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Die DDR im Blick der Stasi 1989 | 1989 | bpb.de

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Die DDR im Blick der Stasi 1989

Daniela Münkel

/ 17 Minuten zu lesen

Die Stasi hat der SED-Führung über die eskalierenden Probleme berichtet. Im Sommer war die Entwicklung so weit fortgeschritten, dass die Herrschaft der SED nicht mehr stabilisiert werden konnte.

Einleitung

Alle Unzulänglichkeiten, manchmal von ganz kleinen Dingen nur bis zu den größten, haben wir gemeldet. Wir haben die ganzen Schwierigkeiten aufgezeigt, die entstehen mit der Republikflucht, mit dem Verlassen der Republik. Wir haben aufgezeigt, wie viele Ärzte die Republik verlassen, haben aufgezeigt, wie viele Lehrer die Republik verlassen. Wir haben, Genossen, ich weiß nicht, soll ich hier die Wahrheit sagen oder nicht, berichtet über diese ganzen Fragen. Wir haben Vorschläge gemacht an die Stelle, der ich verpflichtet bin als Minister für Staatssicherheit zu berichten, an die betreffenden Genossen, die ein bestimmtes Arbeitsgebiet haben. Die haben die Fragen bekommen, für die sie zuständig sind (...). Wir haben auf vieles aufmerksam gemacht (...). Das Einzigste ist, dass vieles, was wir gemeldet haben, nicht immer berücksichtigt wurde und nicht eingeschätzt wurde."


Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, gab in seiner berühmt gewordenen Rede vor der Volkskammer am 13. November 1989 nicht nur über das Berichtswesen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Auskunft, sondern brachte auch seine (möglicherweise gespielte) Verärgerung darüber zum Ausdruck, dass die Berichte sowie die vom MfS unterbreiteten Handlungsoptionen von Erich Honecker und den anderen Mitgliedern der politischen Führung zu oft ignoriert worden seien.

Honecker dagegen bemühte sich, den Wert der Stasi-Berichterstattung nachträglich klein zu reden. Er verstieg sich nur wenige Monate nach seiner Entmachtung zu folgender Aussage: "Ich möchte sagen, dass ich fast alle Informationen des MfS gelesen habe. Da möchte ich sagen, dass die Berichte vom MfS, soweit sie nicht also von der geheimen Front stammten, doch mir erschienen als eine Zusammenfassung der Veröffentlichungen der westlichen Presse über die Deutsche Demokratische Republik. Und ich selbst habe auch diesen Berichten wenig Beachtung geschenkt." Wie viel Beachtung Honecker den Berichten tatsächlich geschenkt hat, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Tatsache ist jedoch, dass ihm zahlreiche Berichte vom MfS vorgelegt wurden und er seine Kenntnisnahme mit seiner Paraphe bestätigte.

Nach einem kurzen Abriss der Entwicklung des MfS-Berichtswesens sollen im Folgenden die "Informationen" des Jahres 1989 betrachtet werden, in denen sich die finale Krise der DDR spiegelt. Worüber informierte die Staatssicherheit die politische Führung? Welche Ursachen für die krisenhafte Entwicklung identifizierte sie? Ist eine Rezeption der Berichte durch die Parteiführung erkennbar? Angesichts des begrenzten Raumes können diese Fragen nur schlaglichtartig beleuchtet werden - die zu treffenden Schlussfolgerungen basieren jedoch auf einer breiten Materialbasis, die über den hier beleuchteten Berichtsjahrgang hinausgeht.

Das Berichtswesen der Staatssicherheit

Eine Konsequenz des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 war die Schaffung eines detaillierten nachrichtendienstlichen Berichtssystems, das die Partei- und Staatsführung über die sicherheitspolitische Lage in der DDR informieren sollte. Das Berichtswesen der DDR-Staatssicherheit unterlag zwischen 1953 und 1989 mannigfaltigen Veränderungen: Dies gilt für den Aufbau und den Charakter der Berichte ebenso wie für den organisatorischen Rahmen ihrer Entstehung. Die Berichte, die 36 Jahre lang in unterschiedlichen Formen und Frequenzen angefertigt wurden, offenbaren den spezifischen Blick des MfS auf und in die DDR: Hinweise auf vermeintliches oder wirkliches oppositionelles Verhalten sind dort ebenso zu finden wie Ausführungen über die Problemlagen in Wirtschaft und Versorgung sowie Statistiken zum Devisenumtausch, zu Ausreise- und Fluchtfällen. Scheinbar Triviales steht neben den größeren und kleineren "Schwierigkeiten", die sich bei der Etablierung und Aufrechterhaltung der SED-Herrschaft und dem Aufbau des real existierenden Sozialismus ergaben. Es entfaltet sich ein breitgefächertes Spektrum, eine Art Tiefenbohrung in die DDR-Gesellschaft, geprägt von einer geheimdienstlichen Sicht, die vor allem darauf bedacht war, politisch abweichendes Verhalten und sicherheitsrelevante Probleme aufzudecken und zu neutralisieren.

