziehungen analysiert werden: a) am prinzipiell veränderten Zugang zu multilateralen Organisationen, konkret: der NATO; b) an der amerikanischen Politik gegenüber der ISAF-Mission in Afghanistan sowie schließlich c) an der veränderten Position gegenüber Russland in sicherheitspolitischen Fragen. Abschließend soll diskutiert werden, welche Folgen dieser Paradigmenwechsel für Deutschland und die anderen europäischen NATO-Staaten als sicherheitspolitische Partner der USA haben werden.

Rückkehr zum Multilateralismus

Eines der Themen, bei denen die europäische Politik am stärksten einen Paradigmenwechsel erwartet, betrifft nicht die Substanz der amerikanischen Außenpolitik, sondern die instrumentelle Ebene: den Umgang der USA mit internationalen Organisationen und die Nutzung multilateraler Foren für ihre Politik. Der Grundübereinkunft der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen - "Multilateralismus für Gefolgschaft" - sind bis zum Ende des Ost-West-Konflikts alle amerikanischen Regierungen prinzipiell gefolgt. Dabei sind jedoch immer wieder Abweichungen von diesem Kurs erkennbar geworden. Hauptgrund dafür war eine zeitweilige Unzufriedenheit mit den existierenden Organisationen der transatlantischen Sicherheit, vor allem mit der NATO.

Am deutlichsten hat diese Obamas Vorgänger George W. Bush artikuliert, in dessen Amtszeit, vor allem während der Jahre 2001 bis 2005, die nordatlantische Allianz lediglich eine untergeordnete Rolle im instrumentellen Kalkül der USA spielte. Das Bündnis galt in Washington als ineffektiv und überholt: Seine Entscheidungsprozesse dauerten zu lange, um auf Krisen reagieren zu können; mit wenigen Ausnahmen würden die europäischen Verbündeten keine substantiellen militärischen Beiträge leisten - kurz: Die NATO würde die USA fesseln und in ihren Handlungsspielräumen einschränken. Hingegen sei der Nutzen, den Washington bei der Bewältigung der sicherheitspolitischen Herausforderungen aus diesem multilateralen Kooperationsrahmen ziehe, begrenzt. In Umkehrung des angesprochenen transatlantischen "Deals" entzog sich die Regierung Bush weitgehend der Bindung durch den multilateralen Kooperationsrahmen der NATO. So nutzte sie die atlantische Allianz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nicht, obgleich diese zum ersten Mal in ihrer Geschichte unter Bezug auf Artikel 5 des NATO-Vertrages den Bündnisfall ausgerufen hatte. Zahlreiche europäische Verbündete verweigerten im Gegenzug der Regierung Bush in sicherheitspolitischen Fragen die Gefolgschaft: Der Zwist um den Irak-Krieg 2003, die Frage einer in Osteuropa stationierten amerikanischen Raketenabwehr und die Debatte um ein autonomes militärisches Hauptquartier der Europäischen Union sind nur einige wenige Beispiele dieses transatlantischen Zerwürfnisses.

Umso mehr haben europäische Beobachter die Rückkehr der Regierung Obama zu einer multilateralen Politik im Rahmen der NATO begrüßt. In Fortführung beziehungsweise Bündelung zahlreicher Äußerungen hat Vizepräsident Joseph Biden auf der diesjährigen Münchener Sicherheitskonferenz am 7. Februar 2009 das neue amerikanische Credo in den transatlantischen Sicherheitsbeziehungen wie folgt zusammengefasst: "The threats we face have no respect for borders. No single country, no matter how powerful, can best meet them alone. We believe that international alliances and organizations do not diminish America's power - they help us advance our collective security, economic interests and values. So we will engage. We will listen. We will consult. America needs the world, just as I believe the world needs America."

