Einleitung
Dass dem Grundgesetz einmal ein 60-jähriges Jubiläum vergönnt sein würde, hätte bei seiner Verkündung durch den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Konrad Adenauer, am 23. Mai 1949 wohl niemand vermutet - am wenigstens die Mitglieder des Parlamentarischen Rates selbst, die es nach einem Dreivierteljahr intensiver Beratungen am 8. Mai 1949 mit der eindrucksvollen Mehrheit von 53 Ja- gegenüber 12 Nein-Stimmen (außer den beiden KPD-Abgeordneten stimmten Vertreter der CSU, des Zentrums und der Deutschen Partei/DP dagegen) beschlossen hatten.
Die Teilung Deutschlands, so die allgemeine Erwartung, würde bald überwunden und damit der Weg frei sein für eine nicht auf die westliche Teilnation beschränkte, sondern gesamtdeutsche Verfassung - und damit für eine Verfassung, die frei von Vorgaben und Genehmigungs- sowie Vorbehaltsrechten der Alliierten in souveräner staatlicher Selbstbestimmung Deutschlands gestaltet werden könnte. Kurz: das Grundgesetz war, um die geläufige Charakterisierung zu gebrauchen, als "Provisorium"
Ausgangspunkt: Das Grundgesetz als Provisorium
Um seine Vorläufigkeit zu betonen, nahm man von der in Deutschland fest etablierten Nomination von Staatsgrundgesetzen als "Verfassungen" (etwa: Verfassung des deutschen Reiches 1849/Paulskirchenverfassung, Verfassung des Deutschen Reichs 1871/Bismarck'sche Reichsverfassung, Verfassung des Deutschen Reichs 1919/Weimarer Reichsverfassung) ausdrücklich Abstand und griff zu der eher ungewöhnlichen Bezeichnung als "Grundgesetz". Darauf hatten, nachdem die Westalliierten in den Frankfurter Dokumenten
Die Erwartung einer baldigen Überwindung der deutschen Teilung und somit der Vorläufigkeit des Grundgesetzes führte jedoch ebenso wenig wie die zurückhaltende Terminologie dazu, das Grundgesetz konzeptionell auf die unabweisbar notwendigen Regelungen staatsorganisatorischer Art (Staatsorgane, Kompetenzverteilung) zu beschränken. In diese Richtung gehende Vorstellungen wurden rasch überwunden. Inhaltlich war das Grundgesetz von Beginn an als Vollverfassung ausgestaltet: Es beschränkte sich nicht auf die staatsorganisatorische Seite, sondern regelte auch die Rechtsstellung des Einzelnen im und zum Staat, enthielt Staatsziele und grundlegende Gestaltungsprinzipien. Mit dem fundamentalen Satz von der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.") an ihrer Spitze wurden die Grundrechte in voller Absicht und aus augenfälligen Gründen an den Anfang des Grundgesetzes gestellt, das in seiner Gesamtheit die Grundordnung des Gemeinwesens bildet. Nicht zuletzt an der unbefangenen Formulierung bestimmter Normen wird hinlänglich und entgegen der vermeintlich restriktiven Titulierung deutlich, dass es schlicht und einfach die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland war und ist: so, wenn Art. 5 Abs. 3 GG davon spricht, die Freiheit der Lehre entbinde nicht von der Treue zur Verfassung; wenn in Art. 20 Abs. 3 GG von verfassungsmäßiger Ordnung die Rede ist oder in Art. 93 GG die umfänglichen Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts aufgeführt werden.
Und mehr noch: Der Parlamentarische Rat wagte 1949 eine Regelung, die - scheinbar in schroffem Gegensatz zur prätendierten Vorläufigkeit - bestimmten Kernelementen des Grundgesetzes sogar die denkbar höchste Stabilität und Dauerhaftigkeit vermittelte. Art. 79 Abs. 3 GG legt selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber Fesseln an, indem er die Grundsätze der Art. 1 und 20 GG (nicht: Art. 1 bis 20 GG) dessen Zugriff entzieht. Diese Bestimmung, seinerzeit ein - von wenigen und eher punktuellen Vorläufern abgesehen - absolutes verfassungsrechtliches Novum, bezeichnet man daher auch als Ewigkeitsklausel.