Der Wert dieser Berichte als historischer Quelle ist ambivalent. Die unterschiedlichen Schwerpunkte, welche die Staatssicherheit in ihrer Berichterstattung über die Jahrzehnte hinweg setzte, spiegeln in komprimierter Form objektive Problemlagen von Gesellschaft, Politik und Ökonomie wider. Gleichzeitig offenbaren sie aber einen spezifischen Tunnelblick und ideologisch bedingte Wahrnehmungsverzerrungen. Insofern sind diese Berichte auch als Zeugnisse einer politisch-ideologischen Selbstvergewisserung zu verstehen. All dies schmälert nicht ihren Wert, muss aber bei der Interpretation berücksichtigt werden.

Bei den geheimen Berichten der Staatssicherheit an die SED-Führung handelt es sich - mit Ausnahme der Jahre bis 1957 - in erster Linie nicht um allgemeine Stimmungs- und Lageberichte. Beim Gros der Texte geht es um Meldungen von Einzelvorkommnissen, den so genannten "Informationen". Die Stasi professionalisierte im Laufe der Jahrzehnte ihr Informationssystem, was der empirischen und analytischen Qualität der Berichte zugute kam.

Rezeption der ZAIG-Berichte

Im Jahr 1989 fertigte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) im MfS 239 Inlandsberichte ("Informationen") für die Staats- und Parteiführung der DDR an. Ab Mitte November 1989 erfolgte dies unter der neuen Bezeichnung "Amt für nationale Sicherheit", vier Wochen später unter dem Label "Verfassungsschutz der DDR". Darüber hinaus wurden bis zum 24. November 1989 zu unterschiedlichen Anlässen 21 Berichte über die Stimmungslage in der Bevölkerung verfasst, die vor allem zum internen Gebrauch für die oberste MfS-Führungsriege - den Minister, seine Stellvertreter sowie einzelne Hauptabteilungsleiter - bestimmt waren. Angesichts der sich zuspitzenden Lage im Laufe des Jahres 1989 wurden diese Stimmungsberichte in einigen Fällen auch dem jeweiligen SED-Chef zur Kenntnis gegeben.

Erich Honecker erhielt 1989 bis zu seiner Entmachtung im Oktober 50 Inlandsberichte der ZAIG zur Kenntnis. Von den Stimmungsberichten wurde ihm lediglich einer über die "Reaktion der Bevölkerung" auf das "Neue Forum" vom 13. Oktober 1989 vorgelegt. Durch handschriftliche Vermerke auf den Berichten lässt sich feststellen, dass Honecker die ihm zugänglich gemachten "Informationen" zur Kenntnis genommen hat. Die meisten der von der ZAIG im Jahr 1989 verfassten "Informationen" (94) wurden an Egon Krenz - zunächst in seiner Funktion als ZK-Sekretär (u.a. für Sicherheitsfragen), dann als Generalsekretär der SED - weitergeleitet. Im Gegensatz zu Honecker bekam Krenz in seiner kurzen Amtzeit als erster Mann im Staate alle von der ZAIG verfassten Berichte zu Gesicht. Gleiches gilt später für den DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow.