Allerdings knüpft die Regierung Obama im doppelten Sinne an ihre Vorgängerin an: Zum einen betont sie, dass Allianzen, Verträge und internationale Organisationen, denen die USA angehören, glaubwürdig und effektiv sein und dass ihre Mitglieder gewillt wie fähig sein müssen, den Regeln der internationalen Politik Geltung zu verschaffen, das heißt deren Einhaltung gegebenenfalls auch zu erzwingen. In den entsprechenden Äußerungen von Vertretern der neuen amerikanischen Regierung klingt zum anderen die Erwartung an, dass die europäischen Verbündeten einen ihren Möglichkeiten entsprechenden Anteil an den Verpflichtungen der NATO tragen müssen. Die amerikanische Rückkehr zum Multilateralismus in den transatlantischen Sicherheitsbeziehungen bedeutet also nicht nur größere Möglichkeiten für die Politik der europäischen NATO-Mitglieder (wie in einigen Staaten bevorzugt wahrgenommen wird), sondern der neue Konsens, der im Kern eine Rückkehr zur alten transatlantischen Übereinkunft ist, bedeutet auch, dass die Regierung Obama größere Erwartungen an die Europäer herantragen wird und diese bereits mit Blick auf den NATO-Gipfel im April 2009 entsprechend geäußert hat.

ISAF-Einsatz in Afghanistan

Deutlich werden diese Erwartungen vor allem im Kontext der NATO-Mission in Afghanistan. Die Regierung Obama hat unmittelbar nach ihrem Amtsantritt angekündigt, die amerikanische Politik im Irak und in Afghanistan neu zu bewerten. Eine Prioritätenverschiebung ist bereits klar erkennbar: Die amerikanische Truppenpräsenz im Irak gilt als ungeliebtes Erbe der Ära Bush und als Konflikt, der von der eigentlichen sicherheitspolitischen Hauptforderung, der Bekämpfung des islamistisch inspirierten transnationalen Terrorismus, abgelenkt habe. Zudem hat sich die sicherheitspolitische Situation im Irak mittlerweile so stabilisiert, dass bis zum August 2010 alle Kampfeinheiten und bis Ende 2011 die amerikanischen Truppen vollständig abgezogen werden sollen.

Bezüglich Afghanistans werfen erste Wortmeldungen etwa der Außenministerin Hillary Clinton und des Nationalen Sicherheitsberaters James L. Jones der Bush-Regierung Misserfolge vor und schlagen eine strategische Neujustierung vor. Da es sich beim amerikanischen Engagement am Hindukusch um den Ausgangspunkt des Kampfs gegen den transnationalen Terrorismus handele, genieße dieses Engagement höchste Priorität. Im Gegensatz zur Bush-Administration schweben der Regierung Obama deutlich bescheidenere Ziele vor: Orientierungsmarke solle nicht länger sein, das Land zu einer westlichen Demokratie zu entwickeln, sondern sicherzustellen, dass es nicht länger als Vorbereitungsort terroristischer Anschläge dienen könne und dass innerhalb des politischen Systems bestimmte Mindeststandards von "Good Governance" Beachtung finden.

Die Afghanistanpolitik der USA wie der NATO müsse in einen regionalen Ansatz eingebettet ein, der Pakistan einschließe, da diejenigen Kräfte, welche die Sicherheit und den Staatsaufbau in Afghanistan unterminierten, Schutz in den Grenzgebieten Pakistans fänden. Dies ist zum einen in der faktisch offenen Grenze zwischen den beiden Ländern begründet, die täglich von mehreren Tausend Menschen unkontrolliert passiert wird, zum anderen in der schwach ausgebildeten Autorität der pakistanischen Zentralregierung, die Teile des Staatsgebietes mit ihren Sicherheitskräften nicht mehr kontrollieren kann. Ohne eine Einbindung Pakistans (und weiterer Nachbarstaaten) wird es, so die Perspektive der Regierung Obama, keinen Erfolg in Afghanistan geben. Die Ernennung von Richard Holbrooke zum Sondergesandten für Afghanistan und Pakistan, der einige europäische Staaten ebenfalls mit der Ernennung eigener Koordinatoren gefolgt sind, reflektiert diesen neuen Ansatz.

Die dabei einzuschlagende Strategie solle alle Bestandteile der Macht der USA zur Anwendung bringen, und zwar Diplomatie, militärische Instrumente und die Unterstützung bei der Entwicklung des Landes. Damit greift die Regierung stärker als ihre Vorgängerin den Comprehensive Approach der NATO auf, also das Bemühen, in Afghanistan unterschiedliche Instrumente koordiniert so zu verwenden, dass die im Mandat festgelegten Ziele in absehbarer Zeit erreicht werden können. Dies schließt auch Gespräche mit gemäßigten Taliban sowie erhöhten Reformdruck auf die Regierung des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai ein. Schon seit längerer Zeit betonen amerikanische Politiker und Militärvertreter immer wieder, dass die Mission in Afghanistan mit militärischen Mitteln allein nicht zum Erfolg geführt werden könne. Diese Einsicht wird erst seit dem Amtsantritt Obamas in Europa stärker wahrgenommen und bietet Anknüpfungspunkte für diejenigen europäischen NATO-Mitglieder, die aus verschiedenen Gründen kein größeres militärisches Engagement in Afghanistan leisten können oder wollen.

