Einleitung
Die Inszenierung von Politik, also die genaue Kalkulation öffentlicher Auftritte, Forderungen, Parolen, Zeichen und Gesten mit Blick auf ihre politische Wirkung war auch im Herbst 1989 und im deutschen Vereinigungsprozess 1989/90 ein wichtiger, in der Literatur bislang noch nicht hinreichend gewürdigter Baustein der Bonner Deutschlandpolitik. Der Grund für diese mangelnde Aufmerksamkeit liegt in der Sache. Was dem distanzierten Beobachter als schlichter Ausdruck politischer Professionalität erscheint: die präzise Kalkulation öffentlicher Präsenz unter Bedingungen massenmedial vermittelter Kommunikation, das ist und bleibt für die politischen Akteure ein Tabu, dessen Offenlegung den Nimbus ihrer Authentizität und Spontaneität, mit dem sie zuvor gearbeitet hatten, gefährden würde. Und so setzt sich die ursprüngliche Inszenierung der Politik nicht selten in einer zweiten Inszenierung der Biografen, manchmal auch der Zeithistoriker fort.
In der Bonner Deutschlandpolitik sind politische Inszenierungen in erster Linie zwischen dem Mauerfall im November 1989 und der Volkskammerwahl in der DDR im März 1990 zu beobachten. Die zeitweilige Konjunktur dieses Instruments korrespondiert mit den Bedingungen einer direkten Einflussnahme auf die Bürgerinnen und Bürger der DDR. Vor dem Mauerfall - das Damoklesschwert einer "chinesischen Lösung" der im Sommer 1989 eskalierenden Konflikte in der DDR schwebte bedrohlich über den Akteuren - finden wir nur vorsichtige Adressen der Bundesregierung an die SED-Führung. Und schon ein halbes Jahr später - die neuen Machtverhältnisse waren qua Volkskammerwahl abgesteckt - endete die Wende ins Öffentliche, und die spezifischen Konditionen der deutschen Vereinigung wurden in gewohnter Weise hinter verschlossenen Türen verhandelt. Dazwischen aber fand Revolution statt. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR kündigten jede Zustimmung zum SED-System auf, überwanden dessen Repressionsmaschinerie, demokratisierten das politische Leben und wählten schließlich die Vereinigung mit der Bundesrepublik als Zukunftsperspektive ihres Gemeinwesens. Für die Bundesregierung wurde die sukzessive Entfaltung dieser Macht der Verhältnisse zu ihrem schlagkräftigsten innenpolitischen, innerdeutschen und vor allem auch außenpolitischen Argument - und sie versuchte, sie von Anfang an unter ihre Kontrolle zu bringen.
Damit begann die Stunde prägnanter, öffentlicher, medienvermittelter Ansprachen, mit der sich Bundeskanzler Helmut Kohl in Berlin nach dem Mauerfall, in Dresden vor der Frauenkirche und bei der Öffnung des Brandenburger Tores als Kanzler aller Deutschen in Szene zu setzen suchte. Anfang 1990 folgte die bewusste Vermeidung gemeinsamer Bilder mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow, die ihren Höhepunkt in der für diplomatische Verhältnisse ungewohnt deutlich zur Schau gestellten Distanz gegenüber Modrow und auch den DDR-Bürgerrechtlern gegenüber beim zweiten innerdeutschen Gipfel in Bonn Mitte Februar 1990 fand. Bei allen Schritten galt es, die Willensbildung der DDR-Bürger über das Streben nach demokratischen Freiheiten hinauszuführen und auf das Einheitsziel hin zu bündeln.
Erfolgreiche Inszenierung: Dresden
Die politische Lage. Unmittelbar nach dem Mauerfall stand die DDR im Zeichen demokratischer Reformen. Dem neuen Ministerpräsidenten Hans Modrow gelang es, den Großteil der reformorientierten Kräfte für das Ziel eines demokratischen Sozialismus zu gewinnen. Damit durchkreuzte Modrow, der für die Mehrheit der DDR-Bürger zum Hoffnungsträger auf eine bessere Zukunft avanciert war, die Bonner Erwartung, dass die ostdeutsche Selbstbestimmung zugleich zwingend eine Entscheidung für die Einheit sei. Die Reformkräfte, eben noch Verbündete gegen die alte SED, wurden zu Konkurrenten um die Willensbildung in der DDR.
