Einleitung
Es ist die Hochzeit einer Freundschaft. Wir sind ein lockerer Kreis von Studenten und Absolventen; Schreibende, Musikmacher, Wissenschaftler, ungeduldig, der Stadt unser Feuer, unsere Eigenart zu geben, und zugleich mit der alles durchwebenden Hemmung vertraut. Niemand geht nur seinem Studium nach oder der ersten Arbeit; das Schreiben, Lesen, die Musik ist die Verbindung zur DDR, oder eher: die Haltung ihr gegenüber. Unvorstellbar, sich nicht als hoch empfindlichen Teil dieses vertrauten und widersinnigen Organismus zu empfinden, mit tausend Fühlfüßen und Tentakelchen am ganzen Körper und Empörung und scharfer Aufmerksamkeit jeden Tag.
Und zugleich wächst diese Freundschaft aus einem Beschwertsein mitten in der Zeit der Lebensleichtigkeit, die ein aus Grenzen konstituiertes Land unvermeidlich mit sich bringt. So organisch ist Autorität eingewachsen, dass wir niemals den Staat, die Diktatur in Frage stellen, was wir regelmäßig tun, ohne rhythmisch zu einer kritischen Durchknetung der eigenen Persönlichkeit und Gerechtigkeit zurückzukehren. Manchmal ist es wie ein zwanghaftes Ziel, mit unbestochener Distanz gegen sich selbst vorzugehen, gewöhnt an Schonungslosigkeit, von der nur Freunde, wärmer als das Ich dem Ich gegenüber, für einen Augenblick erlösen können und erlösen.
Der Laden schreit nach Gelächter, Wut, Schmissen, Ausdruck.
Die Messe tut ein Übriges. Wir sind Kinder von März und September. Wir zucken nach dem weltläufigen Gewimmel, den schwenkenden Trenchcoats in der Leipziger Luft, den ausgeruhten, offenen Blicken der westlichen Gäste, dem Lächeln ohne Absicht in den Straßen, im Café. Wir zucken nach Schwarzweißfotografie und Grafik, nach der Leipziger Malschule, nach Persönlichkeiten, die uns auf unvernünftige, verrückende Art vom Bekannten befreien. Waschbrettgruppen entstehen, Skiffle, Trampeln und Hüpfen, und wir begreifen oder begreifen nicht, wie sehr wir nach der Narrheit in uns hungern. Als Entkommen, als Spiegel, als Versteck, als Frechheit, als Verführendes.
So bleibt es eine Weile. Immerzu die Frage: Wer, wer, wer sind wir?
O du hoffnungslos flache, grau überaschte Leipziger Tieflandsbucht: Sag du es.
Es nimmt ja nicht ab, das diffuse Wissen von einem Betrogen- und Gefopptsein. Stetig, niederdrückend, eine Generationschimäre. Darunter der zusammengebundene Sprung, Schreie, nicht ausgedrückt. Und zugleich und dagegen ein Gefühl, das Salz zu sein. Wir dünken uns, aufgrund dieses Gefesseltseins im Ernst, wir dünken uns wesentlicher als der Westen. Ich stutze manches Mal sogar bei der Vorstellung, in weniger diktatorische Verhältnisse zu gelangen und so diese zehrenden, aber sonderbar substantiellen Vorgänge zu verlieren, selbst also am Ende flacher, reduzierter zu werden.
Wir suchen Spott, wo er nur aufblüht. Bei den "academixern" erleben wir uns plötzlich lachend gegenüber der hängenden Schwere unaufgehellter Bedeutung. Vorfreude ist da auf die witzigen Szenen, nadelnde Spannung, die Holzköpfe von Partei und Regierung würden hören und sehen und um beides kommen, gezwungen, sich selbst zu erblicken.
Wesentliches vom dem, was die Lehre lehrt, WE-KA, die politische Ökonomie, oder EMM-ELL, scheint ja auch nur sauber gescheuert werden zu müssen von einem dumpfen Hauch. Soziale Solidarität, Mitgefühl, die Notwendigkeit nicht endenden Lernenlernenlernens sind dem Selbst nur zu verständlich. Im Herzen der Doktrin eine spezielle Freiheit, Herzweite? Wir sind, so hält es an: wesentlicher. Salziger.
