Einleitung
Milieus bezeichnen Gruppierungen von Personen, die sich durch ihre Wahrnehmungs- und Denkmuster sowie ihre Einstellungen, Haltungen und Handlungen unterscheiden. Damit interpretieren und gestalten Personen, die dem gleichen Milieu angehören, ihr Leben auf eine ähnliche Art und Weise.
Milieuanalysen als Variante der Analyse sozialer Ungleichheit weisen mittlerweile eine mehrjährige Forschungstradition auf und dokumentieren Facetten des gesellschaftlichen Wandels innerhalb sozialer Räume. Sie bilden damit eine Grundlage für gesellschaftspolitische Zeitdiagnosen. Neben diesen liegen auch international vergleichende Milieuanalysen vor.
Trotz unterschiedlicher Nuancen in den theoretischen Grundlagen und in der jeweiligen empirischen Herangehensweise der hier skizzierten strukturierten Milieuansätze, haben alle eines gemeinsam: Sie sind durch eine erwachsenenzentrierte Perspektive gekennzeichnet. Ohne dies genauer auszuweisen, wird der Fokus im Ansatz und in der Analyse ganz selbstverständlich auf die Gruppe der Erwachsenen gerichtet. Das Interesse gilt den sozialen Asymmetrien innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe. Kinder werden als Anhängsel von Familie betrachtet oder als "Noch-nicht-Erwachsene" ausgeschlossen; allenfalls Jugendliche ab 14 Jahren werden einbezogen.
Verglichen mit weiteren Formen der sozialen Ungleichheitsforschung und der Sozialstrukturanalyse spielt die Bevölkerungsgruppe der Kinder in Milieuansätzen keine nennenswerte Rolle. Kinder sind weder eine sozial- und politikwissenschaftlich relevante und eigenständige Gruppe, noch ist die Kindheit ein Element gesellschaftspolitischer (Zeit-)Diagnosen.
Diese Lücke gilt es zu schließen: Überlegungen zur neuen Perspektive einer ungleichheits- bzw. milieutheoretisch fundierten Kindheitsforschung bilden daher die Grundlage des vorliegenden Beitrags. Zunächst wird im Folgenden das dafür wesentliche Verständnis von Kindern und Kindheit erläutert. Davon ausgehend soll die Frage beantwortet werden, welche Kindheitsmuster in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus existieren und inwiefern hierbei von "ungleichen Kindheiten" die Rede sein kann. Abschließend werden die Herausforderungen skizziert, denen sich die neue Forschungsperspektive zu stellen hat.
Kinder als Bevölkerungsgruppe - Kindheit als Strukturmerkmal
Dass Kinder in gesellschaftstheoretischen Ansätzen und Analysen sowie in gesellschaftspolitischen Diagnosen ausgeblendet werden, ist begründungspflichtig, stellen Kinder doch in gleichem Maße wie Erwachsene ein Element der Sozialstruktur einer Gesellschaft dar. Kinder sind eine altersdifferenzierte Bevölkerungsgruppe, innerhalb der Phänomene sozialer Ungleichheit zu untersuchen sind. Zugleich ist Kindheit ein Strukturmerkmal von Gesellschaft und damit eine gesellschaftlich geformte und sozial konstruierte Tatsache. Kindheit selbst ist ein Element gesellschaftlicher Veränderungsprozesse; sie wird von gesellschaftlichen Parametern beeinflusst, unter anderem durch das Verhältnis von Familie, Markt, Staat und intermediärem Sektor, und wirkt auf diese zurück. Das zeigt sich unter anderem im (Ausbau des) öffentlichen Betreuungs- und Bildungssystem(s), in den sentimentalen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern oder in der institutionalisierten Altershierarchie zwischen Erwachsenen und Kindern, die unter anderem im Bereich des Kinderschutzes gesetzlich verankert ist.
Wenn die gesellschaftliche Ausgestaltung des Alltags von Kindern
Ungleichheitstheoretische Kindheitsforschung
Auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen kann man zwei miteinander verflochtene forschungsbezogene Ziele verfolgen: Zum einen lassen sich Ungleichheitsverhältnisse innerhalb der Kindergruppe beleuchten. Kinder unterscheiden sich nach dem Alter; zugleich belegen empirische Studien, dass für bildungsbezogene Fragestellungen die sozialen Aspekte in der Kindergruppe, unter anderem ihre Milieuzugehörigkeit, ein weiteres entscheidenderes Differenzierungskriterium sind.