Ein Abgleich mit den Protokollen der Politbürositzungen des Jahres 1989 lässt nur einen einzigen unmittelbaren Bezug zur Stasi-Berichterstattung erkennen: So wurden Informationen über geplante Aktivitäten von Oppositionellen zur Kommunalwahl am 7. Mai 1989 im höchsten Parteigremium besprochen. In zahlreichen weiteren Fällen lässt sich jedoch immerhin ein indirekter Zusammenhang rekonstruieren: So wurden in der Stasi-Berichterstattung Themen, die im Politbüro bereits behandelt worden waren, im Nachhinein ausführlich bearbeitet sowie die Reaktion der Bevölkerung auf Politbürobeschlüsse bzw. deren Auswirkungen erörtert und analysiert. Wie kaum anders zu erwarten, lagen im Jahr 1989 die Schwerpunkte auf den Themen Opposition, Kirche, Ausreise sowie ab Oktober auf den politischen Umwälzungen. Hinzu kam die direkte Unterrichtung Honeckers durch Mielke in Vieraugengesprächen. Solche Gespräche haben später auch zwischen Krenz bzw. Modrow und dem neuen Chef des nun so genannten "Amtes für nationale Sicherheit", Wolfgang Schwanitz, stattgefunden.

Was wusste die Stasi?

Ohne dem Mythos von der "Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit" der Stasi in der DDR das Wort reden zu wollen, lässt sich schon allein aufgrund der ZAIG-Berichte nicht von der Hand weisen, dass die Staatssicherheit sehr präzise über die Situation in der DDR, die Stimmung der Bevölkerung, die expandierende Oppositions- bzw. Ausreisebewegung sowie die Dynamik der Entwicklung im Bilde war. Diese Informationen gingen jedenfalls weit über die - von Honecker ins Feld geführten - Veröffentlichungen der "Westmedien" hinaus.

Im Vergleich zur früheren Informationspraxis weist die Stasi-Berichtstätigkeit von 1989 sowohl Kontinuitäten als auch Brüche auf. Überraschend sind zunächst die Kontinuitäten, die eine nicht mehr existente "Normalität" suggerieren. Trotz innerer Auflösungserscheinungen und Umstrukturierungen des MfS sowie Problemen mit dem Netz Inoffizieller Mitarbeiter (IM) berichtete die ZAIG bzw. deren auf "Auswertungs- und Informationstätigkeit" reduzierte Nachfolgeabteilung bis Ende Dezember 1989 kontinuierlich und teilweise in den eingefahrenen Bahnen weiter. Dies ging soweit, dass noch am 7. November 1989, zwei Tage vor dem Mauerfall, die quartalsmäßige Statistik zum "grenzüberschreitenden" Verkehr vorgelegt wurde. Am 5. Dezember 1989 schließlich wurde eine "Information" über die Besetzung von Bezirks- und Kreisämtern der Staatssicherheit in einem relativ sachlichen, fast schon unbeteiligten Ton verfasst: Am Vortag hätten sich "in mehreren Bezirken und Kreisen Kräfte von Bürgerbewegungen (...) Zutritt zu Dienstobjekten" verschafft, "wobei die geordnete Dienstdurchführung erheblich beeinträchtigt wurde".

Jenseits dieser scheinbaren "Normalität" in der Berichterstattung fallen einige Besonderheiten auf. So erhöhte sich die Berichtsfrequenz ab September 1989, im Oktober wurde sogar zeitweise mehrmals täglich berichtet. Die Themenschwerpunkte lagen bei den Kirchen (35 "Informationen") und den neuen Oppositionsgruppen (57 "Informationen"). Fragen zu Problemen von Wirtschaft (sechs "Informationen") und Umwelt (vier "Informationen") treten demgegenüber und im Vergleich zu anderen Berichtsjahren stark in den Hintergrund.

Die Informationen, welche die Staatssicherheit verarbeitete, stammten aus offiziellen Informationsquellen, Berichten Inoffizieller Mitarbeiter oder Abhöraktionen. Darüber hinaus wurden auch Informationen aus "Westmedien" ausgewertet. Formulierungen wie nach "streng internen Hinweisen" oder "die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt" deuten darauf hin, dass die entsprechenden Informationen durch IM oder mit anderen geheimdienstlichen Mitteln erworben worden sind. Bemerkenswert ist, dass der Staatssicherheit solche Informationsquellen noch bis zum Ende der Berichtstätigkeit zur Verfügung standen, obwohl das IM-Netz während des Herbstes 1989 besonders schnell erodierte.

Im ersten Halbjahr 1989 dominierten in den Berichten über die oppositionellen Bestrebungen die Kirchen sowie die Konflikte zwischen Kirchenleitung und Gemeinden, unter deren Dach sich immer mehr Menschen zusammenfanden, die ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verliehen. Die Staatssicherheit wusste nicht nur sehr genau, wer sich wo traf und welche Personen die Wortführer waren, sie wusste auch um Strategien, Aktionen und Konflikte.

