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Familienarmut: Ursachen und Gegenstrategien

Jutta Träger

/ 14 Minuten zu lesen

In Deutschland steigt der Anteil der Familien, die armutsgefährdet sind. Auf Basis aktuellen Datenmaterials wird gezeigt, dass qualifizierte Erwerbsarbeit – insbesondere der Mütter – zentrale Bedingung familialer Armutsbekämpfung ist.

Einleitung

Aktuelle Analysen zur Entwicklung der personellen Einkommensverteilung in Deutschland zeigen, dass sich die Einkommenssituation für Familien mit Kindern erheblich verschlechtert hat. Seit Beginn der 1970er Jahre ist die relative Einkommensarmut bei diesen von einem zunächst durchschnittlichen Niveau von sieben Prozent auf ein bis dato vergleichsweise überdurchschnittlich hohes Niveau von 12 Prozent im Jahr 1998 und 13,3 Prozent im Jahr 2006 gestiegen. Dabei sind prekäre Einkommensverhältnisse und Einkommensarmut von Familien in der Bundesrepublik weniger ein allgemeines als ein spezifisches Problem von Teilgruppen, insbesondere von Familien mit einer geringfügig beschäftigten Person wie auch von Alleinerziehenden und Mehrkinderfamilien. Bei den Alleinerziehenden stieg das Armutsrisiko beispielsweise von 17 Prozent im Jahr 1969 auf 35 Prozent im Jahr 2006 an und liegt damit beim Dreifachen des Durchschnitts der Bevölkerung. In den ostdeutschen Bundesländern ist die Situation deutlich brisanter als in den westdeutschen. Aber auch das traditionelle Familienmodell mit einem (in der Regel männlichen) Alleinverdiener ist für die finanziell prekäre Lage verantwortlich. Fehlt das zweite Einkommen, ist das Armutsrisiko bei den Geringverdienern hoch.


Familiale Einkommensarmut ist weder ein neues Phänomen noch ist es begrenzt auf die Bundesrepublik Deutschland. Ganz im Gegenteil: Der diagnostizierte Trend der zunehmenden Ungleichheit zwischen Familien spiegelt sich in den Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) wider: "Increasing disparities are found in the standards of living of families within and between countries. Within societies, lone-parent and large families (...). The gap between work-rich and work-poor families has widened. While the social benefits received by families and children by head of population rose during the 1990s across the Union, regional variations increased. The highest level of spending on families was recorded in Ireland and Germany (...). Trotz der im EU-Vergleich mittleren beziehungsweise hohen öffentlichen Ausgaben für familienpolitische Leistungen hat sich das Armutsrisiko von Familien in Deutschland verschärft.

Im vorliegenden Beitrag wird gezeigt, dass der Zugang zu Erwerbsarbeit eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung von Familienarmut einnimmt. Dies setzt voraus, dass einer Erwerbstätigkeit weder kulturelle noch institutionelle Barrieren entgegenstehen. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, ob Mütter mit kleinen Kindern auf eine gut ausgebaute Kinderbetreuungsinfrastruktur zurückgreifen können, die es ihnen ermöglicht, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Internationale Vergleiche zeigen, dass mehr Betreuung mit weniger Armut verbunden ist.

(Einkommens-)Armut in Familien - zur Datenlage

Auf die Frage, bei welcher Einkommenshöhe familiale Armut beginnt, gibt es keine eindeutige Antwort: Armut ist in erster Linie ein normativer Begriff. Zudem existiert ein enger Zusammenhang zwischen Einkommensarmut und prekären Lebenslagen von Familien. Der dritte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verdeutlicht, dass Einkommensarmut häufig mit einem Mangel an Bildung, Gesundheit, Sozialem, Kultur und Wohnen einhergeht. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen, dessen Konzept der Teilhabe- und Verwirklichungschancen dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zu Grunde liegt, hat zu Recht die Bemessung von Wohlstand und Armut über traditionelle Einkommensanalysen hinaus um diese Lebenslagendimensionen erweitert. Danach gelten jene Familien als arm, die von einer Unterversorgung in diesen Bereichen betroffen sind. Insofern bedeutet Armut mehr als einen Mangel an finanziellen Ressourcen. Im vorliegenden Beitrag wird der Armutsbegriff jedoch auf die Dimension des Einkommens begrenzt, da Familien vor allem dann armutsgefährdet sind, wenn Eltern nur über geringe materielle Ressourcen verfügen.