Außenpolitisch wiederholte sich diese Konstellation. Modrow bot Bonn eine enge Zusammenarbeit in Form einer deutsch-deutschen "Vertragsgemeinschaft" an, was ihm, ließ dieses Modell doch die Nachkriegskonstellationen unangetastet, Sympathien in den europäischen Hauptstädten sicherte. Bonn reagierte umgehend mit dem Zehn-Punkte-Programm, das Modrows Vertragsgemeinschaft als Übergangslösung in einem Kontinuum zur Einheit umdefinierte. Damit waren die Positionen abgesteckt.
Um die Bildung einer neuen, positiven DDR-Identität um Modrows "Dritten Weg" herum zu verhindern, weigerte sich das Kanzleramt beharrlich, den ostdeutschen Reformprozess vorbehaltlos zu unterstützen, geriet aber mit dieser Haltung unter steigenden innenpolitischen Legitimationsdruck, der schließlich in eine Koalitionskrise mündete. Außenminister Hans-Dietrich Genscher brachte die westdeutsche Kritik auf den Punkt: Niemand solle sich anmaßen, an die Stelle der alten Ost- nun eine neue Westbevormundung zu setzen - und damit gleichzeitig die demokratischen Reformen in der DDR zu gefährden.
Ende November 1989 begann die Stimmung in der DDR umzuschlagen. Unter dem Eindruck von Produktionskrise und Währungsverfall, der Veröffentlichung der realen Wirtschaftsdaten sowie täglich neu aufgedeckter Skandale, die auch den letzten Glauben an "sozialistische Werte" zerstörten, kam es innerhalb weniger Tage zu einer Transformation der Bürgerbewegung. Die Bewegung "Wir sind das Volk" spaltete sich: Während der eine Teil an einer eigenständigen Demokratisierung der DDR festhielt, verortete der andere unter der Losung "Wir sind ein Volk" die Lösung aller Probleme in einer möglichst schnellen Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland. Die Ereignisse im Dezember 1989, von heftigen Auseinandersetzungen zwischen diesen Polen geprägt, wurden zu einer Gratwanderung.
Die Aufgabe. Die Bundesregierung stand vor einer widersprüchlichen Aufgabe. Auf der einen Seite war der Zeitpunkt gekommen, dem Zerfall der DDR entgegenzuwirken und den ostdeutschen Staat durch eine Kooperation mit Modrow in ein ruhiges Zwischenstadium zu überführen, bis die internationalen Voraussetzungen für eine Vereinigung geschaffen waren. Auf der anderen Seite galt es, den Stimmungswandel in der DDR voranzutreiben, also eine dezidiert konfrontative Linie gegenüber den Vertretern eines "Dritten Weges" fortzusetzen. Nicht zuletzt sollte damit der stillen Hoffnung in den europäischen Hauptstädten entgegengearbeitet werden, die Lage im Zentrum Europas könne auf Dauer ohne eine deutsche Wiedervereinigung stabilisiert werden. Kurzum: Ende 1989 war gegenüber Modrow eine zugleich kooperativ-freundschaftliche wie konfrontativ-konkurrierende Linie einzuschlagen. Die Bundesregierung löste diese Aufgabe beim Staatsbesuch Kohls in Dresden am 19./20. Dezember 1989 durch einen verblüffenden Politikmix: Die kooperativen Aspekte wurden qua Substanz - Verhandlungen über eine umfassende Zusammenarbeit - und die konkurrierenden qua Symbol - mittels öffentlicher Inszenierung einer massenmedial verbreiteten Definition der politischen Lage - verfolgt.