Michail Sostschenkos grimmiger Humor, Manfred Krugs Amiga-Platten, von Berlin herwedelnde Frechheit, das Leipziger Chanson. Halt. Sind wir gar nicht bis zur Handlungsunfähigkeit gedrückt? Müssen es nur erkennen? In einer Stadt, wo jeder ausländische und inländische Student, aus Syrien oder Obervolta oder Gagra in Georgien, im " Casino" "King Kong", "Casablanca", "M", "Metropolis", "Monsieur Klein", "Narciss und Psyche" und die trotzigalbernhintergründigparadoxen DEFA-Filme sieht, in der eigenwillige Zausel mit halbmeterlangen Bärten an der KA-EMM-UH über Jahre an ihren Dissertationen herumäseln, Zeit schlürfend, Zeit. Manchmal gelangt ja einer oder eine fast bis in die reale wissenschaftliche Nähe Freuds oder anderer Magneten, aber es hängt doch ganz vom Wohlwollen und Mut des Professors ab und bleibt ein ungesichertes Forschen und eingeschnürt eben. Wir müssen eine köstliche Mimik haben. Wir, nur wir sollten auf der Bühne stehen.
Das Lieben der Ratlosigkeit aneinander? Hm. Das Hassen der Sitzärsche von Chefs und anderen Macht-Habern, die sich in enger Runde mit ihrem Durchblick spreizen (natürlich verstehen sie uns Jüngere), die sich ausheulen, reisen, trinken, zwinkern, in sich zusammenkriechen, abmagern, reisen, in die Entziehung gehen, saufen (natürlich verstehen sie uns Jüngere) und so weiter und so fort. Das nicht genug Hassen. Das Verstehen. Wenn man vor nichts kapituliert, dann vor dem eigenen Verstehen. So scharf ist doch alles, so sichtbar. Aber etwas hält das begonnene Fließen in uns zurück.
Seit den siebziger Jahren begleiten wir das kleine, standfeste Ensemble der "academixer" mit froher Sympathie. Die Spieler kommen von der Universität, sind Lehrer, Übersetzer. Träge Kommilitonen werden satirisch aufgefordert, aus ihrem Warten auf Kultur oder Leben herauszufinden und selbst tätig zu werden. Kanzler Schmidt bekommt seine Zwangsvorstellungen von der Gemeinsamkeit der deutschen Kultur um die Ohren gewedelt, und so unvermutet, wie das geschieht, fühlen sich die Zuhörer hin- und hergeschaukelt und aus zementnen Klischees herausgelockt - gar in ein wohltuendes Selbstbewusstsein gegenüber der BE-ERR-DE - und kommen wieder und wieder.
Ich habe mich geweigert, nach dem Sprachstudium als Lehrerin in der Schule zu arbeiten, auf die uns die Berliner Humboldt-Universität mit dem wichtigsten Ziel der Erziehung von Kindern zum Hass auf den Klassenfeind vorbereitet hat. Ich bin aufgestanden im Hörsaal und habe geantwortet, dass ich niemanden zum Hass erziehen werde. Ich habe in der Redaktion einer Zeitschrift Anstellung gefunden, die sich mit kulturellen Fragen im Sozialismus beschäftigt. Einer Form ideologischer Gewalt entkommen, finde ich mich erneut unter ihrer undurchsichtigen Plane.
Mein Mann Falk Kabus beginnt als Abteilungsleiter für Kultur im größten Leipziger Gießereibetrieb zu arbeiten, nach monatelanger öffentlicher Drangsalierung im letzten Studienjahr an der KA-EMM-UH, weil er die Verurteilung Biermanns ablehnt. Die Tochter des DDR-Fernsehkommentators Heinz Grote hat eine Aburteilung des Liedermachers verfasst und alle Parteimitglieder der munteren Seminargruppe genötigt, sie zu unterzeichnen. Und sie taten es, bis auf ihn eben, der "für Menschen, die ich nicht kenne, weder eine Ächtung noch eine Lobhudelei" unterschreibt.