Nach der Definition des Statistischen Bundesamtes gelten diejenigen Personen als einkommensarm, deren bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen 60 Prozent des Mittelwertes (Median) der Einkommen in der Bevölkerung unterschreitet. Um die Armutsrisikoquote unabhängig von der Größe und Zusammensetzung des Haushalts zu bestimmen, wird das Haushaltsnettoeinkommen durch Bedarfsgewichte geteilt. Die Gewichtung der Haushaltsmitglieder basiert auf der neuen Äquivalenzskala der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Der Haushaltsvorstand wird mit dem Faktor 1 bewertet, eine zweite erwachsene Person sowie weitere Personen ab 14 Jahren jeweils mit Faktor 0,5 und allen unter 14-jährigen Haushaltsmitglieder wird der Faktor 0,3 zugewiesen. Danach gilt ein Ehepaar mit zwei Kindern unter 14 Jahren als arm, wenn ihnen monatlich weniger als 1848 Euro Nettoeinkommen verbleiben.

In der Tabelle (vgl. PDF-Version) sind die aus dem Ansatz resultierenden konkreten Armutsquoten nach Haushaltsform und Familientyp dargestellt. Obwohl Familienarmut keineswegs ein neues Phänomen ist, hat sich die Situation für einzelne familiale Teilgruppen verschärft. Die höchsten Armutsquoten finden sich bei Eineltern- und Singlehaushalten. Dagegen weisen Paarhaushalte ohne Kinder die niedrigste Armutsgefährdung auf.

Betrachtet man die Familientypen, so sind Alleinerziehende am stärksten von Armut betroffen. In Deutschland lebt jede dritte Einelternfamilien in Armut, in Ostdeutschland sogar jede zweite. Aber auch die Armutsquote von Paarhaushalten mit minderjährigen Kindern ist seit 2001 um knapp 3 auf 13,3 Prozent im Jahr 2006 gestiegen.

Zudem hat sich die Armutsquote der Familien mit einem Kind zwischen 2001 und 2006 in den west- und ostdeutschen Bundesländern fast verdoppelt. Waren 2001 in Deutschland noch 7,3 Prozent dieser Familien betroffen, stieg dieser Anteil bis 2006 auf 13,9 Prozent; in Ostdeutschland von 13,4 auf 26,1 Prozent. Aber auch Familien mit zwei Kindern sind verstärkt armutsgefährdet. Die Armutsquote für diese familiale Teilgruppe stieg im untersuchten Zeitraum von 8,7auf 12,4 Prozent im Westen und im Osten von 8,4 auf 19,6 Prozent. Interessanterweise ist das Armutsrisiko der Mehrkinderfamilien zumindest in Westdeutschland gesunken, ganz im Gegensatz zu Ostdeutschland: 38,1 Prozent der Mehrkinderfamilien sind dort von Armut betroffen.

Es kann festgehalten werden, dass Familien mit zu unterhaltenden Kindern nicht per se in der Einkommens- bzw. Wohlstandsverteilung gegenüber Singlehaushalten oder Paarhaushalten benachteiligt sind. Familien, in denen Kinder leben, sind offenkundig heterogen und unterscheiden sich deutlich hinsichtlich ihrer Armutsgefährdung.

Dramatisch ist die Lage vor allem für Einelternfamilien wie auch für Familien mit mehreren Kindern in Ostdeutschland, aber auch Elternfamilien mit einem oder zwei Kindern sind je nach Erwerbskonstellation der Erwachsenen von Armut bedroht.

