Einleitung
Die Überschrift ist beinahe ein Selbstzitat: "Der erste Riss in der Mauer" lautet der Titel meines Buches, das Anfang März 2009 erschienen ist.
Es waren weniger die schieren Zahlen der über Ungarn Flüchtenden als die psychologisch-politischen Auswirkungen der Geschehnisse, welche die DDR erschütterten. Die den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern bald schon wohlbekannte Tatsache, dass Ungarn bereits im Frühling 1989 damit begonnen hatte, den Eisernen Vorhang zu zerschneiden, rüttelte die hinter Mauer und Stacheldraht eingesperrte ostdeutsche Bevölkerung auf. In die Jahrzehnte alte, stark befestigte europäische Trennungslinie war eine Bresche geschlagen worden, und als die ungarische Regierung im September 1989 auch die bis dahin praktizierte Bewachung der Westgrenze aufgab und die auf Ausreise wartenden Massen von DDR-Bürgern ziehen ließ, war auch in Ost-Berlin und Rostock, Leipzig und Magdeburg allen klar: Die Ungarn handelten gegen das Gesamtinteresse der "sozialistischen Gemeinschaft", und die Sowjets unter Michail Gorbatschow nahmen diese Vorgehensweise offenbar nicht nur taten-, sondern auch wortlos hin. Wenn das möglich war, dann musste auch manches andere, selbst kurz zuvor noch Unvorstellbares möglich werden.
Es ist nicht die Absicht dieses Beitrags, den Inhalt meines Buches zusammenzufassen. Außer um die Erkenntnisse, die ich gewonnen zu haben glaube, soll es im Folgenden auch allgemein um Ungarn im Jahr 1989 gehen, und zwar um die Frage, weshalb diesem Land damals, inmitten der ostmitteleuropäischen Gärprozesse, eine Pionierrolle zufiel. Ich möchte sodann auch einige Erfahrungen schildern, die man bei der Forschung macht, bei der Arbeit in den Archiven, wenn man danach strebt, Vorgänge in der Schlussphase des Einparteienstaates zu erhellen. Dabei allerdings steht das heutige Ungarn im Mittelpunkt. Denn der Befund weist über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Historikers hinaus, indem er von den Einschränkungen zeugt, die dem amtlich zugelassenen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit gesetzt sind.
Kurze Geschichte der Grenzöffnung
Die Geschichte der Grenzöffnung zerfällt in zwei Teile, an deren Anfang je ein Beschluss steht. Das Politbüro der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (Magyar Szocialista Munkáspárt/MSZMP) entschied Ende Februar 1989, dass die technischen Hindernisse an der ungarisch-österreichischen Grenze abgebaut werden sollten. Ende August fällte die Regierung - und nicht mehr die mittlerweile praktisch entmachtete Parteispitze - die Entscheidung, die schon hindernisfreie, aber nach wie vor streng bewachte Westgrenze zu öffnen und die ursprünglich als Touristen nach Ungarn gekommenen, hier aber wochenlang ausharrenden, auf eine Fluchtmöglichkeit wartenden Deutschen aus der DDR in die Freiheit zu entlassen.
Der erste Beschluss ergab sich aus einer technisch-wirtschaftlichen Notwendigkeit. Der zweite ergab sich aus dem ersten. Der Reihe nach: Offiziere des ungarischen Grenzschutzes beschwerten sich von Mitte der 1980er Jahre an immer öfter und lauter darüber, dass das mangelhaft funktionierende Signalsystem an der Westgrenze ihr Leben und das ihrer Mannschaften zur Hölle mache. Der Eiserne Vorhang, wie er in Ungarn zuletzt bestand, war eine sowjetische Konstruktion. Die elektrisch geladenen Drähte bedeuteten keine Gefahr für die Menschen, lösten aber in den Quartieren der Wachmannschaften Alarm aus, wenn sie einander berührten oder jemand sie zu durchtrennen versuchte. Die Mannschaften, die auch darüber Informationen erhielten, in welchem Abschnitt die versuchte Grenzverletzung erfolgt war, konnten mit ihren Geländewagen rasch zur Stelle sein. Da der Eiserne Vorhang sich in der Regel rund zwei Kilometer vor der tatsächlichen Grenze befand, hatten sie eine gute Chance, Flüchtende zu stellen.