In der zweiten Jahreshälfte 1989, als die Oppositionsbewegung allmählich das Schutzdach der Kirchen verließ und den öffentlichen Raum eroberte, veränderten sich auch die Schwerpunkte in den "Informationen" des MfS. Ein erstes wichtiges Ereignis war die Kommunalwahl am 7. Mai 1989. Erstmals wurde öffentlich die Kandidatenaufstellung sowie die Durchführung der Wahl scharf kritisiert und eine Demokratisierung gefordert. Am Wahltag gingen Oppositionelle als Beobachter in zahlreiche Wahllokale und machten kurz darauf die Wahlfälschung öffentlich. Die Staatssicherheit berichtete in einer "Information" vom 25. April 1989 über geplante Aktivitäten "feindlicher, oppositioneller Kräfte" gegen die Kommunalwahl. Einen Tag nach der Wahl verfasste das MfS eine "Information", welche "Vorkommnisse" aus der gesamten DDR detailliert auflistete.

Am 30. Mai 1989 legte die Staatssicherheit der Parteiführung einen langen Bericht über die diversen Oppositionsgruppen und deren führende Protagonisten vor. Zu diesem Zeitpunkt, so die zutreffende Einschätzung der Stasi, war die Opposition in der DDR noch relativ überschaubar: "Es ist einzuschätzen, dass die politischen, ideologischen und subversiven gegnerischen Einwirkungen sowie die von der aktuellen Lageentwicklung in einigen sozialistischen Ländern ausgehenden Einflüsse unter Teilen der Bevölkerung der DDR gewisse Wirkungen erzielen. Sie zeigen sich insbesondere im Vorhandensein (überschaubarer und unter staatlicher und gesellschaftlicher Kontrolle stehender) personeller Zusammenschlüsse, entsprechender Gruppierungen und Gruppen."

In den "Informationen" der nächsten Monate spiegelt sich die Dynamik, welche die Oppositionsbewegung in der DDR entwickeln sollte. Bereits ab Juni ist mehrmals wöchentlich von Demonstrationen, Zusammenkünften, Flugblattaktionen und Ähnlichem die Rede. Auch als die Demonstrationen im Oktober einen Qualitätssprung vollzogen und das Machtmonopol der Partei in Frage stellten, berichtete die Stasi weiter - gleichsam routinemäßig - von Teilnehmerzahlen, Ablauf und Parolen, ohne den erfolgten Dammbruch zu thematisieren.

Ab September 1989 rückte die weitere organisatorische Entwicklung der Oppositionsbewegung, speziell des "Neuen Forums", in den Mittelpunkt des Interesses des MfS. Die Staatssicherheit war in jedem Stadium bestens über den Stand der Dinge informiert und berichtete darüber an die Partei- und Staatsführung. Am 17. Oktober 1989 hieß es beispielsweise: "Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen setzt sich der Prozess der DDR-weiten Propagierung und Formierung oppositioneller Sammlungsbewegungen weiter fort. (...) Streng internen Hinweisen zufolge halten die Führungskräfte des Neuen Forums an der Zielstellung fest, einen legalen Status zu erlangen. Durch die weitere Erhöhung der Mitgliederzahlen und die Schaffung funktionsfähiger Organisationsstrukturen soll der Staat vor vollendete Tatsachen gestellt werden." Es folgte eine ausführliche Darlegung der geplanten Schritte des "Neuen Forums".

Einen weiteren Brennpunkt bildete die Ausreisebewegung. Hier konzentrierte sich das MfS ab September 1989 nicht mehr nur darauf, die Tatsache einer massenhaften Ausreise von DDR-Bürgern zu konstatieren, sondern setzte sich nunmehr dezidiert mit den Gründen und vor allem den Folgen für die DDR auseinander. In "allen Bevölkerungskreisen" sei die Meinung verbreitet, "dass man angesichts der Massenflucht von DDR-Bürgern, der hohen und offenbar weiter steigenden Anzahl von Antragstellungen auf ständige Ausreise und damit verbundenen Ausreisen und der Entwicklung des ungesetzlichen Verlassens der DDR, insbesondere unter Ausnutzung des Reiseverkehrs, Angst vor der Zukunft haben müsse. Es sei zu befürchten, dass sich dadurch die vorhandenen Probleme in der DDR weiter zuspitzen und es zu einer weiteren Verschlechterung der Stimmungslage der Bevölkerung komme."