Ursachen familienbedingter Einkommensarmut

Zu den zentralen Ursachen von Armut zählen a) (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, b) Erwerbseinkommen im Niedriglohnbereich wie auch c) eine Erwerbstätigkeit auf Teilzeitniveau. Der Zugang zu qualifizierter Erwerbsarbeit stellt damit eine zentrale Ressource dar, um der Armutsfalle zu entkommen. Dies gilt insbesondere für Mütter in Paarbeziehungen und für Alleinerziehende, denen aufgrund der Erziehungs-, Haus- und Pflegearbeit die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit häufig verwehrt bleibt. Die Brisanz des beschränkten Zugangs zum Arbeitsmarkt von Müttern verdeutlicht eine Studie über Familieneinkommen auf der Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP): Danach sinkt der Anteil männlicher Hauptverdiener in Deutschland gegenüber einem steigenden Anteil erwerbstätiger alleinerziehender Mütter und Familienernährerinnen. Frauen werden vor allem dann Ernährerinnen, wenn der Partner prekär beschäftigt oder arbeitslos ist.

Die zunehmende sozioökonomische Existenzsicherung einer Familie durch eine stärkere Erwerbsbeteiligung von Müttern wird in der Bundesrepublik Deutschland vor allem durch zwei Faktoren erschwert: Zum einen klafft nach wie vor eine große Lücke bei der Bezahlung von Frauen im Vergleich zu den Männern. Innerhalb der EU betrug die geschlechterspezifische Einkommensdifferenz im Jahr 2006 22 Prozent, und wurde nur noch von Estland und Zypern übertroffen. Zum anderen behindert die schwierige Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben die Erwerbsintegration von Frauen. Internationale Vergleiche zeigen, dass die Armut in den Ländern niedriger ist, in denen ausreichend Kinderbetreuungseinrichtigunen vorhanden sind: Empirische Daten der OECD aus dem Jahr 2005 belegen, dass die Länder mit den höchsten Kinderbetreuungsquoten der unter Dreijährigen nicht nur die höchsten Müttererwerbsquoten aufweisen, sondern auch die geringste Kinderarmut zu verzeichnen haben. Im Vergleich zu den skandinavischen Staaten, aber auch im Vergleich zu Belgien, den Niederlanden und Frankreich, die im Durchschnitt eine Betreuungsquote der unter Dreijährigen von 34,2 Prozent erzielen, lag diese Quote in Deutschland bei nur 9 Prozent. Die unzureichende Betreuungsinfrastruktur schlägt sich in Deutschland in einer niedrigen Erwerbsquote von Müttern mit kleinen Kindern von nur 36,1 Prozent - im Vergleich zu diesen Ländern mit einer hohen Betreuungsquote und einer Erwerbsquote dieser Mütter von 63 Prozent - und in Kinderarmut nieder. Während in den skandinavischen Staaten die Kinderarmut bei 7,2 Prozent liegt, betrug sie in Deutschland im Jahr 2005 12,8 Prozent. Auch weist die Studie der OECD aus, dass erwerbstätige Alleinerziehende ein deutlich geringeres Armutsrisiko (26,6 Prozent) als erwerbslose Alleinerziehende (56 Prozent) haben.

Trotz der positiven Entwicklung in den europäischen Nachbarstaaten fördert der konservative deutsche Wohlfahrtsstaat nach wie vor Ehen und Familien mit einer klassischen Aufgabenteilung. Dabei wollen nur noch 5,7 Prozent der Paare mit Kindern nach diesem Modell leben. Das nach wie vor dominante Lebensmodell von Familien zumindest in Westdeutschland ist dadurch gekennzeichnet, dass Frauen in der Regel nach dem Mutterschutz ihre Erwerbsarbeit entweder ganz aufgeben oder deutlich reduzieren, um die Erziehungs- und Hausarbeit zu übernehmen.

Die sozial- und familienpolitischen Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II, Sozial- und Wohngeld, aber auch Kindergeld, Kinderzuschlag und Kinderfreibeträge sowie Elterngeld reduzieren zwar die relative Einkommensarmut, können aber die Auswirkungen anderer sozioökonomischer Entwicklungen, wie beispielsweise Arbeitslosigkeit und niedrige Lohnabschlüsse, nicht ausgleichen. Aber auch die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit von Müttern reduziert das Familieneinkommen bei gleichzeitig erhöhtem finanziellem Bedarf. Das Armutsrisiko von Familien mit Kindern hängt davon ab, wie viele Bezieher von Erwerbseinkommen in einem Haushalt leben und welche Einkommenshöhe erzielt wird. Ein Blick in die europäischen Nachbarstaaten verdeutlicht, wie durch eine Familienpolitik, die auf eine gute Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsleben setzt, Familien- und Kinderarmut verhindert werden kann.

