Einleitung
In einer Zeit, in der die Europäische Integration durch ablehnende Verfassungsreferenden, Akzeptanzprobleme auf Seiten der Bevölkerung und eine turbulente wirtschaftliche Entwicklung auf eine harte Probe gestellt wird, ist politische Unterstützung eine wichtige Ressource für die Europäische Union (EU). Die politische Gemeinschaft der Europäer ist auf die sozialen Funktionen der gesellschaftlichen Integration und Identitätsbildung angewiesen.
Öffentlichkeit ist hier eine wichtige Bedingung, denn in öffentlicher Kommunikation werden die Wirklichkeitskonstruktionen, Regeln und Normen ausgehandelt, auf denen der Verständigungsprozess einer Gesellschaft beruht. Europäische Öffentlichkeit ist daher eng mit dem Prozess der Herausbildung einer kollektiven Identität der EU-Bürger verbunden.
Demokratie und Öffentlichkeit
Die Europäische Integration hat mit ihrer Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen auf die EU dazu geführt, dass die europäische Politik mit weit reichenden Veränderungen im Leben der Bürger verbunden ist. Dennoch ist die EU für viele der rund 375 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger aus 27 Ländern eine schwer fassbare, abstrakte Institution, über die sie keine direkte Kontrolle haben. Angesichts des "Demokratiedefizits" ist öffentliche Kommunikation, welche die europäische Politik für die Bürger transparent macht, eine entscheidende Voraussetzung für die Legitimierung der EU. Europäische Öffentlichkeit kann man als einen Kommunikationsraum begreifen, in dem europäische Akteure Resonanz für ihre Politik erwarten und die Meinungen der Bevölkerung erfahren können.
Europäische Öffentlichkeit ist aber nicht nur eine demokratietheoretisch wünschenswerte Kategorie, sondern ein virulenter Gegenstand der empirischen Politikforschung. Denn wie kommen Kommunikationsprozesse, welche die Grenzen der Nationalstaaten überwinden und die Bürgerinnen und Bürger Europas miteinander verbinden, realistisch zustande und wie nachhaltig sind sie? Wann sprechen wir von einer Europäischen Öffentlichkeit und unter welchen Bedingungen entwickelt sie sich? Wie viel öffentliche Kommunikation über Europa gibt es schon und wie gleichen oder unterscheiden sich die europäischen Debatten über die gemeinsamen Entscheidungen in Brüssel in den verschiedenen Mitgliedsländern? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags. Wir diskutieren zunächst die Konzepte und die Befunde der empirischen Forschung über die Formen, den Umfang und die Qualität von grenzüberschreitender Kommunikation in Europa. Dann richten wir den Blick insbesondere auf die Massenmedien, die einerseits als Infrastruktur der Herausbildung einer transnationalen europäischen Kommunikation gelten. Sie können andererseits als Befürworter oder Gegner des europäischen Projekts auftreten und damit die Unterstützung der EU entscheidend beeinflussen.
Konzepte Europäischer Öffentlichkeit(en)
Während das Ziel einer Europäischen Öffentlichkeit in Deutschland weitgehend unumstritten ist, unterscheiden sich die Vorstellungen darüber, wie es zu solchen Prozessen der grenzüberschreitenden Kommunikation kommt. Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, denn Europa ist auf der Ebene der Bürgerinnen und Bürger und des Publikums eine sprachlich, kulturell und politisch heterogene Gemeinschaft. Bei der Suche nach einer europäischen Öffentlichkeit denkt man vor allem an massenmedial hergestellte Öffentlichkeit, denn nur die Medien bieten eine stabile Infrastruktur, um die Informationen und Meinungen zu einer Vielzahl an Themen kontinuierlich an ein Massenpublikum zu vermitteln.
Andere Autoren sehen den Prozess der Europäisierung dann gegeben, wenn die Zahl der europäischen Politikthemen und -akteure in den nationalen Medien wächst und diese Medien zunehmend aufeinander Bezug nehmen oder sich vernetzen.