Ende der 1980er Jahre freilich mussten die ausrückenden Grenzwächter immer öfter zum Schluss kommen, dass ein Vogel oder gar ein Windstoß den Alarm ausgelöst hatte, oder sie stellten fest, dass es sich beim vermuteten Grenzverletzer um einen Feldhasen handelte. Das technisch veraltete System versagte, es hatte ausgedient. Die Frage stellte sich nun, ob man es notdürftig reparieren und durch neuartige und entsprechend kostspielige Grenzbefestigungen ersetzen oder aber ersatzlos entfernen sollte.
Ungarn hatte sein Wirtschaftssystem nach 1968 wiederholt zu reformieren versucht, am Ende aber war hier das Versagen, ja der Bankrott des sozialistischen Modells ebenso offenkundig wie in den anderen "Bruderländern". Erschwerend kam hinzu, dass Ungarn an der Spitze der Pro-Kopf-Auslandsverschuldung im gesamten Ostblock lag. Demgegenüber galt die politisch-gesellschaftliche Atmosphäre, in der die Magyaren lebten, als die freieste im Machtbereich der Sowjetunion. Gewiss herrschte auch hier eine Diktatur, aber die große Freiheit setzt sich überall aus vielen kleinen Freiheiten zusammen, und von letzteren genossen die Ungarn doch bedeutend mehr als etwa ihre Nachbarn in Nicolae Ceau?escus Rumänien oder in der Tschechoslowakei des Gustav Husák.
Zu diesen Freiheiten gehörte die von den DDR-Bürgern heftig beneidete Möglichkeit, Reisen auch in den Westen zu unternehmen. Vom 1. Januar 1988 an stand sogar jedem ungarischen Staatsangehörigen das Recht auf einen Reisepass zu. Was also sollte der Eiserne Vorhang noch bewirken, wo doch die eigenen Landsleute jederzeit legal ausreisen konnten? Die Statistik sprach eine immer deutlichere Sprache: Jene, die bei illegalen Versuchen des Grenzübertritts ertappt wurden, waren zuletzt beinahe ausschließlich Ausländer, zu einem großen Teil Bürgerinnen und Bürger der DDR. Schließlich war es die führende Gestalt des Reformflügels in der herrschenden Partei, Imre Pozsgay, der öffentlich aussprach, dass es nicht Ungarns Aufgabe sein könne, fremde Staatsbürger zu bewachen. Den Ausschlag im Politbüro, dem Abbruch des Eisernen Vorhangs zuzustimmen, gaben in der wirtschaftlichen Not allerdings vor allem finanzielle Überlegungen: Die ungarische Führung beteuerte in der Folge gegenüber der DDR immer wieder, sie könne es sich einfach nicht mehr leisten, die Grenzsicherungen wirksam aufrechtzuerhalten.
Als Ungarn im September 1989 die Westgrenze öffnete, bat es die Sowjetunion weder um Erlaubnis, noch informierte es die Sowjetführung formell; es begnügte sich damit, den sowjetischen Gesprächspartnern diskret, aber immer wieder anzudeuten, dass Ungarn zu diesem Schritt gezwungen sein werde, wenn die beiden deutschen Staaten keine Lösung für die Flüchtlingskrise finden sollten. Über den Plan, den Eisernen Vorhang zu beseitigen, war der sowjetische Generalsekretär bereits Anfang 1989 offiziell unterrichtet worden. Ministerpräsident Miklós Németh teilte diese Absicht im März bei seinem Besuch in Moskau Gorbatschow mit, und die Reaktion des sowjetischen Parteichefs fiel überaus seltsam aus: Er ließ den Ungarn freie Hand, indem er wörtlich erklärte, er sehe da überhaupt kein Problem. Die Frage muss unbeantwortet bleiben, ob Gorbatschow die Tragweite der von ihm auf solche Weise gebilligten Entscheidung ermaß.
Zur selben Zeit, im März 1989, trat Ungarn als erstes Ostblockland der Genfer Flüchtlingskonvention bei. Mit fluchtwilligen DDR-Bürgern hatte dieser Beschluss nichts, mit Flüchtlingen aus Rumänien umso mehr zu tun: Das von Ceau?escu Anfang 1988 verkündete wahnwitzige Programm, Tausende von Dörfern einzuebnen, und die allgemeine Misere des Alltags hatten über die grüne Grenze hinweg eine Fluchtbewegung in Richtung Ungarn ausgelöst, die sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1988 immer weiter verstärkte. Mitglieder der magyarischen Minderheit in Siebenbürgen stellten die überwiegende Mehrheit der Ankömmlinge. Dass Ungarn sie dem östlichen Nachbarland wieder ausliefern sollte, wie dies eine bilaterale Verpflichtung vorschrieb, schien ausgeschlossen. Einen juristisch vertretbaren Weg wies der Beitritt zur Genfer Konvention, welche die Rückgabe politischer Flüchtlinge untersagt. Die Unterzeichnung der Konvention wurde im Spätsommer 1989 unerwartet zum Hauptargument der ungarischen Seite gegenüber der DDR. Budapest weigerte sich, die Forderung der SED-Führung zu erfüllen und bei der Rückführung der DDR-Deutschen zu helfen.