Familienpolitische Strategien zur Bekämpfung von Familienarmut

Mehr Kinderbetreuungseinrichtungen und die Sicherung eines ausreichenden Familieneinkommens durch umfassende Erwerbsarbeit sind daher wesentliche Strategien zur Bekämpfung der Familienarmut. Es kommt also nicht allein auf das Niveau der finanziellen Unterstützung von Eltern mit Kindern an; die beste Option zur Armutsprävention besteht darin, den Müttern eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Zu diesem Ergebnis kommt ebenfalls eine Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung über Familienpolitik im europäischen Vergleich: Öffentlich angebotene bezahlbare Kinderbetreuung führt zu einer substanziell höheren Erwerbsbeteiligung von Müttern und zu deutlich weniger Kinderarmut. Das Beispiel Schweden belegt dies: Kennzeichnend für die schwedische Vereinbarkeitspolitik ist ein breites Angebot an Betreuungsplätzen für Kinder aller Altersstufen mit flexiblen Öffnungszeiten und sozial gestaffelten Elternbeiträgen. Insgesamt profitieren 41 Prozent der unter Dreijährigen von der öffentlich geförderter Betreuung.

In der Bundesrepublik Deutschland ist seit Beginn der rot-grünen Legislaturperiode 1998 ein (zögerlicher) Paradigmenwechsel in der Familienpolitik zu verzeichnen, der von der derzeit regierenden großen Koalition aus CDU/CSU und SPD fortgeführt wird. So steht die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf mittlerweile im Zentrum der aktuellen familiepolitischen Maßnahmen. Konkrete vereinbarkeitsorientierte Maßnahmen bilden bisher dass Elternzeitgesetz, das Tagebestreuungsausbaugesetz (TAG) und das Betreuungsausbaugesetz für unter Dreijährige, die in diesem Kontext hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bei der Bekämpfung von Familienarmut unter Einbezug des Ehegattensplittings im Folgenden betrachtet werden:

Erstens: Einen Schwerpunkt der Reformen zur besseren Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsleben bildet die Neuregelung des Bundeserziehungsgeldgesetzes. Seit 2001 können beide Elternteile, verheiratete wie auch nicht verheiratete Paare, gleichzeitig Elternzeit nehmen und jeweils bis zu 30 Wochenstunden arbeiten. Flankiert wurde die Neuregelung durch die Einführung des Teilzeitgesetzes, dass einen Anspruch auf Teilzeit einräumt, allerdings die einvernehmliche Regelung mit dem Arbeitgeber voraussetzt. Im Hinblick auf die Bekämpfung der Familienarmut ist die zumindest im Ansatz erkennbare Aufbrechung der strikten geschlechterspezifischen Zuordnung von Erwerbs- und Familienarbeit positiv zu bewerten, da die Erwerbsintegration von Müttern gefördert wird. Auch die Option der gleichzeitigen Inanspruchnahme der Elternzeit durch beide Elternteile zielt darauf, Mütter und Väter stärker durch flexibilisierende Möglichkeiten an den Arbeitsmarkt zu binden. Kritisch zu bemerken ist jedoch, dass bei unterschiedlich hohen Einkommen der (Ehe-)Paare ein Anreiz besteht, dass der- oder diejenige mit dem höheren Einkommen weiterhin erwerbstätig bleibt, während in der Regel die Frau die Erwerbstätigkeit nach wie vor ganz unterbricht.