Unter der Annahme, dass Kinder kollektive Erfahrungen machen, die nicht ausschließlich durch ihre Positionierung im Generationenverhältnis vermittelt sind, sondern auch durch ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus hervorgebracht werden, geht es innerhalb der ersten Zielsetzung im Folgenden um die Darstellung verschiedener Kindheitsmuster. Kindheitsmuster, also die konkreten Formen der sozialen Ausgestaltung von Kindheit, welche die Orientierungspunkte des Kindseins markieren, unterscheiden sich innerhalb sozialer Räume, die sich - wie in vielen Milieuanalysen üblich - an Nationalstaaten festmachen lassen. Relevant ist, inwiefern die milieuspezifischen Kindheitsmuster Anhaltspunkte dafür liefern, von "ungleichen Kindheiten" zu sprechen.
Gefragt wird, ob und wie Kinder, die dem gleichen Milieu angehören, ihr Leben auf ähnliche Art und Weise interpretieren und gestalten. Damit wird beleuchtet, wie sich soziale Strukturen und damit auch Ungleichheitsverhältnisse in den Habitus, also den vorreflexiven Wahrnehmungsmustern, den Haltungen und Interessen der Kinder niederschlagen und mit welchen (milieu-)spezifischen Handlungen diese einhergehen. Zugleich wird thematisiert, wie sich die Kinder den jeweiligen Handlungsanforderungen stellen, diese mitunter hinterfragen und dadurch Strukturmomente und (Kindheits-)Muster hervorbringen. Um den Blick einzugrenzen, wird hierbei auf Aspekte der bildungsbezogenen Lebensbedingungen der Kinder und auf Aspekte ihrer familialen, freizeitbezogenen und schulischen Habitus und Einstellungen eingegangen.
Auf der Basis eigener Forschungsarbeiten, denen eine Sekundäranalyse des DJI-Kinderpanels - einer deutschlandweit repräsentativen Kinderbefragung
Die vertikale Logik der Milieus geht von der Anhäufung objektivierbarer Ressourcen aus, die von Pierre Bourdieu als Kapitalien beschrieben werden.
Indessen verweist die horizontale Logik der Milieus auf die Präferenzen, Einstellungen, Haltungen sowie die in den Milieus herrschende Alltagspraxis. Empirisch abgebildet wird dies über die kulturellen Praxen und die Habitus der Kinder in Familie, Freizeit und Schule. Diese werden über Indikatorenbündel zu organisierten und unorganisierten Formen der Freizeitgestaltung, zum Umgang mit Medien und Geld oder auch im Hinblick auf die Einstellung zu Schule und Lernen erfasst.
Milieuspezifische Kindheitsmuster: Empirische Befunde
Anhand der Daten, die durch standardisierte Interviews mit Kindern und ihren Eltern gewonnen wurden,
Betrachtet man zunächst das Kindheitsmuster in Milieus mit geringeren Kapitalien, so zeigt sich der freizeitbezogene Habitus dieser Kinder darin, dass diese sich häufiger in unorganisierten, nicht verplanten Kontexten bewegen. Für sie ist beispielsweise das freie Spielen auf dem Spielplatz typischer als für Kinder anderer Milieus. Sie können häufiger selbst entscheiden, wie aktiv oder inaktiv sie ihre Freizeit gestalten wollen, wenngleich ihre Aktivitäten an ihre eingeschränkteren finanziellen Möglichkeiten gebunden sind.
Mit Blick auf den Kontext Familie ist dieses Kindheitsmuster durch milieuspezifische Formen der Mediennutzung geprägt, wie sie einerseits am selteneren Umgang mit dem Computer deutlich werden, sich andererseits, stärker als in der Kindergruppe mit umfangreicheren Kapitalien, auf das gemeinsame Fernsehen und Videoschauen mit den Eltern beziehen.
Typisch für dieses Kindheitsmuster ist weiterhin die überdurchschnittliche Bedeutung guter Noten und Zeugnisse. Allerdings ist im Selbstverständnis der Eltern die Schule für die Bildung der Kinder zuständig.
Das Kindheitsmuster aus Milieus mit umfangreicheren Kapitalien zeichnet sich demgegenüber durch einen freizeitbezogenen Habitus aus, der sich darin manifestiert, dass die Kinder häufiger in Vereine eingebunden sind und ihre Freizeit durch außerschulische Unterrichtsstunden geprägt ist. Sie ist damit verplanter und strukturierter als dies bei Kindern aus Milieus mit geringeren Kapitalien der Fall ist. Daran gekoppelt sind unter anderem die Erfahrungen des Umgangs mit verschiedenen Terminen, von organisierten, in klare Zeitstrukturen eingebundenen, meist durch Erwachsene angeleiteten und beaufsichtigten Aktivitäten. Zugleich bestehen hier Möglichkeiten, mit fremdbestimmtem und von Erwachsenen definiertem Erfolg oder aber mit Scheitern umzugehen: ein Element, das ein zentrales Merkmal von Schule darstellt.