Der Beitrag der nationalen Medien
Es liegt auf der Hand, dass die Massenmedien eine Schlüsselrolle im Prozess der Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten spielen. Lange wurden die Medien vor allem als Informationsvermittler gesehen, die auf Basis von journalistischen Selektionskriterien und professionellen Normen Informationen über relevante Politikprozesse bereitstellen.
In neueren Studien zur Europäisierung werden Medien nicht mehr nur auf eine Vermittlerrolle verpflichtet, sondern als eigenständige Akteure in Europäisierungsprozessen gesehen.
Politische Integration und das Ausmaß der Europäisierung von Öffentlichkeit
In Bezug auf die Frage, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang die Europäisierung in den Massenmedien der EU-Mitgliedsländer stattfindet, gibt es eine ganze Reihe empirischer Studien. Da sich die Untersuchungsdesigns, Indikatoren und Operationalisierungen aber stark unterscheiden, muss man die manchmal disparaten Befunde mit Vorsicht interpretieren. Aus verschiedenen Fallstudien wissen wir, dass die Medien europäischen Themen besonders dann zu Prominenz verhelfen, wenn über Skandale oder Konflikte berichtet wird oder wenn politische Events wie beispielsweise Gipfeltreffenstattfinden. Der EU-Korruptionsskandal oder die Verfassungsdebatte sind Beispiele für kurzfristig stark erhöhte Aufmerksamkeiten, die teilweise mit länderübergreifend ähnlichen Debatten, teilweise aber auch mit großen Unterschieden in den nationalen Diskursen einhergehen.
Jenseits von einzelnen Themenkarrieren hat sich die Forschung vor allem dafür interessiert, wie sich der Anteil der Berichterstattung über europäische Themen über die Zeit und im Vergleich zum Umfang der nationalen Politikberichterstattung entwickelt. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass eine Zunahme europäischer Themen und Akteure ein klarer Indikator für die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit sei, war der Befund älterer Arbeiten meist Grund für pessimistische Schlussfolgerungen.
Die ersten Studien über die Europäisierung von Öffentlichkeit haben auch zu einer Differenzierung der bislang eher pauschalen Erwartungen geführt. Wenn man davon ausgeht, dass öffentliche politische Diskurse auch den Entscheidungsprogrammen von Institutionen folgen, dann ist die Hypothese einer gleichförmigen, allgemeinen und politikunabhängigen Europäisierung von Öffentlichkeit nicht sinnvoll. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Kompetenzen und Entscheidungsbefugnisse der EU in den einzelnen Politikfeldern erscheint es vielmehr plausibel, starke Europäisierungen vor allem bei Debatten über Themen in integrierten Politikbereichen zu erwarten.
Das Ausmaß der transnationalen Kommunikation in Europa variiert nicht nur danach, ob Politikfelder hohe oder niedrige EU-Kompetenzen aufweisen. Daneben können wir auch zeigen, dass der Blick und die kommunikativen Bezugnahmen auf Europa in verschiedenen Mitgliedsländern unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Im Vergleich von sieben EU-Ländern erweist sich die massenmediale Öffentlichkeit in Großbritannien als am stärksten in nationalen Diskursen verhaftet. Im Vergleich dazu weisen die Debatten in Deutschland, Frankreich oder Spanien im Umfang ähnliche, deutlich höhere Europäisierungsgrade auf.
Zur Struktur und Qualität europäischer Debatten
Seit den ersten Versuchen, die Europäisierung nationaler Medienöffentlichkeit anhand von quantitativen Kennzahlen zu beschreiben, hat sich die Forschung beachtlich weiterentwickelt. Inzwischen interessiert nicht mehr so sehr das Ausmaß europäischer Öffentlichkeit, sondern die innere Struktur und Qualität der transnationalen Kommunikation in Europa. Welche Faktoren erklären also die Art und Weise, wie europäische Debatten in der massenmedialen Öffentlichkeit verlaufen und wie die Medien dabei agieren?
Im Gegensatz zu früheren Forschungen belegen neuere Untersuchungen, dass die Medien als Motoren europäischer Öffentlichkeit fungieren.