Zweitens: Die Umsetzung des TAG, welches zum 1. Januar 2005 in Kraft trat und die verbindliche Schaffung von deutlich mehr Betreuungsplätzen für unter dreijährige Kinder bis zum Jahr 2010 regelt, stellt eine Ergänzung zur Elternzeitreform dar. Die Möglichkeit der außerhäuslichen Kinderbetreuung ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, vor allem von Müttern. Allerdings konnten Kinderbetreuungskosten bisher lediglich steuerlich geltend gemacht werden, wenn sie den veranlagten Betreuungsfreibetrag von 1548 Euro überstiegen. Die teilweise Abzugsfähigkeit der Betreuungskosten begünstigt - wie auch schon die Kinderfreibeträge - Familien mit höheren Einkommen, während Bezieher unterer und mittlerer Einkommen von der Regelung kaum Vorteile haben. Allerdings gilt rückwirkend zum 1. Januar 2006, dass Familien ein Drittel der Kinderbetreuungskosten selbst bezahlen und dann weitere Kosten bis zu 4000 Euro von der Steuer absetzen können. Bei der neuen gesetzlichen Regelung gewinnen kleine und mittlere Einkommensbezieher, da der Eigenanteil niedriger sein kann und sich nun eine Erwerbstätigkeit (der Frau) dann eher lohnt. Allerdings kann weder von einer deutlichen Entlastung dieser Einkommen noch von einer tatsächlichen Begünstigung des zweiten Einkommens ausgegangen werden.

Drittens: Im September 2007 einigten sich Bund und Länder über die Finanzierung des Ausbaus der Betreuungsangebote für unter Dreijährige. Länder und Kommunen können seit dem 1. Januar 2008 mit dem Aufbau einer bedarfsgerechten Betreuungsinfrastruktur beginnen. Bis 2013 sollen dann bundesweit für 35 Prozent der Kinder dieser Altersgruppe Betreuungsplätze (das sind ca. 750 000) geschaffen werden. Dabei beteiligt sich der Bund an dem geplanten Ausbau bis 2013 mit vier Milliarden Euro. Eine anschließende Beteiligung an den Betreuungskosten ist ebenfalls vorgesehen. Mit dem Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetz wird Eltern zudem ab 2013 ein Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für alle Kinder vom vollendeten ersten bis zum dritten Lebensjahr (Beginn des Kindergartenjahres 2013/2014) zugesprochen. Eltern, die ihre Kinder nicht in Einrichtungen betreuen lassen, soll stattdessen eine monatliche Zahlung in Form eines Betreuungsgeldes zugestanden werden. Das geplante Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetz ist damit eine Erweiterung des bestehenden Tagesbetreuungsausbaugesetzes (TAG) und stellt durch den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige eine größere Verbindlichkeit her. Insofern ist eine weitere Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienleben zu erwarten.

Viertens: Das Ehegattensplitting, welches die Ehe und nicht Familien mit Kindern steuerlich fördert, steht trotz vielfacher Kritik bisher nicht zur Disposition. Am stärksten profitiert vom Ehegattensplitting ein Ehepaar, bei dem ein Partner viel und der andere über gar kein eigenes Einkommen verfügt. Während viele Länder der EU Eheleute individuell besteuern und sich damit an der Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern orientieren, begünstigt das deutsche Steuersystem die traditionelle Familienform des Alleinverdieners. Die Steuermindereinnahmen aus dieser Förderung der Ehe betragen über 20 Milliarden Euro, nur 57 Prozent dieser Summe entfiel auf Ehen mit Kindern. Die Entlastungen für Alleinverdiener in Europa fallen in Deutschland, neben Dänemark und Belgien, am höchsten aus, da zusätzlich zum Splittingsystem eine hohe Steuerlast schon bei mittleren Einkommen anfällt. Das Ehegattensplitting stellt zwar keine grundsätzliche Barriere für die Erwerbsbeteiligung von Frauen dar, aber es fördert die Erwerbsbeteiligung von Müttern auch nicht. Ein deutliche Verbesserung würde durch die in den meisten europäischen Staaten praktizierte Individualbesteuerung oder durch die Familienbesteuerung (Familiensplitting), bei dem die Zahl der Kinder in der Familie berücksichtigt wird, erzielt werden.

Resümierend kann festgehalten werden, dass das infrastrukturelle Angebot an Kinderbetreuung, vor allem für Kleinkinder, als wichtigster Erklärungsfaktor für die Erwerbsbeteiligung von Müttern identifiziert werden kann. Die Bekämpfung der Familienarmut ist damit eng an das Niveau der Müttererwerbstätigkeit gekoppelt. Das zentrale Hindernis hinsichtlich des Ausbaus einer guten Betreuungsinfrastruktur insbesondere in Westdeutschland bestand bisher darin, dass Kindererziehung als genuine Aufgabe von Müttern verstanden wurde. Die damit einhergehenden kulturellen Leitbilder, die auch der institutionellen Ausrichtung des konservativen deutschen Wohlfahrtsstaats zugrunde liegen, verändern sich nur langsam. Besonders problematisch ist der Mangel an öffentlichen Betreuungsplätze für unter dreijährige Kinder sowie an Ganztagsplätzen in Westdeutschland. Im Vergleich dazu ist die Betreuungsinfrastruktur in Ostdeutschland weitaus besser ausgebaut, existierte doch in der DDR eine umfassende Ganztagsbetreuung für Kinder aller Altersstufen.