Ein Novum in der Stasi-Berichterstattung nach der Entmachtung Honeckers war, dass die Kritik der Bürger an der politischen Führung und deren Handeln jetzt ganz ungeschminkt wiedergegeben wurde. So heißt es in einem Bericht vom 21. Oktober 1989, dass der Rücktritt von Honecker "als zu spät erfolgt bewertet" werde und die "Wahl des Gen. Krenz als Generalsekretär" in "beachtlichem Umfang" auf "Ablehnung" stoße.

Ursachenermittlung

Die Staatssicherheit versuchte in ihrer Berichterstattung auch den Ursachen für die Unzufriedenheit der breiten Masse der DDR-Bevölkerung, die Ausreisewelle und das Erstarken der Oppositionsbewegung auf den Grund zu gehen. Dabei sind zwei widersprüchliche Argumentationsebenen auszumachen: erstens eine ideologisch geprägte Deutung, welche die Entwicklung auf die subversive Beeinflussung durch den Westen zurückführte; zweitens eine relativ nüchterne Ursachenanalyse, welche die Gründe in grundlegenden Defiziten der DDR suchte. Hier ist ein qualitativer Unterschied zu den vorangegangenen Berichtsjahrgängen festzustellen. Gründe für Unzufriedenheit wurden zwar auch früher schon benannt, allerdings in der Regel nur auf einzelne, zeitlich oder sektoral begrenzte Problemkomplexe zurückgeführt.

Das erstgenannte Argumentationsmuster hat dagegen eine lange Tradition in der Staatssicherheit, es dominiert sowohl in den Berichten an die politische Führung als auch in der internen Informationstätigkeit. Ein typisches Beispiel für diese Deutung findet sich in der "Information" vom 30. Mai 1989 über die "aktuelle" Entwicklung der Oppositionsbewegung: "Seit Beginn der 80er Jahre anhaltende Sammlungs- und Formierungsbestrebungen solcher Personen, die sich die Aufweichung, Zersetzung und politische Destabilisierung bis hin zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR zum Ziel setzen, führten zur Bildung entsprechender Gruppierungen und Gruppen. (...) In der DDR akkreditierte Korrespondenten und Mitarbeiter diplomatischer Vertretungen (darunter als Diplomaten abgedeckte Geheimdienstmitarbeiter) aus nicht sozialistischen Staaten, insbesondere aus der BRD, den USA und aus Großbritannien, nehmen in diesem Prozess einen maßgeblichen Stellenwert ein. Sie inspirieren feindliche, oppositionelle Kräfte und personelle Zusammenschlüsse zu antisozialistischen Aktivitäten, gewähren ihnen fortlaufend Unterstützung und popularisieren diesbezügliche Handlungen mit dem Ziele, solche Personen und Zusammenschlüsse unter den Schutz der internationalen Öffentlichkeit zu stellen."

Letzteres ist zwar nicht von der Hand zu weisen, und die Bürgerrechtler nutzten die Medien der Bundesrepublik angesichts einer nicht vorhandenen pluralen und unabhängigen medialen Öffentlichkeit in der DDR nicht nur, um auf ihre Aktivitäten und Ziele aufmerksam zu machen, sondern auch, um sich vor staatlicher Repression zu schützen. Die DDR-Opposition aber auf ein Produkt westlichen Einflusses zu reduzieren, wie es dem Konstrukt der "politisch-ideologischen Diversion" entsprach, war in den späten 1980er Jahren teilweise selbst der Stasi zu einfach und wird von ihr durch Feststellungen konterkariert, die auch auf autochthone Faktoren verweisen. Auffällig ist dennoch, dass die Staatssicherheit ab September 1989, also in der Phase der beschleunigten Erosion des Regimes, wieder verstärkt in traditionelle Deutungsmuster zurückfällt. Selbst nach dem Mauerfall sieht das "Amt für nationale Sicherheit" noch überall Fernsteuerung durch den Westen.