Darüber hinaus ist der familienbezogene Habitus weniger durch Geld(-sorgen) dominiert als beim Kindheitsmuster der Milieus mit geringeren Kapitalien. Die Kinder erhalten sehr häufig Taschengeld, das überwiegend als fester, regelmäßiger Betrag ausgezahlt wird. Charakteristisch ist jedoch in diesen Milieus der hohe Zeitdruck. Der Alltag der Kinder (und ihrer Eltern) ist durch zahlreiche Termine geprägt, deren Abstimmung und Koordination mit Stresserleben einhergeht.
Weiterhin geben diese Kinder an, weniger Probleme damit zu haben, dem Unterricht folgen zu können. Sie berichten auch von weniger Angst, im Unterricht Fehler zu machen. Ihre Haltung zur Schule und ihr Selbstbild als Lernende gehen, ganz im Sinne der horizontalen Logik, eher konform mit schulischen Anforderungen als dies für Kinder aus Milieus mit geringeren Kapitalien der Fall ist. Darüber hinaus besuchen diese Kinder häufiger, früher und durchschnittlich länger eine vorschulische Bildungs- und Betreuungseinrichtung als Kinder aus Milieus mit geringeren Kapitalien.
Diese knappe Beschreibung verdeutlicht, dass das Kindheitsmuster der Milieus mit geringeren Kapitalien Bruchstellen aufweist zwischen dem, was in der Schule von den Kindern erwartet und eingefordert wird und den kulturellen Praktiken, Zeitrhythmen sowie freizeit- und familienbezogenen Verhaltensmustern. Hingegen lässt sich das Kindheitsmuster der Milieus mit umfangreicheren Kapitalien dadurch charakterisieren, dass sich die Interessen und Praktiken der Kinder im familiären Rahmen, in den für sie typischen Freizeitkontexten und auch ihre damit verbundenen Habitus im Sinne des Kapitalkonzepts transformieren und in der Schule erfolgsträchtig einbringen lassen. Dies alles verweist auf Ungleichheitsverhältnisse, die an die soziale Zugehörigkeit der Kinder gekoppelt sind: Die Studie liefert empirische Hinweise für "ungleiche Kindheiten".
Kinderbefragungen auf Basis eines ungleichheitstheoretischen Zugangs sind also dazu geeignet, Momente ungleicher, milieuspezifischer Kindheitsmuster herauszuarbeiten. So lassen sich zum einen die milieuspezifischen Variationen von Handlungsorientierungen und Handlungsmustern auffächern, die für die unterschiedlichen Kindheitsmuster konstitutiv sind und der horizontalen Logik der Milieus entsprechen. Durch die Einblendung des Leistungskontexts Schule wird zum anderen die vertikale Logik offenkundig, die sich in den milieuübergreifenden Handlungserwartungen manifestiert, und denen alle Kindergruppen gerecht werden müssen, um in der Schule erfolgreich zu sein.
Die zugrunde liegende repräsentative Datenbasis erlaubt es, die Befunde zu verallgemeinern. Diese dokumentieren repräsentative Kindheitsmuster für den sozialen Raum Deutschland. Ob und inwiefern sich diese weiterhin zeigen, ist eine empirische Frage, die immer wieder neu zu beantworten ist. Zudem wäre auf der Grundlage zusätzlicher belastbarer Daten zu fragen, zu welchem Anteil die verschiedenen Kindheitsmuster Kindheit(en) in Deutschland repräsentieren.
Zur Ko-Konstruktion ungleicher Kindheiten
Milieuspezifische Kindheitsmuster bilden nicht einfach die soziale Wirklichkeit ab. Kindheitsmuster und Milieus sind von Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern abgegrenzte und benannte Konzepte bzw. Gruppierungen.
Vergleichbar der Beobachtung, dass Kinder in den Milieuanalysen bis heute nahezu vollständig ausgeblendet wurden und in dieser Forschungspraxis die generationale Ungleichheit zulasten der Kinder zum Ausdruck kommt, existieren auch die milieuspezifischen Kindheitsmuster nicht im herrschaftsfreien Raum. Es gilt daher, die mit dem Milieu- und dem Kindheitskonzept verbundenen Annahmen, Darstellungen und die Vorgehensweise im empirischen Forschungsprozess offenzulegen.