Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Vom Altern einer Verfassung: 60 Jahre Grundgesetz - Essay | 60 Jahre Grundgesetz | bpb.de

60 Jahre Grundgesetz Editorial Abschied vom Grundgesetz? Essay Vom Altern einer Verfassung: 60 Jahre Grundgesetz - Essay Die Deutschen und ihre Verfassung Das Grundgesetz - eine Verfassung auf Abruf? Grundgesetz und Internet Die Bundesregierung im Verfassungssystem Der Parlamentarische Rat in Bonn

Vom Altern einer Verfassung: 60 Jahre Grundgesetz - Essay

Christoph Möllers

/ 7 Minuten zu lesen

Jenseits institutioneller Reformen erscheint das Grundgesetz kaum als veraltete Institution. Ein Blick in den Text bestätigt die Vermutung, dass wenig so schnell veraltet wie seine Neuerungen.

Einleitung

Verfassungen können älter werden als Menschen, sie werden es aber nur in den seltensten Fällen. Das macht es schwer, das Alter einer Verfassung in die auf den Menschen bezogene Kategorienwelt des Alterns einzuordnen. Nur eine einzige wirklich alte, geltende Verfassung gibt es, soweit ersichtlich, im Moment auf der Welt: die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Jahr 1787. Nur wenige Verfassungen können auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, ganz wenige auf die Epoche vor der Zeitenwende des Ersten Weltkriegs zurückschauen. Außer Konkurrenz steht das Vereinigte Königreich, dessen ungeschriebene Verfassungskultur vormoderne Traditionen in den Rang geltenden Rechts erhebt. Die englische Verfassung ist alt, das ist sicher, aber ist sie auch eine Verfassung?



Das Grundgesetz, das nunmehr 60 Jahre alt wird, ist auf den ersten Blick eine recht junge Verfassung - oder ist dies eine optische Täuschung, die vom Alter des Betrachters abhängt? Jedenfalls teilt sie mit der Bundesrepublik Deutschland, dem Staat, den sie hervorgebracht hat, einen Bezug auf die zweite klassische Moderne der Nachkriegszeit, damit aber auch auf eine gewisse Traditionslosigkeit, die der Bruch von nationalsozialistischer Herrschaft und Zweitem Weltkrieg für die politische Kultur Nachkriegsdeutschlands bedeutete. Diese Traditionslosigkeit zeigt sich an ganz unterschiedlichen Stellen. Anders etwa als im französischen Verfassungsrecht, in dem nun schon die zweite Verfassung nach dem Krieg gilt, anders aber auch als bei den deutschen Zivil- und Strafrechtlern kennt das deutsche Verfassungsrecht keine vorkonstitutionellen juristischen Argumente. Gerichtsentscheidungen oder wissenschaftliche Aufsätze aus der Zeit vor dem Grundgesetz, etwa aus der Weimarer Republik oder gar aus dem Kaiserreich, haben allenfalls rechtshistorischen Erkenntniswert. Sie nehmen an der Geltung des Verfassungsrechts nicht teil.

Der Grund hierfür dürfte weniger im politischen Bruch nach 1945 liegen als in Kontinuität und Neubegründung der Gerichtsbarkeiten. Für Zivil- und Strafrechtler ist der Bundesgerichtshof nur eine umbenannte Fortsetzung des Reichsgerichts, mit dessen Rechtsprechung sie - manchmal recht unbefangen - umgehen. Das verlängert die Tradition gleich um sieben Jahrzehnte bis zur Gründung dieses Gerichts im jungen Kaiserreich des Jahres 1879. Im Verfassungsrecht scheint mit dem Moment der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts eine neue Zeitrechnung begonnen zu haben. Es gibt, ob aus guten Gründen oder nicht, kein Davor. Diese Traditionslosigkeit wird dadurch verstärkt, dass - hier nehme ich eine Beobachtung des Bayreuther Verfassungsrechtlers Oliver Lepsius auf - das Bundesverfassungsgericht das einzige Verfassungsgericht auf der Welt sein dürfte, dessen Entscheidungen von ihm selbst wie von seinen Kommentatoren ohne Jahreszahl zitiert werden. Man könnte sagen, dass der Umgang mit dem Grundgesetz auf den Punkt der Einsetzung des Bundesverfassungsgerichts eingefroren wird. Der bundesrepublikanische Umgang mit seiner Verfassung wird nicht älter als 60 Jahre, er wird aber auch nicht jünger, indem jede Entscheidung des Gerichts so zitiert wird, als wäre sie erst gestern entschieden worden. Nicht älter und nicht jünger, kurz: Der Umgang mit dem Grundgesetz bleibt unhistorisch.