Die Vorbereitungen. In deutlichem Kontrast zu biografischen Darstellungen war der Auftritt des Bundeskanzlers vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche am Abend des 19. Dezember 1989 ein geplantes und sorgfältig vorbereitetes Angebot von Bild und Ton an rund 1500 sich in Dresden aufhaltende Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt. Die Vorbereitungen des Auftritts begannen bereits mit der Wahl des Verhandlungsortes. Das sächsische Dresden bot in Anbetracht des deutlichen Süd-Nord-Gefälles des Einheitswillens ein günstigeres Umfeld als das preußische Berlin, in dem Kohls Rede vor dem Schöneberger Rathaus noch vor wenigen Wochen in einem Pfeifkonzert untergegangen war. Die Gelegenheit eines alleinigen öffentlichen Auftritts des Bundeskanzlers wurde am 5. Dezember 1989 zwischen Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Ministerpräsident Modrow abgesprochen.
Die Botschaft. Die Rede des Bundeskanzlers - eine kurze, wohl komponierte Ansprache in fünf Teilen - war spätestens am 17. Dezember mit größter Sorgfalt aufgesetzt worden.
Die Bedeutung dieser ausgefeilten und bis ins Detail stimmigen Ansprache erschließt sich über ihren Kontext: in der Situation, eine Brücke zum Publikum zu schlagen, mit Blick auf die Medien einige prägnante, zitierfähige Passagen anzubieten und nicht zuletzt gegenüber Moskau und Washington, Paris und London die Bonner Position zur Neubestimmung der innerdeutschen Beziehungen zu verdeutlichen, ohne damit einen Eklat zu provozieren.
Das Bild im Fernsehen. Kanzler und Stab hatten ihre Arbeit getan, nun galt es abzuwarten. Bekanntlich wurde die Inszenierung ein großer Erfolg: Das Fernsehen übertrug Bilder eines von jubelnden Massen empfangenen Bundeskanzlers, die Fahnen in den deutschen Farben schwenkten und die Parolen "Deutschland, Deutschland", "Helmut, Helmut" und "Wir sind ein Volk" skandierten. Dieses Stimmungsbild einer schwer zu bestimmenden Anzahl von Menschen wurde im Kontext der begleitenden Berichte zum Stimmungsbild aller DDR-Bürger verallgemeinert und von den Anstalten weltweit übertragen. Philipp Zelikow und Condoleezza Rice, damals beide im engeren Stab des US-Präsidenten, haben den Effekt dieser Bilder treffend beschrieben: "Die begeisterte Teilnahme der Bevölkerung führte aller Welt den Willen der Ostdeutschen vor Augen."
Im aktuellen Kontext transportierten die Bilder noch zwei weitere, gewichtige Aussagen: Erstens legitimierten sie die in den Zehn Punkten eingeschlagene Offensive, die in den Dresdner Reaktionen ihre "eindrucksvolle Unterstützung und Begründung" fand.
Die Erzählung der Printmedien. In den folgenden Tagen produzierten die Berichte und Kommentare der Printmedien eine erste Erzählung der Ereignisse in Dresden. Die Bilder wurden versprachlicht, mit Daten über Umfang und Ablauf der Versammlung versehen und mit Einblicken in die emotionalen Befindlichkeiten der Akteure angereichert. Aus dem Bild der jubelnden Massen wurde die Erzählung der "Vereinigung von Kanzler und Volk". Diese sprachlich vorweggenommene Wiedervereinigung wurde in der überwiegenden Mehrzahl der Leitartikel als "warmes Bad" des Kanzlers "in den deutschen Farben" bzw. in einem "Meer von Gefühlen, Tränen und Hoffnung" beschrieben.
Botschaft und Realität. Helmut Kohl dominierte mit den wenigen, aber präzise eingesetzten Minuten seines Auftritts die Berichterstattung über den Staatsbesuch. Die visuelle Kraft der Bildausschnitte definierte den Einheitswillen der Ostdeutschen als unumgehbares Faktum, die Rolle Kohls als die eines umjubelten Kanzlers aller Deutschen und die Rolle Modrows als Interimsverwalter von Kohls Gnaden. Auf diese Weise setzte das Kanzleramt mitten auf dem Terrain des politischen Gegners seine Offensive um die Köpfe der Menschen fort. Doch inwieweit entsprach diese Message der Realität?
a) Der Staatsbesuch diente der Vorbereitung einer deutsch-deutschen Vertragsgemeinschaft, die bereits auf Ministerebene präzisiert wurde. Er war der Einstieg in einen neuen Grundlagenvertrag, der die Lage in der DDR durch engste Zusammenarbeit zu stabilisieren suchte - eine deutschlandpolitische Sensation, die in der Berichterstattung aber völlig unterging.