Doch wie verträgt sich diese partielle Selbstverewigung mit seinem vom Parlamentarischen Rat so überaus deutlich hervorgehobenen Charakter als Notbau? Ist das nicht ein eklatanter Widerspruch? Die Antwort gibt das Grundgesetz selbst. Man muss den Blick dazu von seinem Vorspruch, der Präambel, auf die Schlussbestimmung lenken. Art. 146 GG lautete bis zu seiner - sogleich zu erörternden - Änderung im Jahre 1990 wie folgt: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Damit war unmissverständlich gesagt: Solange das Grundgesetz in Kraft ist, solange ist es als vollgültige Verfassung für alle Staatsgewalt verbindlich und mit seinen in Art. 79 Abs. 3 GG fixierten tragenden Elementen einer Verfassungsänderung entzogen. Wenn aber nach Aufhebung der Teilung Deutschlands das gesamte deutsche Volk "in freier Selbstbestimmung" eine neue Verfassung beschließen würde, dann sollte das Grundgesetz seine Geltung verlieren.
Dabei bezog sich das Element freier Selbstbestimmung im Wesentlichen auf den Fortfall der Souveränitätsbeschränkungen durch die Alliierten - hatte es doch zum Inkrafttreten des Grundgesetzes, worüber die Art. 144 und 145 GG dezent schweigen, nicht nur der Zustimmung der Volksvertretungen der Länder bedurft (wobei allein Bayern mit Nein votierte), sondern zusätzlich der expliziten Genehmigung der drei westlichen Militärgouverneure,
Wendepunkt: Das Grundgesetz im Prozess der Wiedervereinigung
Die deutsche Wiedervereinigung kam - aber das Grundgesetz blieb. Sie kam freilich nicht alsbald, sondern nach vier Jahrzehnten, während der viele, wenn nicht die meisten Zeit- (geist)genossen die Hoffnung auf ein Ende der Teilung längst aufgegeben, andere in ihr wohl sogar einen aus unterschiedlichen Motiven (stabilisierendes politisches Element, Verhinderung eines zu starken deutschen Nationalstaates, Strafe für NS-Zeit) begrüßenswerten Zustand zu sehen begonnen hatten.
Doch das Grundgesetz ging keineswegs unberührt und unverändert aus dem epochalen Vorgang der Wiedervereinigung hervor. Zwar spricht man in der allgemeinen Debatte wie auch in der politischen Publizistik und der Staatsrechtslehre zumeist vom "Beitritt der DDR" gemäß Art. 23 GG in seiner alten Fassung (a.F.), welche lautete: "Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen."
In der Tat hatte es eine "Beitrittserklärung" der DDR gegeben, nämlich durch die Volkskammer am 23. August 1990. Aber diese Erklärung bewirkte den Beitritt eben gerade nicht aus sich heraus, sondern beschleunigte die politischen Aktivitäten auf beiden Seiten, die Wiedervereinigung herbeizuführen. Nur wie? Durch Annahme des Beitritts, was eine automatische Erstreckung der Geltung des Grundgesetzes sowie der gesamten Rechtsordnung in der (ehemaligen) DDR zur Folge gehabt hätte? Das galt als dem Osten nicht zumutbar.
Zwar ist in diesem Vertrag irritierender Weise vom "Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990" die Rede - doch war an jenem 3. Oktober diese Verfassungsbestimmung gar nicht mehr existent, sondern bereits aus dem Grundgesetz entfernt worden. Wodurch? Durch eben jenen völkerrechtlichen Einigungsvertrag, der neben der Streichung des Beitrittsartikels auch die Präambel, Art. 51 sowie den für uns interessanten Art. 146 GG veränderte; diese Grundgesetzänderungen traten am 29. September 1990 in Kraft.
Nullpunkt oder Fluchtpunkt? Zur kontroversen Deutung des Art. 146 GG
Was bedeutete dies für den Ablösungsvorbehalt des Art. 146 GG? Der Abschluss des Einigungsvertrags machte klar, was schon bald im Laufe der unglaublich raschen politischen Entwicklung seit dem Fall der Mauer immer deutlicher ins allgemeine politische Bewusstsein getreten war: dass angesichts der drängenden Probleme und der sich beschleunigenden Entwicklung für eine Herstellung der deutschen Einheit im Wege eines umfassenden neuen Verfassunggebungsprozesses weder genug Zeit noch ein hinlängliches Maß an Bereitschaft bei den relevanten politischen wie gesellschaftlichen Kräften vorhanden waren. Ob dieser Umstand der in Art. 146 GG formulierten Option einer neuen gesamtdeutschen Verfassung in freier Selbstbestimmung die Grundlage entzog oder sie ungeschmälert bestehen ließ, erwies sich sodann als eine bis heute äußerst kontrovers behandelte Frage.