Eine solche Sichtweise entsprach den Prägungen der Leitungskader in MfS, Staatsapparat und SED, die in ihrer Mehrheit in der Hochzeit des Kalten Krieges politisch und beruflich sozialisiert worden waren. Hinzu kamen die Beharrungskraft kommunistischer Glaubensgewissheiten und die Aktualisierung des auf den Juni-Aufstand 1953 zurückgehenden Traumas. Vor diesem Hintergrund ist auch zu erklären, warum die Benennung der politischen und gesellschaftlichen Ursachen für die Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung primär in der MfS-internen Berichterstattung zu finden ist. Offenbar erinnerte sich Mielke noch sehr genau an den Vorwurf Walter Ulbrichts von 1957, durch die Berichte der Staatssicherheit werde "die Hetze des Feindes legal verbreitet", und wollte auch Honecker keine allzu kritischen Darstellungen zumuten.

Entkleidet man die Lage- und Stimmungsberichte der gängigen berichtsimmanenten Floskeln, welche die Maßnahmen des SED-Regimes positiv bewerten, ergibt sich eine erstaunlich treffende Analyse der Problemlagen der DDR-Gesellschaft: "Vor allem an der bedarfs-, sortiments- und qualitätsgerechten Bereitstellung von Waren, insbesondere von Konsumgütern und Ersatzteilen, wird die Leistungskraft der Volkswirtschaft gemessen. Sie wird immer mehr zum Kriterium für die Beurteilung der Attraktivität des Sozialismus im Vergleich zum Kapitalismus. (...) Den absoluten Schwerpunkt von Meinungsäußerungen zur Versorgungslage bildet das hinsichtlich des Umfangs, der Sortimentsbreite und Qualität als völlig unzureichend empfundene Warenangebot bei Konsumgütern, insbesondere bei Schlafraum-, Küchen-, Kinder- und Polstermöbeln, elektrischen Nähmaschinen, Tiefkühlschränken, Farbfernsehgeräten außer , Colortron, hochwertigen Rundfunkempfängern und Radiorecordern sowie modischer Damen- und Herrenkonfektion (...), Damen- und Herrenschuhen, Untertrikotagen für Damen, Herren und Kinder, Sortimenten 1000 kleine Dinge, Baustoffe und -materialien (...), kosmetischen Erzeugnissen, vor allem im Sortiment dekorativer Kosmetik (Lippenstift, Nagellack, Lidschatten) und bei Hautcremes, Ersatzteilen für technische Haushaltsgeräte (...) und Pkw."

Auch im Zusammenhang mit der Ausreisewelle zeichnet das MfS im September 1989 ein recht schonungsloses Bild: "Die Vorzüge des Sozialismus, wie z.B. soziale Sicherheit und Geborgenheit, werden zwar anerkannt, im Vergleich mit auftretenden Problemen und Mängeln jedoch als nicht mehr entscheidende Faktoren angesehen. (...) Als wesentliche Gründe/Anlässe für Bestrebungen zur ständigen Ausreise bzw. des ungesetzlichen Verlassens der DDR (...) werden angeführt: Unzufriedenheit mit der Versorgungslage; Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen; Unverständnis für Mängel in der medizinischen Betreuung und Versorgung; eingeschränkte Reisemöglichkeiten innerhalb der DDR und nach dem Ausland; unbefriedigende Arbeitsbedingungen und Diskontinuität im Produktionsablauf; Unzulänglichkeiten/Inkonsequenz bei der Anwendung/Durchsetzung des Leistungsprinzips sowie Unzufriedenheit über die Entwicklung der Löhne und Gehälter; Verärgerung über bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe, Betriebe und Einrichtungen sowie die Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern; Unverständnis über die Medienpolitik der DDR."

In internen Berichten ist ab September 1989 sogar grundlegende Kritik an der Partei wiedergegeben: Es "zeichne sich ein wachsender Vertrauensschwund zwischen Partei und Volk ab", und es "werde an Problemen vorbeigeredet. Auf konkrete Fragen gebe es keine Antwort bzw. kritische Diskussionen würden mit dem Hinweis auf die Parteidisziplin abgewürgt."