So heißherzig, wie ich der Partei fernblieb, ist er ihr mit achtzehn Jahren beigetreten. Es waren dies zwei produktive Konzeptionen, weil beide durchfeuert von eigenen Vorstellungen und Kräften, aber auch dem Klima einer Erweiterten Oberschule, deren Foyer von einer Picasso-Grafik lebte, an der Eluard, Brel, Montand rezitiert, gesummt, geschluchzt wurden, an der eine Verliebtheit in das Leben herrschte und Hingabe reifte direkt neben der finstersten Doktrinierung. Und an der Lehrer zu bestehen suchten zwischen dem Auftrag, Lebensvertrauen zu wecken, und dem Auftrag, die ständige Gewaltbereitschaft des erziehenden Staates zu vermitteln.
Er unterschreibt nicht. In den eigens einberufenen Sektionsversammlungen kocht die offene Wut des Professors gegen die "Unverschämtheit, sich gerade jetzt der Stimme zu enthalten, wenn man Kommunist ist". Die gespaltene Seminargruppe spaltet sich nur noch tiefer, als der Verstockte der Verfasserin sagt, dass sie ihr Schreiben um der paar persönlichen Pluspunkte willen der Sektionsleitung doch besser als Privatgeschenk auf den Tisch gelegt hätte.
Eine unglaubliche Heftigkeit ist entfacht. Sie ist, denke ich eine Zeitlang, das Verwandte, das uns, mir Gemäße. Ich will leben, um in aller Schärfe zu sehen und dabei diese Schärfe, die Kraft im Innern ausmessen.
Der Eine also am Pranger. Kein Ende. Dass nur ein einziger sich verweigert, macht das Vorkommnis zur Universitätsangelegenheit. Unterbunden werden muss, dass der Frechling die anderen mit uneingeschüchterten Bemerkungen noch länger zu unerträglichem Gelächter hinreißt. Schlagfertig zwar, aber ein Nichts, ein Niemand doch. Der Ästhetikprofessor tobt und verlangt erstens die Unterschrift und zweitens eine deutliche Selbstkritik, weshalb solange nicht unterschrieben worden ist. Ein Hartschädel russischen Typs, Gralshüter des Kommunismus seit den leuchtenden Fünfzigern, der stets, wenn etwas Ruhe einzutreten beginnt, erneut eine außerordentliche Parteiversammlung durchsetzt. Als er 1997 stirbt, rühmt die "Leipziger Volkszeitung" seinen Namen als "Synonym für die Ästhetik des ostdeutschen Staates". Durch seine "einengenden Ansichten" sei er vielfach in Konflikt mit Künstlern geraten, aber sein hohes Ansehen sei ihm kaum abzusprechen. Daneben ein anderer Dozent. Dr. Dieter Strützel, der eben "Christa T." im Mitteldeutschen Verlag herausgebracht und dafür nachhaltigste Züchtigung erlitten hat. Ruhig wirft er an einer Stelle der endlosen Diskussion ein: "Findet Ihr nicht auch, dass wir hier alle maßlos übertreiben? Es ist doch eine großartige Errungenschaft, dass alle bis auf einen unterschrieben haben."
Ironie als retardierendes Moment. Und, unerwartet, ein wenig Wärme ...
Doch weiter Gezerre, Verhöre, Missachtung über Monate. Es bleibt ein hörbares Nein. Falk Kabus schlägt die Universitätskarriere aus. Die Produktion wird selbstgewählte Alternative, die Arbeit mit Malern und Liedermachern für Arbeitende in einem Großbetrieb.
Mit den Kabarettisten essen wir weiter "Unser parteitäglich Brot". Und es sind ja Sachsen, die da vorn spielen, fischilant und treuherzig und überschmissen und irgendwie unzerreißbar mit dem Erdboden verwachsen, der Intuition fürs eigene Wohl- oder Weichergehen. Sie führen vor, wie Verblödung arbeitet, welchen IrrSinn die einfache Befolgung der sozialistischen Verkündigung bringen muss, folgte nicht das Gros der Regierten im Alltag doch automatisch dem gesunden Menschenverstand, unser aller Selbstachtung.