Dennoch wird auf absehbare Zeit die militärische Durchsetzung und Gewährleistung von Sicherheit in Afghanistan im Mittelpunkt amerikanischer Politik stehen. Denn im Rahmen der strategischen Neuausrichtung zielen die ersten politischen Äußerungen von Vertretern der Regierung Obama vor allem darauf, das amerikanische militärische Engagement auszubauen, sowohl im Rahmen der von Washington geführten Operation Enduring Freedom als auch im Rahmen der von der NATO im Auftrag der Vereinten Nationen gestellten International Security Assistance Force (ISAF). Denn den Kampf gegen die Taliban sowie die Gewährleistung von Sicherheit für den Staatsaufbau betrachtet die Regierung Obama als wichtigste Herausforderung bei der Bekämpfung des transnationalen Terrorismus. So hat der Präsident im Februar angeordnet, dass von Mai 2009 an zusätzlich 17 000 Soldaten nach Afghanistan verlegt werden, um die sich verschlechternde Sicherheitslage zu stabilisieren. Die Gesamtzahl der amerikanischen Soldaten wird dann bei 55 000 Mann liegen. Korrespondierend dazu hat Verteidigungsminister Robert Gates auf dem informellen Treffen der NATO-Verteidigungsminister im Februar in Krakau zum wiederholten Male den amerikanischen Wunsch vorgetragen, dass die europäischen NATO-Partner ihr militärisches Engagement verstärken sollten - ein Anliegen, das nicht nur von beiden großen Parteien in den USA geteilt wird, sondern auch in weiten Teilen der öffentlichen Meinung und der Medien Widerhall findet.

Dabei ist der Regierung Obama durchaus klar, dass die öffentliche Meinung in den meisten europäischen Staaten, die an der ISAF-Mission beteiligt sind, der Operation ablehnend gegenübersteht und dadurch die Handlungsspielräume der Regierungen begrenzt sind. Politikberater in Washington verweisen daher immer wieder auf eine Art Arbeitsteilung innerhalb der Mission, derzufolge die USA die militärische Hauptlast tragen müssten, da die Europäer angesichts der existierenden Einsatzbeschränkungen der nationalen Kontingente nur einen begrenzten operativen Nutzen brächten. Stattdessen könnten die europäischen NATO-Mitglieder größere Leistungen beim Aufbau staatlicher Institutionen in Afghanistan und beim Wiederaufbau erbringen. Dies würde allerdings mittelfristig einer Ausdifferenzierung und Entsolidarisierung innerhalb der Allianz Vorschub leisten, in der die Mitglieder sich je nach Gusto an einzelnen Missionen beteiligten. Das Ende einer geteilten Risikoeinschätzung und Lastenteilung bedeutete nicht das Ende der NATO, aber ihre funktionale Aushöhlung.

Russland und die transatlantischen Sicherheitsbeziehungen

Auch in einem zweiten Feld der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen zeichnet sich seit der Amtseinführung der Regierung Obama ein Paradigmenwechsel ab, nämlich in den Beziehungen zu Russland. Das betrifft das Verhältnis der NATO zu Moskau, viel stärker aber die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Russland, deren Qualität letztlich das erstere determiniert. Zur Illustration des Neubeginns sei noch einmal aus der Münchener Rede von Vize-Präsident Biden zitiert: "The United States rejects the notion that NATO's gain is Russia's loss, or that Russia's strength is NATO's weakness. The last few years have seen a dangerous drift in relations between Russia and the members of our Alliance. It is time to press the reset button and to revisit the many areas where we can and should work together."

Dieser Paradigmenwechsel hat insofern unmittelbare Bedeutung für die NATO und damit für Europa, da das Verhältnis zwischen der nordatlantischen Allianz und Moskau letztlich eine Ableitung der amerikanisch-russischen Beziehungen ist: Sind die USA und Russland zur Kooperation bereit, so erleichtert dies auch die Zusammenarbeit der NATO mit Washington. Dafür ist vor allem die Führungsrolle Washingtons im Bündnis verantwortlich, die in Russland allerdings überzeichnet wahrgenommen wird.