Nach der ursprünglichen ungarischen Absicht hätte die Westgrenze auch nach der Entfernung der technischen Hindernisse bewacht bleiben sollen. Da aber der Beginn der Abbrucharbeiten am 2. Mai 1989 öffentlich, vor laufenden Fernsehkameras stattfand und Ende Juni die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, in einer feierlichen - freilich nur noch symbolischen - Aktion einige restliche Drähte sogar eigenhändig durchschnitten, bekam die Bevölkerung der DDR diese Bilder in den westlichen Medien zu sehen. Im Frühsommer setzte daher ein Ansturm von DDR-Touristen auf Ungarn ein, der die ohnehin schon hohen Zahlen des Vorjahrs noch überstieg und den die SED-Führung aus Angst vor möglichen innenpolitischen Folgen nicht mehr zu unterbinden wagte.
Diese Situation war eine Konsequenz aus der ersten ungarischen Entscheidung, den Eisernen Vorhang zu zerstören. Im Verlauf des Sommers zeichnete sich immer klarer ab, dass die ungarische Führung um eine weitere Entscheidung nicht herumkommen würde. Denn die Fluchtversuche der DDR-Deutschen an der Grenze zu Österreich mehrten sich, und Ungarns Grenzschutz, hoffnungslos überfordert, geriet immer stärker unter Druck. Wohl vertrat die ungarische Regierung lange den Standpunkt, dass es sich bei der Flüchtlingskrise um eine deutsch-deutsche Angelegenheit handle, die Bonn und Ost-Berlin selbst lösen müssten. Die Erkenntnis reifte indessen heran, dass eine solche Einigung nicht zu erwarten sei und Ungarn deshalb selbst werde handeln müssen.
Das Paneuropäische Picknick am 19. August 1989 in der Nähe der Stadt Sopron, ursprünglich ein von zivilgesellschaftlichen Organisationen geplantes ungarisch-österreichisches Fest der Anwohner dies- und jenseits der Grenze, wurde von über 600 DDR-Bürgerinnen und -Bürgern zur Flucht nach Österreich genutzt. Wenig bekannt ist, dass der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh dabei als stiller Komplize mitwirkte, da der Regierungschef mit dieser ersten "kleinen" Grenzöffnung die sowjetischen Reaktionen testen wollte. Moskau blieb stumm, und zur Enttäuschung der DDR weigerte sich der Kreml auch in der Folgezeit, die Ungarn zur Ordnung zu rufen und die Freigabe der Grenze zu verhindern.
Die im Verlauf des Jahres 1989 fortschreitende Verschiebung des Schwerpunkts im ungarischen Machtgefüge zugunsten der Reformer begünstigte das Anliegen der fluchtwilligen DDR-Deutschen. Im Spätsommer, als der Beschluss über die Öffnung der Grenze anstand, lag die Entscheidungsgewalt schon ganz bei der ungarischen Regierung. Die zuvor jahrzehntelang allmächtige MSZMP konnte, als es um das Schicksal der DDR-Flüchtlinge ging, auf den Gang der Dinge keinen Einfluss mehr nehmen. Im Hinblick auf unser Thema kam dieser Entwicklung insofern große Bedeutung zu, als der Generalsekretär der Partei, Károly Grósz, die Grenzöffnung ablehnte, im entscheidenden Augenblick aber nicht mehr imstande war, seinen Willen durchzusetzen.