Sächsische Wagnisse im Maß, und nie das volle, gedrückte, gerüttelte Maß an Brutalität des Lebens und Empfindens wie vielleicht in Berlin. Laut und lustick, sächsisch hintergründig dusselig. "So sinn mir Saggsn." Wieso, fragt es heute, ist da nicht alles auseinandergefallen?
Es fiel ja, fiel, fiel, fiel. Aber es hielt auch zusammen. Einen Punkt gibt es, der immer aufs Neue greift, uns greift. Es ist die Frage nach der inneren Ehrlichkeit, mit der wir uns zu Recht oder Unrecht wieder sammeln nach jeder seelischen Auswanderung. "Mehr Demut", so sagt es einmal einer in die aufbegehrenden Gespräche hinein, ganz leis. Es keimt zu einer willigen Verhaltung, die sogar eine gewisse Süße hat. "Mehr Demut" meint die Zurücknahme des Ichs, die bewusste Aufmerksamkeit für Geplagtere in der Welt. Ist das nicht die wesentliche Richtung, der Nerv, der uns vom Westen unterscheidet? Sich selbst zu erblicken im Universum zwischen Hungerdürre und Fresssucht, ist das nicht gelebte, wenigstens gefühlte Verantwortung, wie sie kein Westlinker haben kann, der spartanische Theorien vertritt und im diskreten Wohlstand ächzt? Keiner zerreißt das Wort, alle wiederholen: "Mehr Demut!"
Ist die Universitätslaufbahn ein Verlust? Ist die Universität ein Verlust? Intellektuelle, so hängt es im Raum, sind in der DDR beim Volk nicht sonderlich geachtet. In Polen, der CSSR, Ungarn stellen wir uns eine aufrichtigere Nähe zum Volk, zu allen nicht akademisch Gebildeten vor, stärkere intellektuelle und seelische Intensität, auch aus nationaler Leidenschaft erwachsend, das Eintreten für Beleidigte und die Hinnahme von Not und äußerer Erfolglosigkeit, wenn es die Selbstachtung verlangt. Ist das proletarisch? Protestantisch? Indianisch? Frühantik? Es ist die Sehnsucht, eine Art Grundbedürfnis zu stillen: aus dem möglichst zunehmenden, reifenden Ich heraus den Weg auch zu anderen zu finden, fühlbar zu nutzen und anwesend zu sein.
Falk Kabus ist in ein hoffnungsvolles Projekt gekommen, das auch die Arbeits- und Lebensbedingungen im Kombinat untersuchen und reale Veränderungen vorbereiten soll. Kontrovers wird es zum ersten Mal bei der Auftragsabnahme des Wandbildes eines Leipziger Malers für das Sozialgebäude der Stahlgießerei. "Die Farben zu dunkel, die Figuren zu kompakt, das spricht unsere Menschen nicht an, das ist keine Kunst", so kommt die Gewerkschaftsleitung hervorgekrabbelt auf Geheiß und tut das Ihre zur Rettung des unantastbaren Bildes vom Glück eines jeden Menschen in diesem Land. Ein beinah unschuldiges Morgensujet, gerade so gehen sie doch jeden Tag hinein ins Werk oder hinaus aus dem Werk - wen kränken die Rücken müder Leute im Gehen? Falk Kabus ruft die betretene Versammlung auf, nach dem Gefühl: dem eigenen, zu sprechen, denn um mehr geht es nicht. Das Bild ist gemalt und bezahlt, wie alle Versammelten, Arbeitende und Verwaltende, bestens wissen, ob es nun hell oder dunkel, als Blasphemie oder Erleuchtung empfunden wird, es ist das Bild des Malers Jürgen Schäfer aus Leipzig und soll hier bei ihnen hängen.