Fazit

Die Berichte der Staatssicherheit aus dem Jahr 1989 zeugen von einer guten Informationslage der Geheimpolizei in der finalen Phase der SED-Herrschaft. Die sich zunächst im engen Rahmen und dann auf breiter Basis formierende Oppositionsbewegung, die Ausreisewelle, die Kritik der Bevölkerung am SED-Regime und seinem Führungspersonal im Allgemeinen sowie an den Versorgungslücken im Konsum- und Arbeitsbereich im Speziellen sind ausführlich dokumentiert. Als Reaktion auf die sich zuspitzende Situation im Land formulierte das MfS darüber hinaus Handlungsempfehlungen für die politische Führung, die auf eine Doppelstrategie hinausliefen: einerseits Fortführung und Verstärkung der bereits seit langem praktizierten Zersetzungs- und Manipulationstaktik gegenüber der politischen Opposition, andererseits Reduktion von Missständen und begrenzte Zugeständnisse zur Entschärfung der Lage.

Dies heißt allerdings nicht, dass daneben nicht ebenfalls Szenarien einer gewaltsamen Niederschlagung der aufkeimenden revolutionären Bewegung theoretisch durchgespielt wurden. Letztlich wird deutlich, dass es dem MfS trotz der intimen Kenntnisse der Oppositionsbewegung und der weithin zutreffenden Analyse der Bevölkerungsstimmung nicht gelang, sich von ideologisch festgefahrenen Interpretationsmustern zu verabschieden.

Erich Mielkes Behauptung: "Alle Unzulänglichkeiten, manchmal von ganz kleinen Dingen nur bis zu den größten, haben wir gemeldet" - kann als weitgehend zutreffend angesehen werden, ebenso seine Feststellung, "wir haben Vorschläge gemacht". Das Unvermögen der politischen Führung der DDR, auf die eskalierenden Probleme angemessen zu reagieren, ist nicht auf eine falsche Informationspolitik der Geheimpolizei zurückzuführen, konnte dadurch aber auch nicht behoben werden. Spätestens im Sommer 1989 war die Entwicklung bereits so weit fortgeschritten, dass keine Handlungsalternative mehr geeignet war, die SED-Herrschaft zu stabilisieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Unter dem Titel "Die DDR im Blick der Stasi" erscheint von diesem Jahr an die Edition der geheimen Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit an die SED-Führung, hrsg. von Daniela Münkel im Auftrag der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Göttingen 2009ff. Als erster Band erscheint im Sommer 2009 der Jahrgang 1976, bearbeitet von Siegfried Suckut; es folgt der Jahrgang 1988, bearbeitet von Frank Joestel.

    Redebeitrag von Erich Mielke während der Sitzung der Volkskammer am 13.11. 1989; in: Volkskammer-Protokolle, 9. Wahlperiode, Bd. 25, S. 262f., hier: S. 263.

  2. Reinhold Andert, Wir sind überall. Auskünfte Erich Honeckers. CD, Berlin 2005.

  3. Zu Veränderungen von Aufbau und Struktur der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) im MfS sowie zur Entwicklung des Berichtswesens vgl. ausführlich Roger Engelmann/Frank Joestel, Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (BStU, MfS Handbuch), Berlin 2009.

  4. Zum Quellenwert von MfS-Unterlagen allgemein vgl. Roger Engelmann, Zum Quellenwert der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Klaus-Dietmar Henke/ders. (Hrsg.), Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin 1995, S. 23-55. Zu den ZAIG-Berichten allgemein vgl. Jens Gieseke, Annäherungen und Fragen an die "Meldungen aus der Republik", in: ders. (Hrsg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 79 - 98.

  5. In Auszügen sind diese Berichte - unkommentiert - bereits am 16. 3. 1990 von Stefan Wolle und Armin Mitter herausgegeben worden. Damals war das Interesse der DDR-Bevölkerung an dieser Quelle enorm - insgesamt wurden 250 000 Exemplare verkauft. Vgl. Armin Mitter/Stefan Wolle (Hrsg.), "Ich liebe euch doch alle!" Befehle und Lageberichte des MfS, Januar-November 1989, Berlin 1990.

  6. Vgl. Bericht O/229 vom 13.10. 1989, BStU, MfS, ZAIG 4260.

  7. Die geringe Anzahl direkt nachweisbarer Bezüge zu einzelnen ZAIG-Berichten in den Sitzungen des Politbüros ist kein Spezifikum des Jahres 1989: So sind für das Jahr 1988 gerade einmal vier direkte Bezugnahmen nachzuweisen. Diese beziehen sich auf Opposition, Ausreise und Kirche bzw. das Verhältnis von Staat und Kirche. Im Jahr 1976 ist sogar nur ein direkter Bezug zu rekonstruieren. Hier handelte es sich um einen Fall von Umweltverschmutzung - durch Mängel bei den ortsansässigen Motorradwerken war es zu massiven Verunreinigungen des Flusses Zschopau gekommen; vgl. Information 672/76 vom 27.9. 1976, BStU, MfS, ZAIG 2569.