Die vergangenen Jahre wurden von Spannungen zwischen den Regierungen Bush und Putin dominiert, die zum Teil direkt die NATO betrafen oder sie mittelbar berührten: der russisch-georgische Konflikt im Sommer 2008; die Frage der Erweiterung der NATO um Georgien und die Ukraine; die angekündigte Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Polen und der Tschechischen Republik; die Rivalität der beiden Akteure in Zentralasien; die Debatte um die Anerkennung des Kosovo; die Verhandlungen im Bereich der Abrüstung und Rüstungskontrolle und vieles mehr. Häufig waren die Konflikte mehr Symptom tiefer liegender Differenzen als Anlass für die bilaterale Auseinandersetzung: Auf Seiten der Regierung Bush war es vor allem die Einschätzung, dass es sich bei Putin und den ihn umgebenden Eliten um Repräsentanten eines Systems handele, deren autoritärer innenpolitischer Kurs sich auch in einer konfrontativen Außenpolitik, vor allem im postsowjetischen Raum, manifestieren werde. Für Russland bestätigte die Konfrontation mit der Regierung Bush nur, dass Washington kein Interesse an einem gleichberechtigten russischen Partner in den internationalen Beziehungen hatte, sondern an einem schwachen Russland, das von den USA dominiert werde.

Beide Wahrnehmungen gehen auf das bilaterale Verhältnis der 1990er Jahre zurück, das in beiden Hauptstädten fundamental unterschiedlich wahrgenommen wird: Für die heutigen russischen Politiker handelt es sich vor allem um ein Jahrzehnt des machtpolitischen Niedergangs, für die USA hingegen bedeutete der politische und wirtschaftliche Abstieg Russlands die Begünstigung einer unbegrenzten amerikanischen Führungsrolle im internationalen System. Am Ende der Ära Bush war von Elementen der Kooperation kaum noch etwas zu sehen.

Bereits nach wenigen Wochen ihrer Amtszeit ist erkennbar, dass sich die Regierung Obama um eine Neuorientierung der amerikanisch-russischen Beziehungen bemüht - Außenministerin Clinton sprach mit Blick auf Russland von einem "konstruktiven Verhältnis" der beiden Staaten: Zu den ersten Signalen gegenüber Moskau gehörte, dass Obama in einem Brief an Präsident Dmitri Medwedew seine prinzipielle Bereitschaft bekundet hat, auf die vertraglich vereinbarte Raketenabwehr in Osteuropa zu verzichten, sofern Russland seine Unterstützung für iranische Waffenprogramme einstelle. Bereits zuvor hatten der US-Präsident und seine für Sicherheitspolitik zuständigen Mitarbeiter das von der Regierung Bush initiierte Raketenabwehrsystem recht dilatorisch behandelt und darauf verwiesen, dass es nur dann stationiert werden solle, wenn sichergestellt sei, dass die notwendige Technologie tatsächlich funktioniere und kostengünstig sei.

Ein weiteres Zeichen des Entgegenkommens ist die zögerliche Behandlung einer NATO-Erweiterung um Georgien und die Ukraine, gegen die sich Russland immer ausgesprochen hat und die von der Regierung Bush in der NATO stark vorangetrieben wurde. Zwar haben Vertreter der Regierung Obama betont, dass man keine russischen Einflusssphären akzeptieren werde und stattdessen das Recht souveräner Staaten wiederholt, über ihre Bündniszugehörigkeit frei zu entscheiden. Gleichzeitig haben sie jedoch betont, dass diese erst dann erfolgen könne, wenn die beiden Staaten dazu politisch wie militärisch in der Lage seien. Zugleich hat Biden unterstrichen, dass dieser Streitpunkt der Zusammenarbeit zwischen Moskau und Washington nicht im Weg stehen solle. Der Beschluss der NATO-Außenminister zur Wiederaufnahme der Treffen des NATO-Russland-Rates am 5. März 2009 war daher vor allem durch den amerikanischen Positionswechsel möglich. Dass Clinton sich unmittelbar im Anschluss an ihren Brüssel-Besuch in Genf mit ihrem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow getroffen hat, unterstreicht die von der neuen Regierung angestrebte Aufwertung der bilateralen Beziehungen.