b) Die professionelle Meinungsforschung kam am Vortag des Staatsbesuchs zu dem Ergebnis, dass 70 Prozent der Ostdeutschen für den Erhalt einer souveränen DDR eintraten.
c) Wie groß war der Jubel in Dresden? Das Fernsehen zeigte nur schwer zu quantifizierende Ausschnitte, in den Printmedien war von etwa 100 000 Menschen die Rede. Diese Größenordnung gilt Zeitzeugen als erheblich übertrieben und angesichts der räumlichen Gegebenheiten vor der Frauenkirche als schlichtweg unrealistisch.
Der Kontrast zwischen dem tatsächlichen Ereignis und seiner medialen Darstellung, der Message, so das Fazit, hätte nicht größer sein können. Der Politik war es gelungen, eine noch unentschiedene Realität durch ihre Definition zu gestalten. Wie hoch dieser Erfolg der Veranstaltung in Dresden tatsächlich zu bewerten ist, wird erst im Vergleich mit den Berliner Auftritten des Bundeskanzlers deutlich.
Unwägbarkeiten und Risiken: Berlin
Es ist das Geschäft professioneller Politik, die öffentliche Kommunikation nicht dem Zufall zu überlassen. Dem steht die Freiheit der Medien gegenüber, immer auch nach ihren eigenen Selektionskriterien verfahren zu können und damit gegebenenfalls die Intentionen der Politik zu unterlaufen. Dies war beim Berliner Auftritt des Bundeskanzlers am 10. November 1989 der Fall, der eine ebenso einfache wie Erfolg versprechende Übung zu werden schien. Es galt, die nach dem Mauerfall um die Welt gehenden Bilder friedlich feiernder Menschen als Kristallisationspunkt für eine deutschlandpolitische Interpretation der Ereignisse zu nutzen. Hierzu absolvierte Kohl drei Auftritte: erstens vor dem Schöneberger Rathaus, zusammen mit dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper, Altbundeskanzler Willy Brandt und Außenminister Hans-Dietrich Genscher, zweitens vor der Gedächtniskirche auf einer Veranstaltung seiner Partei und drittens ein "Bad in der Menge" am Grenzübergang Checkpoint Charlie.
Interessanterweise konzentrierte sich die Wahrnehmung der Medien ausschließlich auf die Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus, auf der Kohl ausgepfiffen wurde. Auf diese Weise wurden weltweit folgende Informationen transportiert: Erstens gibt es in der Bundesrepublik keine einheitliche Position zum Fall der Mauer, vielmehr offerieren vier prominente Redner vier deutlich voneinander abweichende Interpretationen. Zweitens wird die Position von Bundeskanzler Kohl vom deutschen Publikum nicht geteilt. Stattdessen wird die vom nationalen Pathos am weitesten entfernte Position des Regierenden Bürgermeisters - der den Mauerfall als Befreiungsakt von Bürgern interpretiert, die sich das Recht genommen haben, ihr Land selbst zu gestalten - von Publikum und Kommentatoren goutiert. Ein größeres Desaster war für den Bundeskanzler kaum vorstellbar. Drei Fragen schließen sich an: Gibt es eine Wahrheit des Ereignisses? Warum war Momper erfolgreich, Kohl aber nicht? Und gab es ein vergleichbares Risiko in Dresden?
a) Die Wahrheit des Mauerfalls ist so vielfältig wie das Kaleidoskop der Ereignisse und das Erleben der Menschen. Politik operiert demgegenüber mit pointierten Definitionen, um eigene Ziele voranzutreiben und sich von Konkurrenten abzusetzen. Insofern waren alle an diesem Tag deklarierten Wahrheiten - Mompers "Freude des Wiedersehens", Brandts "Gefühl der Zusammengehörigkeit" und Kohls "Manifestation des Einheitswillens" - falsch in ihrem Anspruch, das Ereignis adäquat zu beschreiben, richtig aber in dem Versuch, Orientierung zu bieten und Meinung zu bilden.