  8. Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 9.5. 1989, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), DY 30/J IV 2/2 - 2328; Information 182/89 vom 21.4. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3783.

  9. Vgl. Information 499/89 vom 7.11. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3728.

  10. Information 519/89 vom 5.12. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3815.

  11. Vgl. dazu ausführlich Walter Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 19992, S. 225ff. u. 508ff.

  12. Vgl. dazu ausführlich Hans-Michael Kloth, Vom "Zettelfalten" zu freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die "Wahlfrage", Berlin 2000, S. 115ff.

  13. Vgl. Information 15/89 vom 25.4. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3763. Hier wird über eine Veranstaltung vom 24. 4. 1989 im Gemeindezentrum "Heinrich Gruber", Berlin-Höhenschönhausen, zur Kommunalwahl und den geplanten Aktionen seitens der Opposition berichtet.

  14. Information 229/89 vom 8.5. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3763.

  15. Information 150/89 vom 30.5. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3756.

  16. Vgl. Information 452/89 vom 10.10. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3748.

  17. Information 459/89 vom 17.10. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3801.

  18. Beispielsweise werden in einer längeren "Information" zur Ausreise von Ärzten und anderem qualifizierten medizinischen Personal vom 4. 9. 1989 neben persönlichen Gründen für die Ausreise die Mängel im Gesundheitssystem und der Gesundheitspolitik benannt; vgl. Information 395/89 vom 4.9. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3794.

  19. Bericht O/224 vom 13.9. 1989, BStU, MfS, ZAIG 4256.

  20. Bericht O/230 vom 21.10. 1989, BStU, MfS, ZAIG 4261.

  21. Information 150/89 vom 30.5. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3756.

  22. Vgl. u.a. Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 251.

  23. Vgl. Information 416/89 vom 19.9. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3756.

  24. Vgl. u.a. Information 516/89 vom 30.11. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3814; Information 518/89 vom 2.12. 1989, BStU, MfS, ZAIG 3801.

  25. Vgl. dazu u.a. auch W. Süß (Anm. 11), S. 745.

  26. Vgl. Bericht O/226 vom 8.10. 1989, BStU, MfS, ZAIG 4257.

  27. Vgl. Roger Engelmann/Silke Schumann, Der Ausbau des Überwachungsstaates. Der Konflikt Ulbricht-Wollweber und die Neuausrichtung des Staatssicherheitsdienstes der DDR 1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 43 (1995), S. 341 - 378, hier: S. 357.

  28. Zum Aufbau und Sprachstil der Lage- und Stimmungsberichte des MfS vgl. Uta Stolle, Traumhafte Quellen. Vom Nutzen der Stasi-Akten für die Geschichtsschreibung, in: Deutschland Archiv, 30 (1997), S. 209 - 221.

  29. Bericht O/222 vom 6.6. 1989, BStU, MfS, ZAIG 4255.

  30. Bericht O/225 vom 9.9. 1989, BStU, MfS, ZAIG 4256.

  31. Bericht O/223 vom 22.9. 1989, BStU, MfS, ZAIG 4256.

  32. Ilko-Sascha Kowalczuk interpretiert die Rolle Erich Mielkes zutreffend, aber anders als bisher: "Die Diskussions- und Entwicklungsprozesse seit 1987 zeigten, dass er [Erich Mielke, D.M.] eher für vorsichtige Wandlungen im System plädierte; unnachgiebig gegen Feinde und Gegner vorgehen, aber zugleich offensiv der Gesellschaft neue und attraktive politische Angebote unterbreiten." I.-S. Kowalczuk (Anm. 22), S. 477f.

  33. Vgl. dazu ausführlich W. Süß (Anm. 11), S. 177ff.

Dr. phil. habil, geb. 1962; Projektleiterin in der Forschungsabteilung der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) und Privatdozentin an der Leibniz-Universität Hannover; BStU, 10106 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: daniela.muenkel@bstu.bund.de