Die aktuellen familienpolitischen Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familien- und Beruflebens - Elternzeitgesetz, das Tagebestreuungsausbaugesetz (TAG) und das Betreuungsausbaugesetz für unter Dreijährige - setzen ein positives Signal in Richtung Ausbau der Betreuungsplätze. Auch hat sich das Betreuungsangebot für kleine Kinder seit 2002 in den westdeutschen Bundesländern verbessert, wenn auch auf niedrigem Niveau. Standen im Jahr 2002 lediglich für 3,9 Prozent dieser Gruppe Betreuungsplätze zur Verfügung, stieg dieser Anteil bis 2005 auf 7,7 Prozent. Demgegenüber steht in den ostdeutschen Ländern für 37 Prozent der Kinder ein Angebot bereit. Angesichts der tatsächlichen Betreuungsquoten wird deutlich, dass das Ziel von 750 000 Betreuungsplätzen bis 2013 viel zu ambitioniert ist.

Trotz der Verbesserungen der bisherigen vereinbarkeitsorientierten Maßnahmen kann die Bekämpfung von Familienarmut zukünftig nur dann erfolgreich sein, wenn ein Ausbau erfolgt, der die Verfügbarkeit von Kinderbetreuungsplätzen garantiert, die Betreuungsplätze bezahlbar sind bzw. eine finanzielle Bezuschussung erfolgt und wenn die Kompatibilität mit den Arbeitszeiten berücksichtigt sowie die Qualität der Kinderbetreuung gesichert werden. Dabei bleibt die Abschaffung des Ehegattensplittings zugunsten einer Individualbesteuerung oder eines Familiensplittings eine weitere Forderung, welche die vereinbarkeitsorientierten Maßnahmen flankieren sollte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Irene Becker/Richard Hauser, Anatomie der Einkommensverteilung. Ergebnisse der Einkommens und Verbraucherstichproben 1969 - 1998, Forschung Hans-Böckler-Stiftung, Berlin 2003, S. 151. Markus M. Grabka/Peter Krause, Einkommen und Armut von Familien und älteren Menschen, in: Wochenbericht des DIW, 72 (2005) 9, S. 151 - 162.

  2. Vgl. Statistisches Bundesamt, Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2008, S. 169.

  3. Vgl. European Commission, Final Report. Improving policy responses and outcomes to socio-economic challenges: changing family structures, policy and practice (Iprosec), EU Research on social sciences and humanities, Brussels 2004, S. 8.

  4. Vgl. Siebter Familienbericht, Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, Bericht der Sachverständigenkommission der Bundesregierung, BT-Drucksache 16/1360, Berlin 26.4. 2006, S. 38.

  5. Vgl. Richard Hauser, Das Maß der Armut: Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext. Der sozistaatliche Diskurs, in: Ernst-Ulrich, Huster/Jürgen Boeck/Hildegard Mogge-Grotjahn (Hrsg.), Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung, Wiesbaden 2008, S. 94 - 117.

  6. Vgl. Bundesregierung, Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2008.

  7. Das Nettoäquivalenzeinkommen ergibt sich aus dem Haushaltsnettoeinkommen dividiert durch die Summe der Äquivalenzgewichte der einzelnen Haushaltsmitglieder. Das Haushaltseinkommen umfasst die Summe aller Einkünfte aus Erwerbstätigkeit und Vermögen, privater Unterhaltsleistungen sowie staatliche Transferleistungen unter Abzug von Steuern und Sozialbeiträgen. Vgl. 3. Armuts- und Reichtumsbericht (Anm.6), Bonn 2008, S. 17 - 18.