b) Warum aber konnte sich Momper durchsetzen? Zunächst war der Nachrichtenwert der Schöneberger Veranstaltung aufgrund von Prominenz und Rabatz höher als derjenige der anderen Auftritte. Schon dadurch hatte Kohl de facto verloren. Dass die Medien dazu noch "ostpolitisch" dachten, Pfiffe als Antwort auf nationales Pathos ein gute, verbreitungswürdige Nachricht waren und Mompers Slogan sich darin bestens einfügte, kam ergänzend hinzu.
c) Wie riskant war die Inszenierung in Dresden? Zwei Szenarien hatten in Dresden das Potential, die politische Intention des Kanzleramts zu konterkarieren: Massive Gegendemonstrationen suchte man bereits durch die Wahl eines von Berlin entfernten Verhandlungsortes zu begegnen - ganz auszuschließen waren sie jedoch nicht. Völlig unkalkulierbar blieben die gerade in diesen Wochen eskalierenden Auseinandersetzungen innerhalb der Bürgerbewegung. Bildberichte über tumultartige Szenen anlässlich eines öffentlichen Auftritts des Bundeskanzlers hätten den Vorwurf bekräftigt, dass Bonn die ohnehin schon explosive Lage anheize und in unverantwortlicher Weise eine Destabilisierung an der Schnittstelle des Ost-West-Konflikts heraufbeschwöre. Nur wenige Bildausschnitte hätten ausgereicht, die Kohl'sche Inszenierung drastisch zu konterkarieren. Tatsächlich gab es am Besuchstag nur einige Rangeleien am Rande, die den Medien nicht weiter aufgefallen sind. Dem schließlich veröffentlichten Bild eines um Gegenpositionen bereinigten Einheitsjubels wohnte eine deutliche Portion glücklichen Zufalls inne.
Retrospektive Inszenierung: Mythos Dresden
Mit der Erzählung der Printmedien war die aktuelle Wirkungsgeschichte des Besuchs in Dresden abgeschlossen. Es folgten die retrospektiven Erzählungen, die bis heute die Erinnerung der Ereignisse prägen.
Die Erzählungen der Biografen. Die Darstellungen der beteiligten Akteure wiederholen die Erzählungen der Printmedien und reichern sie mit Anekdoten an.
Werden die biografischen Texte über "Dresden" nur leicht durch eine Synopse der in ihnen erzählten Motive komprimiert, man könnte auch sagen: verfremdet, schärft das den Blick für Archetypen aus der Heldenliteratur, auf welche die Autoren bewusst oder unbewusst zurückgegriffen haben. Die auf diese Weise aus den Biografien destillierte Essenz ergibt eine geradezu mythisch anmutende Erzählung in sieben Schritten. Erstens. Das Treffen in Dresden diente nicht dazu, Probleme zu erörtern, Auseinandersetzungen zu führen oder Lösungen zu finden - es ist der Kanzlerbesuch, ein gemeinschaftlich-familiäres Ereignis der Rückkehr des Patriarchen in sein Reich. Zweitens. Seine Ankunft ist von der Spannung bestimmt, wie sein Volk ihn aufnehmen wird. Die Schilderung seines Einzugs in die Stadt, seiner Fahrt durch die von Fähnchen schwenkenden Menschen umsäumten Straßen, besitzt biblische Qualitäten. Drittens. Der Kanzler ist tief berührt und möchte sofort zu seinem Volk, ist aber diszipliniert genug, die Formen des Protokolls zu wahren und seinen Pflichten nachzugehen. Insgeheim lässt er Vorbereitungen für eine Rede treffen. Viertens. Der Kanzler stellt sich vor sein Volk, das ihn als Retter feiert, während er mahnt, geduldig abzuwarten. Der glückliche Höhepunkt: Der Kanzler weint, seine Mitarbeiter liegen sich in den Armen und sein Volk wiegt sich in einem Meer aus Tränen und Hoffnung. Fünftens. Der Kanzler muss sein Volk vorübergehend wieder verlassen. Durch die Ereignisse tief berührt, entschließt er sich, die Einheit des Landes jetzt ohne Wenn und Aber zu verfolgen. Sechstens. Der noch nötigen Kooperation mit dem Gegner haftet etwas Unlauteres an. Aber der Kanzler ist deshalb entschuldigt, weil er sich in dieser Situation über seine wirklichen Ziele klar wurde. Siebtens. Seinem Gegner weist er die Rolle des vorübergehend noch benötigten Verwalters zu, der seine Arbeit zu verrichten und seine Pflicht zu tun hat. Sollte er aber versuchen, darüber hinauszugehen, wird ihn der Bann treffen.