Der Grundsatzbeschluss, die DDR-Deutschen ziehen zu lassen, wurde in Budapest am 22. August 1989 in einem engen ministeriellen Kreis gefällt. Am 25. August fand auf Schloss Gymnich in der Nähe von Bonn ein Geheimtreffen statt, bei dem Ministerpräsident Németh und Außenminister Horn die deutschen Gastgeber, Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, über die ungarische Entscheidung unterrichteten. Zuvor waren von den Ungarn in der Nacht auf den 24. August 108 DDR-Flüchtlinge, die sich seit Wochen in der Budapester Botschaft der Bundesrepublik aufgehalten hatten, nach Westen gebracht worden. Die Operation ging mit Hilfe des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz vor sich; das Ziel war Wien, von wo aus die Flüchtlinge die Reise nach Westdeutschland fortsetzten. Die ungarische Seite verfolgte mit der Aktion ein doppeltes Anliegen: Sie wünschte, dass die Botschaftsflüchtlinge noch vor dem Treffen in Bonn-Gymnich das Gebäude verlassen, um zu betonen, dass es sich um eine autonome Entscheidung der ungarischen Regierung handelte. Durch die Einschaltung Österreichs, eines Drittlands, sollte unterstrichen werden, dass sich Budapest nicht unmittelbar mit Bonn geeinigt hatte. Der Demonstration, dass Ungarn die Bundesrepublik und die DDR in strenger Parallelität und gleichrangig behandle, diente schließlich Ende August ein - allerdings völlig ergebnisloser - Besuch von Außenminister Horn in Ost-Berlin.
Dass es von der Einigung auf Schloss Gymnich bis zur tatsächlichen Grenzöffnung immer noch rund zwei Wochen dauerte, erklärt sich zum einen mit den technischen Vorbereitungen zum Transport und zum Empfang der Flüchtlinge, zum anderen mit einer Verzögerung, die der ungarische Regierungschef in Kauf nahm. Németh wollte nicht zum Spielball bundesdeutscher innenpolitischer Querelen werden und ließ daher das Datum der Grenzöffnung verschieben. Dem Schicksal, politisch instrumentalisiert zu werden, entging er freilich auch so nicht. Denn das ihm von Bonn vorgeschlagene Datum zur Bekanntgabe der Grenzöffnung fiel mit dem Auftakt zum Bremer Parteitag der CDU zusammen. Der damals in seiner Partei stark umstrittene und gefährdete Helmut Kohl konnte auf diese Weise dort die aus Budapest eintreffende gute Nachricht von der Grenzöffnung bekannt geben und eine Atmosphäre schaffen, in der er über seine innerparteilichen Widersacher triumphierte.
Ungarn 1989
Warum waren es angesichts der plötzlichen Schwäche der Sowjetunion die Ungarn und die Polen, die in Moskaus Machtbereich als erste nach Wegen der Selbstbefreiung suchten? Die historische Erinnerung an die einstige Größe und Machtentfaltung der untergegangenen Königreiche war hier am lebendigsten geblieben. Ebenso wahrte in Polen wie in Ungarn eine ganze Gesellschaft die Tradition einer breiten Adelsschicht, die sich im Verlauf der Geschichte auf eine wohl ungute Art mit der Nation identifiziert hatte, dafür aber bei jeder äußeren Bedrohung des Reichs und der eigenen Freiheit auch bereit war, für sie einzustehen und den Kopf hinzuhalten. Polen wie Ungarn erlebten in den vergangenen beiden Jahrhunderten schwere Schicksalsschläge, sie zeichneten sich aber in der Region stets auch durch den heftigsten Widerstand gegen jede Art der Fremdherrschaft aus.
In einem wesentlichen Punkt unterschied sich das Geschehen in Ungarn 1989 von ähnlichen Vorgängen in den anderen lange von Moskau beherrschten Ländern. In Ungarn spielte eine historische Klärung, die Rehabilitierung des Volksaufstands von 1956, eine wichtige Rolle. Die spürbare Verunsicherung der herrschenden Partei setzte bereits Ende Januar 1989 ein, als der Reformpolitiker Imre Pozsgay in einem Radiointerview die zuvor während dreier Jahrzehnte als "Konterrevolution" beschimpften Ereignisse vom Herbst 1956 als "Volksaufstand" bezeichnete.