Vor dem blass-rot-blassen, gedemütigten, vor dem erlösten Maler sagt er das, und ein erstes Disziplinarverfahren blinkt bald danach auf, mit dem sein Vorgesetzter, widerwillig, der Empörung von Gewerkschaft und Partei nachkommt. Er nimmt es achselzuckend hin, in Gedanken an andere, gegen deren Schicksale das fast nichts ist, doch ein Thema ist angeschlagen mit dem Bild. Vor mächtigen oder ohnmächtigen Bestimmergruppen zu sitzen, wehrlos mit einem Bild oder Text oder Lied, mit Sensibilität und offenem Mut sich zu solidarisieren oder zerstört werden, dieses Thema kommt für Jahre in ein Leben und findet seinen Bruder Feindseligkeit.
Und im Kabarett? Am Anfang ist Erziehung, stets moralisch, und die Forderung nach Überwindung schmählicher Trägheit. Daneben steht die endlose Diskussion als gesellschaftliches Ausweichen vor der Tat, all die "Schulen der sozialistischen Arbeit", in denen man verzweifelt auf den Beginn von Arbeit wartet. Ähnlich wie Schriftsteller beziehen auch SED-nahe Kabarettisten nach und nach, was der einfache Mann von der Straße erst in jahrzehntelangem Antragsmarathon erlangt. Bürgerwohnungen. Autos. Telefonanschlüsse. Reisen. Beziehungen zur Partei stellen sich allgegenwärtig her. Die Partei fühlt sich herausgefordert, geschmeichelt, zur aktiven Teilnahme eingeladen. Im Verfall von Glauben ergrünt ja trotz allem noch immer das Entwicklungsversprechen des Sozialismus, österlich über Kahlen und Brachen hinweg. Die Vielzahl der Zuschauer glaubt hier besseren Verhältnissen entgegenzulachen, nicht westlichen. Und es sind ja keine Banausen, keine bösartigen Mucker, die in den Proben hocken. Die Maschine bremst sich ab im Guillotinieren in einem Akt der Läuterung oder Selbstaufklärung. Dazu kommt, dass sich Genossen in bester Schizophrenie der Maschine als Abtötungsding ja nicht zurechnen, wir werden es immer wieder erleben, dass sie eigentlich Menschen sind, sie empfinden keine Tötungsabsicht oder lassen Getanes als das nicht zu, geschützt durch die weltverändernden Hauptaufgaben, Sozialaufgaben, Erneuerungsaufgaben, die globale Mission, die landwirtschaftlich-technische, die medizinische, die kulturelle, die kosmische Mission des segenspendenden Pseudo-Evangeliums.
Nicht nur die in Leipzig so rührend an Gullduhr interessierte Parteispitze: Die ganze Stadt scheint den Spöttern ja zu helfen. Es gibt ein städtisch-sächsisches Grundklima. Allzu ausgeprägte Schärfe oder gar Rüde des Intellekts, die unverblümte Benennung, riefe hier runde, wunde Blicke hervor. Übertreibungen außerhalb von geschlossenen Räumen gelten als unsittlich. Wo im Leben zugespitzt wird, tritt ihm eine unnachweisbar missbilligende Dämpfung entgegen.
Etwas spannt sich und will reißen. Hier das Hochgefühl, an einer geistigen Erkundung teilzunehmen, umgeben von regsamen Leipzigern, da das erschütterte Wahrnehmen von Menschen ringsum, die ihr Leben an das anwesend-abwesende Monstrum geben, Tag für Tag, ohne Möglichkeit der sportlich-eleganten Gegenwehr, die in Kreisen gehen und nichts gewinnen und denen die Stilmittel des Lachens nicht gerecht werden können.
Was ist eigentlich passiert? frage ich mich, als in atemberaubender Schnelligkeit innerhalb weniger Tage erst ein Parteiverfahren gegen Falk Kabus und dann die Abberufung aus seiner Funktion inszeniert wird. Was gibt es zu bestrafen an einem Menschen, der mit nichts auf sich aufmerksam gemacht hat als dem Vollzug seiner Arbeit?
Nach einer ersten Entlassung ist er zu den Künstlern gekommen, folgerichtig. Die Soziologie ist lästig gefallen, mehr noch als die Bilder. Er betreut jetzt die Leipziger Liedermacher und hat Texte, in denen von impotenten Greisen die Rede ist, die ums Verrecken nicht von der Macht lassen wollen, nicht verhindert, wie es seine Aufgabe gewesen wäre, trotz Drängens und Geschiebes und Flüsterns und zorniger Offenheit der aufgeschreckten Partei- und Dienstleitung.