Soweit die Mythologie der Biografen. Ein Erkenntnisgewinn, der den Fakten stand hält, ist ihnen kaum zu entnehmen.
Die Erzählung der Zeitgeschichte. Von der wissenschaftlichen Zeitgeschichtsforschung wäre zu erwarten gewesen, dass sie die retrospektive Verdopplung der Inszenierung durch die Biografen durchbricht. Stattdessen setzt sie diese geradezu eins zu eins um und fügt den Motiven noch ein weiteres hinzu: das Motiv vom Schlüsselerlebnis des Kanzlers. Das Erlebnis des Dresdener Jubels soll den bevorstehenden Kurswechsel der Bundesregierung im Januar 1990 erklären: Modrows Zurückweisung als Partner einer Vertragsgemeinschaft sowie die Aufgabe einer langsamen und stufenweisen Vereinigungsperspektive zugunsten eines schnellen Beitritts der DDR zur Bundesrepublik. Der Zeitpunkt des Kurswechsels wird sehr präzise bestimmt: "Angesichts des überwältigenden Zuspruchs aus der DDR-Bevölkerung wurde Kohl nach dem Verlassen des Flugzeuges in Dresden-Klotzsche klar, dass seine bisher längerfristig angelegte (...) Vereinigungspolitik einer sehr viel konkreteren Vereinigungsplanung (...) weichen musste."
Die politische Situation im Januar 1990 war schwierig, denn unüberbrückbare Widersprüche trafen aufeinander: auf der einen Seite die Notwendigkeit einer Kooperation mit Modrow, um dem anhaltenden Weggang der DDR-Bürger in den Westen etwas entgegenzusetzen; auf der anderen Seite die Notwendigkeit, eben diese Kooperation aufzugeben, um überhaupt einen polarisierenden Wahlkampf für die nahende Volkskammerwahl führen zu können. Beide Linien - die erste wurde durch den Bundeskanzler vertreten, die zweite durch die Parteivorstände von Union und Liberalen - erforderten jeweils klare, öffentlichkeitswirksame Signale. Ein Politikmix nach Dresdener Muster - hier die Substanz, dort das Symbol - war hier nicht möglich; es galt, sich zu entscheiden.
Kohl, der noch bis zum Abend des 15. Januar 1990 an einer Kooperation mit Modrow festhielt, unterlag am nächsten Morgen der in der Bonner Koalitionsrunde vertretenen Wahlkampflogik. Es folgten zwei konfuse Wochen, bis sich Kohl und Finanzminister Theo Waigel dazu entschlossen, nicht nur Modrow, sondern auch das Konzept einer "Vertragsgemeinschaft ohne Modrow" fallen zu lassen, den sozialdemokratischen Vorstoß für eine Währungsunion aufzugreifen, ihn gegen den liberalen Koalitionspartner durchzusetzen und damit den Weg in eine schnelle de-facto-Einheit einzuschlagen. Das Währungsangebot - verbunden mit dem Versprechen blühender Landschaften - zerschlug den gordischen Knoten: Es war wahlkampfkompatibel, ein deutliches Signal gegen den Exodus und ein unumkehrbarer Schritt zur Einheit. Alle diese Etappen - von der Aufgabe Modrows bis zum Währungsangebot - beruhten auf der ausgesprochen schwierigen Entscheidungslage im Januar 1990. Nur: Mit den Ereignissen in Dresden hatten sie nichts zu tun.
Die von der Zeitgeschichte angebotene "Erklärung" dieses politischen Kurswechsels hat an die Stelle strategischer Planung, taktischer Manöver und machtpolitischer Auseinandersetzungen die Emotionen der Akteure- Richard Sennett würde sagen: Intimität