Diese innerungarische Entwicklung erreichte im Juni 1989 ihren Höhepunkt. Der zu dieser Zeit schon starken und breit gefächerten Opposition im Land gelang es, die lange vergeblich geforderte feierliche Neubestattung des 1958 hingerichteten Ministerpräsidenten der Revolutionsregierung, Imre Nagy, zu erreichen. Die im Beisein von rund 200 000 Menschen vor sich gehende Trauerfeier machte zugleich offenbar, dass die Partei und ihre Diktatur am Ende waren. Dass sie sich nicht mehr imstande zeigten, eine solche Veranstaltung zu verhindern, bedeutete dabei letztlich nur eine Äußerlichkeit. Schwerer fiel ins Gewicht, dass die Rehabilitierung des Aufstands ihre Legitimität aufs Schwerste erschüttern musste. Denn die Ende Oktober 1956 neu gegründete MSZMP hatte sich stets darauf berufen, sie habe seinerzeit das Land und die "Errungenschaften des Sozialismus" vor der "Konterrevolution" gerettet und sei deshalb zur Ausübung der Herrschaft berechtigt. Handelte es sich nun doch um einen Volksaufstand, dann zerfiel dieser Anspruch, ja er bedeutete sogar die Negierung des Volkswillens.
In Wirklichkeit hatte der Aufstand trotz seiner Niederlage nie aufgehört, erhebliche Nachwirkungen auf die ungarische Gesellschaft auszuüben. Nach einer Periode der grausamen Vergeltung, der Todesurteile und der Kerkerstrafen kannte Ungarn von den späten 1960er Jahren an eine mildere Form der Diktatur als vergleichbare Länder im sowjetischen Herrschaftsbereich. Dass die Machthaber in den Parteizentralen in Moskau und in Budapest diesem kleinen Land stets etwas mehr Respekt zollten, ihm eine etwas längere Leine zugestanden, erklärte sich mit der Erinnerung an die Revolution von 1956. Die Sprache der Gewalt war diejenige, welche die Sowjetführer mühelos verstanden, und ihnen lag aus realpolitischen wie aus Prestigegründen daran, dass Ähnliches sich niemals wiederholen sollte.
In dieser Atmosphäre, in der viele kleine Freiheiten gedeihen konnten, standen die Ungarn die dunkle Zeit bis zur Zeitenwende leidlich und nicht unwürdig durch. Reformbestrebungen sowie informelle und später auch offiziell organisierte oppositionelle Gruppierungen wuchsen auf diesem Boden rascher als anderswo. Das erklärt auch Ungarns Pionierrolle 1989: Den wagemutigen Beschluss, die DDR-Deutschen in den Westen ausreisen zu lassen, konnte nur eine Regierung fällen, die sich von humanitären und menschenrechtlichen Gesichtspunkten und zugleich von der Intuition leiten ließ, dass in Europa ein gewaltiger Umbruch bevorstehe und dass Ungarn sich in dieser Lage nicht für die DDR, sondern für die Bundesrepublik Deutschland entscheiden müsse. Denkbar aber war diese Handlungsweise wiederum nur in einem Land, in dem die demokratische Opposition und eine nach völliger Freiheit strebende Presse bereits existierten und dessen politischer Zustand es darum ausschloss, dass man die Flüchtlinge, so wie die DDR das forderte, in ihr Ursprungsland zurückschaffte.
Hält man nach persönlichen Verdiensten Ausschau, dann ist in erster Linie der damalige Ministerpräsident Miklós Németh zu nennen. Das widerspricht der in Deutschland tief verwurzelten Meinung, der einsame Held dieser Geschichte heiße Gyula Horn. Es gibt nirgendwo auf der Welt eine Regierung, in welcher der Außenminister einen Beschluss fasst und entsprechend dem Innen- und dem Justizminister Weisungen erteilt. Das kann nur der Regierungschef, und auch im vorliegenden Fall war es Ministerpräsident Németh, der die Entscheidungen fällte und dafür die Verantwortung übernahm. Gerade deshalb aber ist es von großem Gewicht, wenn Németh sich heute zur Ansicht bekennt, die Grenzöffnung sei nicht das Werk und das Verdienst einer Person, sondern eine kollektive Leistung aller Ungarn gewesen.
Spurensuche
Was findet der Historiker heute vor (und was findet er nicht vor), wenn er sich daran macht, das Thema der Grenzöffnung zu erforschen?