"Es gibt keine Alternative zu freiem, unzensiertem künstlerischen Ausdruck", sagt er, wieder. Was singen sie denn? Was ist es? Die einfache menschliche Wirklichkeit: Depression, nicht automatisch aufgehobene Einsamkeit, überhaupt nicht aufgehobene, Verlassenheit der prallsten Art hier mitten im Wonnebottich Sozialismus, Kälte, Verfall, elende Wohnlöcher. Und vor allem, hinter allem: die Last eines eigenverantwortlich zu führenden, zu ertragenden Lebens. Es ist nicht die klebrigsüße Wimmelwabe, die einen erlöst, es ist überhaupt keine Erlösung von den Schmerzen des Lebens. Die Verzweiflung, welche die Sensibelsten immer wieder anfällt, wenn dieses eigene Leben sie berührt, mit Verlustängsten und fahlen Sturzschächten und Geschlagenheit, hier vielleicht noch stärker als in offen gleichgültigen Systemen, davon singen sie. Die neue "Entbindung" kommt vom Rat des Bezirkes, ohne Gespräch oder persönlichen Kontakt. Es ruft den Unmut der Liedermacher hervor, die mit Kerzen dagegen demonstrieren wollen "im Ring, das kostet uns gar nichts, sag bloß ein Wort!", und einer unbestimmten feigen Vorsicht folgend wird die Absetzung zurückgenommen, und zusammen fahren sie zu den Chansontagen nach Frankfurt und holen die Auszeichnungen nach Leipzig.
Das könnten wir nicht, sagen die Freunde. Immer so ...
Eine immer gleiche Dramaturgie entsteht und wird das Leben. Ob die Untersuchungsergebnisse im Betrieb, die Verteidigung der Künstler - für den Widerspenstigen folgt das Gericht. Partei-, Disziplinarverfahren, Vorladungen, Verhöre, Dauerterror. Entlassungen unter ausdrücklicher Hervorhebung der mystischen Einheit von ideologischer "Abweichung" und dem dadurch verwirkten Recht auf Arbeit, auf Atem. Ein für ihn günstiges Urteil des Arbeitsgerichtes würde sie in jedem Fall kassieren, sagt die Partei.
Das Verfahren kann eröffnet werden.
Es ist Herbst, 1988, ein Jahr vor dem letzten.
Lange schon haben die Spötter kokette Beziehungsnetze eingeübt, Fähigkeiten, die gewohnte Wege auch nach 1989 beschreitbar machen werden. Die Kabarettistin Gisela Oechelhaeuser, Dietmar Keller, ihr Mann und SED-BE-Eller, ein Künstlerfreund. Wendet sich ein solcher mit Protesten oder Eingaben an zentrale Stellen, so landen diese "verleumderischen Angriffe" durch Übermittlung der Staatssicherheit wieder bei Keller, zur Realisierung der "vorgesehenen operativen Maßnahmen" gegen den "feindlich-negativen" Schriftsteller oder Liedermacher, und auch das "abgestimmte Vorgehen mit der Bezirksstaatsanwaltschaft" ist sein tägliches Geschäft.
Tot und belebt sitzt der Glaube im Publikum, aufgegeben und wieder hochgeschüttelt, eine anstrengende Widergeburt nach der anderen, und vielleicht geschieht im selben Moment auch das Gegenteil: das plötzliche innere Sterben eines Menschen, der für seine hingeschenkte Kraft, seine Jahre des Gebens, die Zuwendung oder Rückschenkung irgend einer Treue ersehnt, einer Vatermutterkraft, die gerade diese Ideologie so natürlich zu suggerieren versteht, ohne sie geben zu können.
Das Publikum lacht, trampelt.
Die Partei, ach, alle bereiten sich vor, in die 89er Demo einzuschwenken, nahe der Nikolaikirche, in die Grimmaische Straße, montags, nach getanem Dienst ...