  8. Bei der alten OECD-Skala erhält der Haupteinkommensbezieher den Gewichtungsfaktor 1,0, die übrigen Haushaltsmitglieder von 14 Jahren und älter erhalten den Gewichtungsfaktor 0,7 und die unter 14-Jährigen den Faktor 0,5. Die Analyse der Armutsquoten nach Verwendung der beiden Skalenvarianten ergibt für die Gesamtbevölkerung zunächst keine wesentlichen Unterschiede. Dagegen weichen die Werte für Familien mit Kindern deutlich voneinander ab. Nach der alten OECD-Skala ergeben sich weitaus höhere Werte familialer Armutsbetroffenheit als nach der neuen Skala. Vgl. Benjamin Benz, Armut im Familienkontext, in: Ernst-Ulrich Huster/Jürgen Boeck/Hildegard Mogge-Grotjahn (Hrsg.), Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung, Wiesbaden 2008, S. 381 - 399.

  9. Vgl. Statistisches Bundesamt, Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2008, S. 163f.; Zentrum Familie, Integration, Bildung, Armut im Diakonischen Werk der EKD, Aktuelle Armutsgrenzen und Armutsquoten (Einkommensarmut) 2008, in: www.nationale-armutskonfe renz.de/publications/080606_Armutsgrenzen_
    Armuts quoten.pdf (12.02. 2009).

  10. Vgl. Christiane Klenner/Ute Klammer, Erosion des Ernährermodells, in: Böckler Impuls, (2009) 3, S. 3.

  11. Vgl. Eurostat Pocketbooks, Key Figures on Europe, Luxembourg 2009, S. 84.

  12. Vgl. OECD, Babies and Bosses - Reconciling Work and Family Life 2007, in: www.oecd.org/document/60/0,3343,de _34968570_34968855_ 39682492_ 1_1_1_ 1,00.html (10.2. 2009).

  13. Vgl. OECD, Growing Unequal? Income Distribution and Poverty in OECD Countries, in: www.oecd.org/els/social/inequality (10.2. 2009).

  14. Vgl. Anneli Rüling/Karsten Kassner, Das beste Mittel gegen Kinderarmut, in: Böckler Impuls, (2007) 8, S. 4 - 5.

  15. Vgl. Ute Klammer, Editorial. Konturen einer modernen Familienpolitik, in: WSI Mitteilungen, 55 (2002) 3, S. 126.

  16. Vgl. 3. Armuts- und Reichtumsbericht (Anm.6), S. 92 - 96.

  17. Vgl. Anneli Rüling/Karsten Kassner, Familienpolitik aus der Geschlechterperspektive. Ein europäischer Vergleich, Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Politik und Gesellschaft, Berlin 2007.

  18. Vgl. Siegrid Leitner, Kind und Karriere für alle? Geschlechts- und schichtspezifische Effekte rot-grüner Familienpolitik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (2005) 8, S. 958 - 964.

  19. Vgl. Jutta Träger, Familie im Umbruch. Quantiative und qualitative Befunde zur Familienmodellwahl, Wiesbaden 2009, S. 55 - 56.

  20. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Einigung zum Thema Betreuungsgeld erzielt, Pressemitteilung Nr. 266/2008 vom 27.2. 2008, Berlin.

  21. Vgl. BMFSFJ (Hrsg.), Das Ehegattensplitting, Expertise für das Kompetenzzentrum für familienbezogene Leistungen, Berlin 2006; Margit Schratzenstaller, Familienpolitik - wozu und für wen? Die aktuelle familienpolitische Reformdebatte, in: WSI-Mitteilungen, 55 (2002) 3, S. 130.

  22. Vgl. Anneli Rüling/Karsten Kassner, Familienpolitik aus der Geschlechterperspektive. Ein europäischer Vergleich, Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Politik und Gesellschaft, Berlin 2007.

  23. Vgl. BMFSFJ, Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren. Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren, Berlin 2006.

Dr. rer. soc., geb. 1968; Sozialwissenschaftlerin; zur Zeit Studienrätin im Hochschuldienst im Bereich Sozial- und Bildungspolitik am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, Karl-Glöckner-Str. 21E, 35394 Gießen.
E-Mail: E-Mail Link: Jutta.M.Traeger@sowi.uni-giessen.de