Rund zwanzig Jahre nach den Ereignissen liegen zahlreiche Publikationen vor, deren Verfasser sich - wenn auch häufig nur am Rande - mit diesem Gegenstand befassen. Ebenso ist eine Reihe von Memoiren einst beteiligter Politiker greifbar. Manche gründliche Untersuchung bringt Licht vor allem in die Geschehnisse in der DDR. Deren Autoren kam die Tatsache zugute, dass die Staatsakten der DDR bereits in den frühen 1990er Jahren der Forschung zugänglich wurden. In Ungarn selbst ist in umfassenden Werken
Dass bei der Verwendung von Memoirenliteratur Vorsicht geboten ist, gilt als Binsenweisheit. Jedermann weiß, dass das menschliche Gedächtnis Fakten schönen, verändern und verdrängen kann. Der Verfasser dieser Zeilen machte dazu die Erfahrung, dass man sich auch in der Oral History, bei der Befragung einstiger Entscheidungsträger, leicht auf sumpfigem Gelände verirren kann. Zu viele Widersprüche und Ungereimtheiten tauchten auf, und bald erwies es sich, dass die ursprüngliche Annahme, die Geschichte der Grenzöffnung anhand von mündlichen Aussagen der Zeitzeugen schlüssig rekonstruieren zu können, naiv war. Doch lässt sich derselbe Tatbestand auch positiv bewerten: Ich lernte zu akzeptieren, dass gemäß seiner einstigen Rolle und seinem Standort jedermann seine Sicht der Dinge haben und es mithin mehrere Wirklichkeiten geben kann, die einander nicht unbedingt zu entsprechen brauchen.
Ein Wort über die Arbeit in den ungarischen Archiven: Zumindest zu einem Teil ist dies ein betrübliches Kapitel, und weil da ein Schlaglicht auf die heutigen Verhältnisse des Landes fällt, soll es im Folgenden mit einigen Anmerkungen zu Ungarn sein Bewenden haben.
Das Angenehme zuerst: Die Akten des Außenministeriums über die Tätigkeit der ungarischen Diplomatie im Jahr 1989 sind zwar spürbar "gesiebt" worden, doch die großen Linien lassen sich aus dem selbst so noch umfangreichen Rest mit einiger Zuverlässigkeit herauslesen. Gleiches kann nicht über die Schriften des Büros des Ministerpräsidenten gesagt werden. Hier wurde es mir einzig dank hoher Protektion ermöglicht, zumindest die Protokolle der Kabinettsitzungen des Jahres 1989 einzusehen. Vollends unhaltbar und auch nach den ungarischen Archivgesetzen inakzeptabel ist die Lage, wenn man nach Akten des vor 1990 bestehenden Innenministeriums sucht. Weitgehend vollständig vorhanden ist einzig die Überlieferung des Grenzschutzes, der seinerzeit diesem Ministerium unterstand. Demgegenüber fehlen die Akten der ebenfalls vom Innenministerium geleiteten Geheimdienste beinahe ganz.
Im Sommer 1989, als sich die Flüchtlingskrise zuspitzte, reisten Delegationen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR mehrmals nach Budapest, um dort mit Vertretern des ungarischen "Bruderorgans" Gespräche zu führen. Wir sind über deren Verlauf durch die Akten, wie sie in Berlin im Archiv der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) einsehbar sind, gut unterrichtet. Der in Budapest unternommene Versuch, auch in die Akten der ungarischen Seite Einblick zu bekommen, misslang dagegen fast ganz. Dokumente sind nur über jene Gespräche vorhanden, bei denen auch Vertreter des Außenministeriums anwesend waren und Aufzeichnungen erstellten. Außer zu diesem Fall erbat ich im ungarischen Historischen Archiv der Staatssicherheitsdienste Material zur Rolle der ungarischen Geheimdienste beim Paneuropäischen Picknick in Sopron und bei der Vorbereitung der eigentlichen Grenzöffnung. Das durchaus hilfsbereite Personal war außer Stande, für mich auch nur ein einziges einschlägiges Dokument zu finden.
Dieser Tatbestand zeugt von einem schwerwiegenden Problem, das in Ungarn nun schon seit bald zwanzig Jahren besteht: Die Regelung des Umgangs mit den Unterlagen der Geheimdienste vor 1990 ist von seltsam halbherziger Art. Die Gesetze schützen eher die einstigen Führungsoffiziere, die Informanten und die Agenten denn deren Opfer. Der Ruf, man möge endlich aufräumen und den Inhalt der verschlossenen Kisten auf einen großen Haufen entleeren, ertönt immer wieder. Und er begegnet regelmäßig der scheinheiligen Erwiderung, eine solche vollständige Freigabe würde die Funktionsweise der Geheimdienste und damit die Interessen des Staates tangieren. Eine Atmosphäre der Verdächtigungen, immer wieder aufbrechende Enthüllungsskandale und Misstrauen gegenüber der Staatsmacht und der Politik sind die Folgen. Auch der Historiker gehört zu den Leidtragenden.