Dieser Beobachtung entspricht die scharfe Trennung zwischen Verfassungsrecht und Verfassungsgeschichte in der bundesrepublikanischen Rechtswissenschaft. Wer in anderen westlichen Demokratien Verfassungsrecht betreibt, kommt nicht umhin, sich ernsthaft mit der Verfassungsgeschichte, insbesondere mit der Entstehung der Verfassung, aber auch mit den politischen Kontexten verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zu beschäftigen. Nicht so in der Bundesrepublik: Der Blick in die Akten des Parlamentarischen Rats ist etwas für Historiker. Wer sie mit den Augen eines Juristen untersucht, wer dort nach Hinweisen zur Lösung konkreter Rechtsprobleme sucht, begibt sich nach deutschem Methodenverständnis in das verpönte Reich der so genannten "subjektiven" Auslegung, liefert sich also der vermeintlichen Beliebigkeit der politischen Debatte im Parlamentarischen Rat aus. Wer hinter dieser Einstellung auch ein Stück Politikverachtung vermutet, liegt nicht falsch. Richtig soll es dagegen sein, mit der so genannten "objektiven" Auslegung zu arbeiten. "Objektiv" ist hier aber nur ein Kürzel des Bundesverfassungsgerichts für seinen eigenen Methodensynkretismus. Gegen diesen ist nichts zu sagen, Gerichte müssen praktische Probleme lösen, und das gelingt selten methodenrein. Nur sollte sich die Wissenschaft dem eben nicht unkritisch und ohne historische Neugierde ausliefern.

Jung oder alt? Wer so traditionslos operiert, so mag man denken, kann nicht wirklich als alt bezeichnet werden. Oder aus der umgekehrten Perspektive: Mit 60 Jahren dürfte es langsam Zeit werden, die eigene Vergangenheit auch als Geschichte zu verstehen, und das bedeutet einerseits, sie zu den Akten zu legen, also ihre Historizität anzuerkennen, und sich andererseits ernsthaft und systematisch für ebendiese Akten zu interessieren. Entscheidungen müssen in ihren historischen Kontext eingeordnet und so relativiert werden, das Bundesverfassungsgericht sollte seine Archive öffnen, die Wissenschaft ihre methodische Naivität gegenüber dem Alter des Grundgesetzes weiter ablegen. Dass dies irgendwann passieren wird, steht außer Zweifel, manche Hinweise dafür gibt es schon heute: ein gesteigertes Interesse an der Frühzeit des Bundesverfassungsgerichts etwa, aber auch eine wachsende Kritik an der Konzeption der "objektiven" Auslegung.

Der unhistorische Umgang mit dem Grundgesetz zeigt sich auch in einer anderen Facette: den zahlreichen Änderungen des Grundgesetzes. Das, was man als alt erkannt hat, stellt man in der Regel unter einen gewissen Schutz, ohne es deswegen unbrauchbar werden zu lassen. Der Denkmalschutz ist in der Bundesrepublik mittlerweile tief in den 1970er Jahren angekommen. Das Grundgesetz ist in der Wahrnehmung der politischen Akteure allerdings noch lange nicht so weit - trotz einer Flut von Lobreden, die auch 2009 noch auf uns warten werden. Das zeigt sich deutlich an der Praxis der Verfassungsänderungen: Das Grundgesetz lässt sich relativ leicht ändern, und es ist entsprechend häufig geändert worden. Dies ist auch Folge einer aktiven Verfassungsrechtsprechung, welche die verfassungsrechtlichen Spielräume eng definiert.

Schaut man sich die Verfassungsänderungen im Umfeld des sprachlichen Nachkriegsdenkmals an, welches das Grundgesetz eben auch darstellt, dann wirkt der Eindruck so verheerend wie ein Parkhaus aus Beton in einem Bauhaus-Ensemble. Die Sprache des Original-Grundgesetzes klingt keineswegs überholt. In der Regel werden Leserinnen und Leser an die Sprache einer Verfassung ohnehin andere Erwartungen haben als an andere Texte. Aber diese Sprache scheint eine gewisse lakonische Würde auszustrahlen, und damit eben auch aus einer anderen Zeit zu kommen. Die neuen Formulierungen des geänderten Grundgesetzes sind dagegen lang, umständlich und hässlich. Diese Beobachtung geschieht nicht in kulturpessimistischer Absicht. Es geht nicht darum, Sprachverfall zu beklagen. Die Beobachtung zeigt vielmehr, dass das Grundgesetz im politischen Prozess der Verfassungsänderung nicht als wertvolles und schützenswertes Objekt wahrgenommen wird, sondern als bloßes Instrument. Auch hier hat die Historisierung noch nicht eingesetzt, die wir andernorts so umständlich pflegen.