Schließlich bemüht sich die Regierung Obama um einen Neubeginn im Bereich der Abrüstung und Rüstungskontrolle: Bei der ersten Pressekonferenz seiner Amtszeit schlug Obama Russland vor, gemeinsam die Führungsrolle im Kampf gegen die Verbreitung von Atomwaffen zu übernehmen. Zudem kündigte er an, er wolle Bewegung in die festgefahrenen Bemühungen zur weltweiten nuklearen Abrüstung bringen. Die USA und Russland sollten mit gutem Beispiel vorangehen und Verhandlungen über einen weiteren Abbau ihres nuklearen Waffenarsenals aufnehmen. Erste Schritte betreffen ein Nachfolgeabkommen für das Ende 2009 auslaufende START-Abkommen zwischen den USA und Russland über die gemeinsame schrittweise Reduzierung atomarer Trägerwaffensysteme.

Fazit

Die "Rückkehr" der USA zum Multilateralismus ist für die europäischen NATO-Mitglieder ein zweischneidiges Schwert. Einerseits unterwerfen sich die USA wieder stärker den Mechanismen des Konsultations- und Entscheidungsprozesses innerhalb des atlantischen Bündnisses, andererseits hat auch die Regierung Obama nicht vom Ziel eines effektiven Multilateralismus Abstand genommen. Der Wert der NATO wird auch weiter daran gemessen werden, ob ihre Mitgliedstaaten den politischen Willen und die Fähigkeiten aufbringen, zügig und wirksam militärisch zu handeln. Angesichts der Tatsache, dass die amerikanischen Vorstellungen zur Zukunft der NATO noch vage erscheinen, fällt es aus europäischer Perspektive leicht, die sich daraus ergebenden Anforderungen zögerlich zur Kenntnis zu nehmen oder sogar vollständig auszublenden. Doch wenn die strategische Neuausrichtung der amerikanischen Sicherheitspolitik abgeschlossen, die letzte Personalentscheidung gefällt und die Bilder des NATO-Jubiläumsgipfels anlässlich ihres 60. Geburtstages verblasst sein werden, wird sich in aller Deutlichkeit die Frage für die europäischen NATO-Staaten stellen, welche Vorstellungen sie zur inneren Verfasstheit und zum zukünftigen Aufgabenspektrum des Bündnisses haben und welche Lasten sie zu tragen bereit sind.

Dies betrifft vor allem die laufenden Operationen der Allianz, angesichts ihrer Größe und ihres politischen Gewichtes vor allem die ISAF-Mission in Afghanistan. Zwar scheint die Regierung Obama noch die innenpolitischen Beschränkungen europäischer Regierungen zu akzeptieren, die sich aus einer die Mission ablehnenden öffentlichen Meinung und anstehender Wahltermine, etwa in Deutschland und Großbritannien, ableiten. Dieser Zustand der bündnispolitischen Unverbindlichkeit wird sich aber nicht mehr lange aufrechterhalten lassen: Für 2010 haben die Niederlande das Ende ihrer militärischen Mission in der afghanischen Provinz Urusgan angekündigt. Für den Sommer 2011 hat die kanadische Regierung den Abzug ihrer Kampftruppen aus Kandahar beschlossen. Daraus leitet sich nahezu zwingend ab, dass am Ende dieses Jahres Entscheidungen darüber gefällt werden müssen, welche (europäischen) NATO-Staaten diese Lasten übernehmen. Bleiben europäische Zusagen aus und die USA füllten die genannten militärischen Lücken, droht eine Fortdauer des Ungleichgewichts im Bereich der militärischen Lastenteilung, die mittelfristig die Solidarität im Bündnis unterminierte. Sollte sich auch Washington diesen zusätzlichen Lasten verweigern, würde die ISAF-Mission voraussichtlich 2011/2012 zu Ende gehen, nicht etwa, weil die NATO die angestrebten Ziele erreicht hätte, sondern schlicht deshalb, weil kein politischer Konsens zwischen den Mitgliedern mehr vorhanden wäre, die notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Auch das von den europäischen Staaten begrüßte Tauwetter zwischen Washington und Moskau könnte unerwartete Folgen zeitigen. Einerseits würde die NATO zwar nicht weiter von den internen Spannungen zwischen den Staaten belastet werden, die der russischen Sicherheitspolitik skeptisch gegenüberstehen und denjenigen, die in Russland einen strategischen Partner sehen. Auch die Einhegung oder Regelung von Regionalkonflikten könnte leichter werden. Zugleich wird aber die Stimme der Europäer in Fragen der internationalen Sicherheit an Gewicht verlieren: Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle werden vor allem in bilateralen Verhandlungen zwischen Moskau und Washington verhandelt werden, möglicherweise auch das Projekt einer gemeinsamen Raketenabwehr.