Auch der Vorwurf, Medien würden aufgrund der Nachrichtenlogik hauptsächlich negative Aspekte und Konflikte zwischen nationalen und europäischen Interessen herausstellen, hat sich als nicht gerechtfertigt erwiesen. In ihren Kommentaren über Europäische Integration schlagen die deutschen Printmedien deutlich stärker pro-europäische Töne an als die politischen Parteien und die zivilgesellschaftlichen Akteure.
Bei komparativen Forschungen zur Europäisierung in verschiedenen Ländern wird deutlich, dass Europäisierung keineswegs ein Prozess ist, der überall gleich verläuft. Dazu tragen die unterschiedlichen politischen Kulturen sowie die Journalisten und die Positionierung von Medienorganisationen bei. Vergleicht man die Haltungen gegenüber der Europäischen Integration in den Kommentaren der Qualitätspresse in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden, der Schweiz und Großbritannien, so nahmen die Journalisten mehrheitlich eine positive Haltung ein. Im Unterschied zu der eindeutig europafreundlichen Kommentierung in Frankreich und Italien brachten die britischen Medien in fast jedem zweiten Editorial eine negative Einstellung gegenüber der Europäischen Integration zum Ausdruck.
Nationale politische Kontexte der einzelnen EU-Mitgliedsländer erweisen sich nicht nur als wichtiger Einflussfaktor auf die Haltungen der Journalisten oder die Relevanz, die sie europäischen Themen beimessen. Es liegt auf der Hand, dass die gemeinsame Politik in Brüssel in den Medien der Mitgliedsländer vor dem Hintergrund der nationalen politischen Kultur und der eigenen inneren Konfliktlinien und Interessenskonstellationen interpretiert wird.
An dieser Stelle wird auch deutlich, dass die Massenmedien dazu tendieren, die Argumentationsfiguren und Positionen ihrer nationalen Regierungen zu übernehmen. So findet man in der öffentlichen Kommunikation über europäische Politik das Muster, dass nationale Regierungen an den Verhandlungstischen in Brüssel Maßnahmen zustimmen, die sie zu Hause nicht mehr so enthusiastisch vertreten.
Ausblick
Wie sieht also Europäische Öffentlichkeit heute, kurz vor der siebten Europawahl als eine der wenigen direkten Wahlmöglichkeiten für die Europäischen Bürger, aus? Zunächst gilt nach wie vor, dass Europäische Öffentlichkeit vor dem Hintergrund des "Demokratiedefizits" der EU und der Kommunikationsbedürfnisse der europäischen Bürgerinnen und Bürger mehr denn je erforderlich ist. Die hier diskutierten Forschungsergebnisse zeigen ein vielgestaltiges Bild dieser Öffentlichkeit und machen noch einmal deutlich, dass allgemeine Annahmen und Aussagen zu den Leistungen "der" Medien für "die" Europäische Öffentlichkeit dem komplexen Beziehungsgeflecht transnationaler Kommunikation im Kommunikationsraum Europa noch weniger angemessen sind als schon für nationale Öffentlichkeiten. Wir wissen, dass Europa zu bestimmten Zeitpunkten, in verschiedenen thematischen Kontexten und mit jeweils recht unterschiedlichen nationalen Rahmungen für die Bürgerinnen und Bürger Europas sichtbar wird und können diese Unterschiede in Ansätzen auch erklären. Künftig wird es darauf ankommen, weitere Faktoren herauszuarbeiten, welche die verschiedenen Formen und Grade der Europäisierung und die Synchronisation europäischer Debatten erklären. Dann erst wird es möglich sein, die Qualitäten und Dynamiken Europäischer Öffentlichkeit zu prognostizieren. Die empirische Forschung hat auch im Hinblick auf die demokratische Qualität noch viele Fragen zu klären. Denn über die Wirkungen der europäischen Debatten in den Massenmedien auf die Bürgerinnen und Bürger, deren Wissen und Einstellungen zum Projekt Europa und der europäischen Gemeinschaft, liegen bisher kaum gesicherte Befunde vor.