Ist das Grundgesetz also so jung, wie es sich unhistorisch fühlt, so erweist es sich auf der anderen Seite als vergleichsweise alte Verfassung. Sie ist unter denjenigen Verfassungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als ausdrückliche Lehre aus den Erfahrungen mit dem Totalitarismus geschrieben wurden, eine der ältesten. Zwar sind die vergleichbaren Verfassungen Japans (1946/47) und Italiens (1947/48) älter. Doch haben sie keine entsprechende Vorbildwirkung auf der ganzen Welt erzeugt, in der immer mehr Länder in die Situation kamen, ein autoritäres System durch eine demokratische Verfassungsordnung abzulösen. Der Erfolg des Grundgesetzes mag an der vergleichsweise großen Stabilität des politischen Systems gelegen haben, an der sehr starken Stellung des Bundesverfassungsgerichts, an dem damit verbundenen extensiven Verständnis der Grundrechte, vielleicht auch an der in das Grundgesetz überführten, sehr differenzierten deutschen Rechtskultur, die schon im 19. Jahrhundert in vielen Teilen der Welt hoch angesehen war. Hier hat sich eine an Traditionen interessierte Außensicht auf das Grundgesetz dieses zum Teil einer Tradition gemacht.

Wenn vom Alter des Grundgesetzes die Rede ist, schwingt nicht selten die Befürchtung mit, es sei vielleicht "zu alt", vielleicht gar, was immer damit gemeint sei, nicht mehr "zukunftsfähig". Soweit diese Befürchtung sich nicht aus allgemeinen Verfallsszenarien über die Zukunft der Demokratie speist, erscheint sie wenig begründet: nicht nur, weil das Grundgesetz so häufig geändert wurde, dass von einer alten Verfassung eben kaum die Rede sein kann, vielmehr vor allem deshalb, weil freiheitliche Verfassungen ja zuallererst Veränderungen ermöglichen und sich nicht selbst verändern sollen. Ihr eigentlicher Clou ist nicht die für Ausnahmefälle gedachte verfassungsgerichtliche Kontrolle, sondern die Einrichtung veränderungsoffener politischer Verfahren. Dass es mit der Veränderungsoffenheit in einer stark konsensbedürfigen politischen Kultur wie der unseren nicht allzu weit her ist, mag sein - aber das ist nicht dem Grundgesetz anzulasten.

Jenseits der Frage konkreter institutioneller Reformen, etwa der weiterhin unabgeschlossenen Reform unserer bundesstaatlichen Ordnung, erscheint das Grundgesetz kaum als veraltete Institution. Aber auch auf dem engeren Gebiet der materiellen Maßstäbe des Verfassungsrechts zeigt sich diese Offenheit zugleich bei den Grundrechten, die den Gebrauch individueller Freiheit schützen. Auch wenn manche Formulierungen des Grundgesetzes altmodisch klingen mögen oder den Stand der heutigen Technik nicht vorwegnehmen konnten, erweist es sich erfahrungsgemäß nicht als problematisch, den Schutz der Grundrechte der technischen Entwicklung anzupassen. Grundrechte knüpfen an den Gebrauch von Freiheit an. Die beiden vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Basis-Grundrechte, die Allgemeine Handlungsfreiheit und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, sind so grundsätzlich an die Autonomie der Person geknüpft, dass es schwer vorstellbar ist, wie sie "überholt" werden könnten. Ein Blick in den Text des Grundgesetzes bestätigt die Vermutung, dass wenig so schnell veraltet wie seine Neuerungen.

Dr. jur., LL.M. (Master of Laws), geb. 1969; Professor und Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht, insbes. Staatsrecht, Rechtsvergleichung und Verfassungstheorie an der Georg-August-Universität, Platz der Göttinger Sieben 6, 37073 Göttingen.
E-Mail: E-Mail Link: cmoellers@jura.uni-goettingen.de