Umso wichtiger ist für die europäischen NATO-Staaten, in den kommenden Monaten nicht nur auf die Vorschläge der Regierung Obama zu warten. Im Gegensatz zu zahlreichen Vorgängern hat die neue Exekutive die europäischen Partner förmlich dazu eingeladen, Anregungen für eine gemeinsame transatlantische Sicherheitsagenda zu liefern und ihre Offenheit signalisiert, diese in die amerikanischen Überlegungen einzubeziehen. Das "Fenster der Gelegenheit" für die europäischen NATO-Mitglieder wird sich nach der Phase der Konstituierung der Regierung Obama, während der die Schlüsselposten besetzt werden und die strategische Neuausrichtung abgeschlossen wird, zwar nicht wieder vollständig schließen. Es wird aber für die Europäer dann deutlich schwieriger werden, auf die Außenpolitik der USA Einfluss zu nehmen, sobald diese sich einmal auf die einzuschlagenden Pfade festgelegt hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. ausführlich Markus Kaim, Pragmatismus und Grand Strategy. Die NATO-Debatte in den Vereinigten Staaten (SWP-Studie S 31/2006), Berlin 2006; www.swp-berlin.org/common/get_document.php?ass et_id=3448 (9.3. 2009).

  2. www.securityconference.de/konferenzen/
    rede.php?menu_2009=&menu_
    konferenzen=&sprache=de&id= 238& (9.3. 2009).

  3. Vgl. Peter Rudolf, Amerikas neuer globaler Führungsanspruch. Außenpolitik unter Barack Obama (SWP-Aktuell 77/ 2008), Berlin 2008, S. 4.

  4. Vgl. Peter Baker/Elisabeth Bumiller, Obama favoring mid-2010 pullout in Iraq, aides say, in: International Herald Tribune vom 25.2. 2009.

  5. Vgl. Eric Bonse/Markus Ziener, Bündnis formuliert neue Afghanistan-Strategie, Clinton und Biden stimmen sich mit den Alliierten ab, in: Handelsblatt vom 5.3. 2009.

  6. Vgl. Holbrookes Rede auf der 45. Münchener Sicherheitskonferenz am 8.2. 2009: www.securityconfe rence.de/konferenzen/rede.php?menu_2009=&menu_ konferenzen =&sprache =de&id =266& (9.3. 2009).

  7. Vgl. Helene Cooper/Sherryl Gay Stolberg, Obama Ponders Outreach to Elements of Taliban, in: New York Times vom 8.3. 2009.

  8. Vgl. beispielhaft: Salvaging Afghanistan, in: New York Times vom 20.2. 2009.

  9. Vgl. Henry Kissinger, A Strategy for Afghanistan, in: Washington Post vom 26.2. 2009; Stanley R. Sloan, Pondering NATO's Future, in: International Herald Tribune vom 6.3. 2009.

  10. Wie Anm. 2.

  11. Vgl. Peter Baker, Obama Offered Deal to Russia in Secret Letter, in: New York Times vom 3.3. 2009; Michael A. Fletcher, Obama Makes Overtures to Russia on Missile Defense, in: Washington Post vom 3.3. 2009.

  12. Vgl. die Pressekonferenz von Clinton im Anschluss an das Treffen: www.state.gov/secretary/rm/2009a/ 03/ 120068.htm (9.3. 2009).

  13. Vgl. Glen Kessler, Clinton "Resets" Russian Ties - and Language, in: Washington Post vom 7.3. 2009.

  14. Vgl. Gerald F. Seib, Multilateralism Cuts Both Ways, in: Wall Street Journal vom 3.3. 2009.

  15. Vgl. dazu Volker Perthes, Bei der Neuordnung dabei sein, in: Süddeutsche Zeitung vom 2.3. 2009.

PD Dr. habil., geb. 1968; Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik, Stiftung Wissenschaft und Politik, Ludwigkirchplatz 3 - 4, 10719 Berlin
E-Mail: E-Mail Link: markus.kaim@swp-berlin.org