Schon in den heftigen Debatten, welche die Verhandlungen über den Einigungsvertrag begleiteten und in denen Verfassungsinterpretation und -politik oft bis zur Unkenntlichkeit verschwammen, war mit Macht eine Auffassung in den Vordergrund getreten, die als gewissermaßen zwingende Konsequenz der Wiedervereinigung die komplette Streichung des Art. 146 GG ansah.
Doch es kam anders. Art. 146 GG wurde nicht gestrichen, sondern geändert. Die Änderung bestand lediglich in einem Einschub, der - in Parallele zur Präambel - noch einmal die Geltung des Grundgesetzes für das wiedervereinigte Deutschland festhielt. In seiner neuen Fassung (n.F.) lautet Art. 146 GG wie folgt: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Das konnte die herrschende Meinung (h.M.) freilich nicht davon abbringen, die Schlussbestimmung weiterhin als obsolet anzusehen. Wenn Art. 146 GG auch nicht, wie gewünscht und im Grunde für zwingend befunden, gestrichen worden war, so betrachtete man Art. 146 n.F. GG doch so, als ob genau dies geschehen wäre.
Doch blieb diese Auffassung nicht ohne Widerspruch. Die Gegenmeinung hat zwar vermutlich noch immer die kleinere Anhängerschar, dafür aber die stärkeren Argumente auf ihrer Seite. Deren wichtigstes lautet, dass Art. 146 GG entgegen dem vielfach bezeugten Credo der Mehrheitsmeinung eine Doppelfunktion erfüllte. Man kann und darf die Schlussbestimmung nicht als reinen Wiedervereinigungs-Artikel lesen, dem mit Eintritt derselben gleichsam der Gegenstand abhanden gekommen sei. Vielmehr war die Norm zum einen durchaus gedacht als möglicher Weg zur deutschen Einheit und enthielt insofern eine Antwort auf die Wiedervereinigungsfrage; sie sah aber daneben und ganz selbständig die Ablösung des Grundgesetzes in freier Entscheidung des ganzen deutschen Volkes ohne besatzungsrechtliche Bindungen vor und enthielt insofern eine Antwort auf die Verfassungsfrage. Die Erledigung der einen Funktion (Wiedervereinigung) ließ die andere (Verfassunggebung) unberührt. Ganz in diesem Sinne hatte Carlo Schmid bei den Schlussberatungen im Plenum des Parlamentarischen Rates unwidersprochen festgehalten, dass "auch der Beitritt aller deutschen Gebiete (...) dieses Grundgesetz nicht zu einer gesamtdeutschen Verfassung machen" könne.
Noch deutlicher kann man die Unabhängigkeit von Beitritt und Verfassung nicht formulieren. Es gab eben zwei Wege zur Einheit, aber nur einen zur Verfassung.
Auch die Neufassung des Art. 146 GG im Zuge der Wiedervereinigung hat nichts an der prinzipiellen Option einer neuen, das Grundgesetz ablösenden Verfassung geändert.
Schließlich und endlich bringt Art. 146 GG in seiner neuen ebenso wenig wie in seiner alten Fassung nicht lediglich die seit der Französischen Revolution und ihrem Verfassungskonstrukteur Abbé Sieyès gängige Selbstverständlichkeit zum Ausdruck, dass sich ein Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt stets seiner bisherigen normativen Fesseln entledigen und auf revolutionärem Wege zu einer neuen Grundgestalt seiner politischen Existenz schreiten könnte. Art. 146 GG normiert mehr und anderes: Er baut eine die juristische Revolution vermeidende normative Brücke von der alten zur neuen Ordnung und zeigt, dass eine Verfassung durchaus die Voraussetzungen ihrer eigenen Ablösung regeln kann. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Konstitutionalisierung des Verfassunggebungsprozesses auf der Zeitschiene. Die neue Verfassung wird nicht in den Bereich konstitutioneller Illegalität abgedrängt, sondern von der alten, dem Grundgesetz, ausdrücklich zugelassen.
Den Bedarf für eine derartige ausdrückliche Regelung schafft die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG. Viele andere Verfassungen, angefangen bei der amerikanischen von 1787 oder der französischen von 1791 über die Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 und die Weimarer Reichsverfassung von 1919, bedurften einer speziellen Norm zur Ablösung der alten Verfassung durch eine neue nach Art des Art. 146 GG nicht, weil dort die Reichweite der verfassungsändernden Gewalt inhaltlich unbegrenzt war bzw. ist. In der Schweiz und in Österreich kann eine Verfassungsneuschöpfung im Wege der Totalrevision bzw. der Gesamtänderung bewirkt werden. Deutlich wird durch diese Hinweise auch, dass es keineswegs eine völlig irreguläre Situation darstellt, wenn sich ein Volk das Recht vorbehält, seine politische Ordnung im Wege der Verfassunggebung bzw. der Verfassungsänderung grundsätzlich neu zu regeln. Wenn diese Möglichkeit für die Situation in Deutschland als "Sprengladung unter dem Fundament des Grundgesetzes"
Schlusspunkt: Offene Verfassungszukunft
Das Grundgesetz ist keine Verfassung auf Abruf - wenn man unter Abruf versteht, dass es praktisch jederzeit, aus banalen Gründen und womöglich allein aufgrund der Entschlossenheit einer aktivistischen Minderheit aus dem Weg geräumt werden könnte. Dem stehen schon seine bisherige Erfolgsgeschichte mit entsprechend starken Beharrungskräften sowie der Umstand entgegen, dass das letztlich entscheidende Kriterium für eine Aktivierung des Art. 146 GG im konkreten historisch-politischen Erfolg entsprechender Initiativen liegt. Sie dürften es schwer haben. Denn das Provisorium hat sich als weitaus stabiler und langlebiger erwiesen als bei seiner Verabschiedung gedacht und sich auch den Stürmen der deutschen Wiedervereinigung und den Herausforderungen der europäischen Integration gewachsen gezeigt. Seine Wertschätzung in der Gesellschaft im Sinne eines sicherlich oft recht diffusen Verfassungskonsenses darf wohl ungeachtet mancher verstörender demographischer Befunde als vergleichsweise tief verankert angesehen werden. Man übertreibt nicht mit der spekulativen Vermutung, dass es möglicherweise weitere 60 Jahre vor sich haben könnte.
All dies bedeutet, dass es bei Ausbleiben fundamentaler Verfassungskrisen, grundstürzender Umbruchsituationen oder gravierender Wandlungsprozesse kaum zu einer erfolgreichen Aktivierung des Art. 146 GG kommen wird. Aber genau für solche (hier und heute vielleicht als unwahrscheinlich anzusehenden) Fälle kann der Schlussartikel des Grundgesetzes einen nichtrevolutionären, friedlich-evolutionären Übergang in eine neue Verfassungsordnung bahnen und so dem Rechtsgedanken dienen.
Das Grundgesetz treibt die Selbstverewigung des Art. 79 Abs. 3 GG nicht auf die Spitze, sondern kennt nach wie vor eine Alternative zu sich selbst und lässt den Weg zu einer neuen Verfassung offen. Das ist weder die bereits erwähnte Zeitbombe noch ein bedrohlicher "Sprung ins Dunkle",
Klug ist es umgekehrt aber auch, dass das Grundgesetz die Verabschiedung einer neuen Verfassung nicht zur Pflicht macht, also keinen (womöglich befristeten) Auftrag zur Verfassunggebung erteilt. Wir können somit alles so lassen, wie es ist, und uns auf Fortentwicklungen durch inkrementale Änderungen des Grundgesetzes beschränken. Aber eben dieses Grundgesetz eröffnet weiterhin die Möglichkeit, auf nichtrevolutionärem Wege eine neue Verfassung "in freier Selbstbestimmung" zu schaffen, wenn die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes das wollen. Dieses Recht der Verfassunggebung steht einem freien Volk gut an - und es steht ihm zu.