Einleitung
"Wer gegen Europas Einheit ist, soll auf einen Soldatenfriedhof gehen." Jean-Claude Juncker (Premierminister Luxemburgs)
Referenden über komplexe Verfassungsfragen sind national und in Europa nur dann sinnvoll, wenn a)es das Volk als ethnische, historisch gewachsene "Schicksalsgemeinschaft" gibt, b)der Sachverhalt vorurteilsfrei, ohne Besitzstandsdenken zu beurteilen ist, oder c) ein Ja-Nein-Votum ohne die Kompromisse im parlamentarischen Prozess möglich ist.
Diese Voraussetzungen fehlen aber in der Europäischen Union (EU). Ethnische, historisch gewachsene Völker sind ein Mythos des 19. Jahrhunderts und bis heute Ausgangspunkt vieler Kriege. Staaten sind Rechts- und Zweckgemeinschaften der Bewohner, kein Kollektivsubjekt und mangels sozialer Solidarität auch keine "Schicksalsgemeinschaft".
Der Nationalstaat, das Volk der Staatsrechtslehre und Politik ist eine Leerformel mit allenfalls emotionalen Bezügen zu einer ausgehöhlten Staatlichkeit. Sie überdeckt unüberbrückbare gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Konflikte. Doch fordert die Staatsrechtslehre die vorstaatliche Entstehung eines europäischen Volkes, bevor von Staatswerdung zu sprechen sei. Tatsächlich geht es um "das tägliche Plebiszit" (Ernest Renan).
Kein Nationalstaat hat derzeit noch ökonomischen Handlungsspielraum. Die Folgen der Globalisierung führen zu Renationalisierung und "Sandburgenmentalität", Besitzstandsdenken und sacro egoismo, Quellen immer neuer Vorurteile auch gegen die EU. Die Komplexität der EU-Verträge überfordert die Menschen und entzieht sie somit dem Ja-Nein-Votum von Referenden. Abgestimmt wird über die Regierung, oft mit sachfremden Motiven. Mit der Forderung, über EU-Beitritte abstimmen zu lassen (z.B. über den der Türkei), wird das Einfallstor für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geöffnet.
Manipulierte Abstimmung in Irland 2008?
Ende September 2008 hieß es, CIA und Pentagon hätten in Irland die Kampagne gegen den Lissabon-Vertrag mitfinanziert - die USA seien nicht an der Handlungsfähigkeit von old Europe interessiert. Hinweise auf Einmischung hatte es schon beim Referendum zum Nizza-Vertrag gegeben. Der Chef der irischen Anti-EU-Bewegung Libertas, der Multimillionär Declan Ganley, soll der Organisation ein "persönliches Darlehen" von 200 000 Euro gewährt haben, zehn Prozent der Kampagnen-Kosten. Die Obergrenze bei Privatspenden für politische Zwecke liegt bei 6000 Euro. Europas Demokraten in Parlament, Ministerrat und Kommission fürchten, die populistische Bewegung könne sich aus dunklen Finanzquellen speisen. Ganleys Unternehmen Rivada Networks soll als Partner im Joint Venture Rivada Pacific US-Militäraufträge für etwa 200 Millionen US-Dollar erhalten haben.
Jene, die lautstark Plebiszite über die EU-Verträge fordern, äußern sich nicht zu den Ablehnungsgründen in Irland, zu denen die Bewahrung der Abtreibungsverbote und der exzessiven Steuervorteile für Unternehmen zählten. Kritiklos loben sie das Nein auf einem Stimmzettel, der dazu förmlich aufgefordert habe. Sie schweigen auch zum irischen Sonderweg,
Politische Kampagnen kosten Geld. Die Parteispendenskandale zeigen die ausufernden Kosten, das Bundesverfassungsgericht müht sich um die Beschränkung der Parteienfinanzierung.
Europa - eine heterogene Zweck- und Rechtsgemeinschaft
Warum kündigten Politiker wie Alfred Gusenbauer, damals österreichischer Bundeskanzler, und der heutige Amtsinhaber Werner Faymann in einem Leserbrief vom 27. Juni 2008 an die Wiener "Kronenzeitung" Volksabstimmungen über künftige EU-Verträge an und beugten sich so der Anti-Europa-Hetze des Boulevardblatts? Damit unterwerfen sie die Außenpolitik des Landes einer Zeitung, die nach einem Urteil des Wiener Landesgerichts für Strafsachen antisemitisch genannt werden darf.
Die vor-rechtliche Nation schaffe sich ihren Staat, heißt es, als ethnische Gemeinschaft sei die Bevölkerung ein historisch gewachsenes Volk.
In der von Kapitalmaximierung bestimmten Welt zieht es alle an die vollsten Fleischtöpfe: Ubi bene ibi patria (Cicero). Vor 100 Jahren war das Wort der Nationen der Krupps und Krauses ein Synonym für die sozialen Gegensätze. Auch heute gibt es kein solidarisches Wir-Gefühl der hochbezahlten Manager; ihnen sind die Menschen eine Verschiebungsmasse zur Beeinflussung der Börsenkurse. Wohlhabende pflegen den Neid auf die "Sozialschmarotzer". In den Bundes- und regionalisierten Staaten fehlt der Wille zum Finanzausgleich für wirtschaftlich schwächere Gebiete. Wo aber keine Solidarität ist, besteht keine Gemeinsamkeit, keine Schicksalsgemeinschaft,
Die Bevölkerungszusammensetzung der Staaten Europas ändert sich. So sind beispielsweise schon 45 Prozent der Bewohner Rotterdams Migranten aus fast 170 Staaten. Bürgermeister der Stadt ist mit Ahmed Aboutaleb ein gebürtiger Marokkaner mit doppelter Staatsangehörigkeit. In westdeutschen Großstädten werden mehr Kinder ausländischer - vor allem türkischer - als deutscher Eltern geboren. Bald ist ein Drittel der Bewohner nicht-deutscher Herkunft. "Deren Identität speist sich auch aus ihrer jeweiligen Vergangenheit und Erinnerung, die eine andere ist als derjenigen, die schon immer hier waren."
Die Staaten zerbröseln: 2008 verbot Madrids Verfassungsgericht dem Baskenland das Plebiszit über eine bloße Konföderation mit Spanien; auch Katalonien versteht sich als eigene Nation; in Italien will die Lega Nord Padaniens Unabhängigkeit; auch in Schottland gibt es Unabhängigkeitsbestrebungen; in Frankreich wächst in Okzitanien eine eigene Identität; die Schweiz ist gespalten in die deutschen und die welschen Teile; und Deutschland zerfällt in die frühere DDR und BRD.
Im Geflecht rechtlicher und soziologischer Beziehungen ohne emotionalen Inhalt sind die Staaten als Zweck- und Rechtsgemeinschaft die Summe der Einzelnen, kein Kollektivsubjekt. Kann für den Nationalstaat nicht vom "Volk" geredet werden, ist es blauäugig, wenn das Maastricht-Urteil
Mitgliedstaaten ohne ökonomischen Handlungsspielraum
Europa ist ein heterogenes Gebilde konkurrierender Regionen. Für eine oft "verwässert" scheinende gemeinsame Meinung braucht es Kompromisse. Nationale Politiker beklagen dann ihre von "Brüssel" eingeschränkte Handlungsfähigkeit. In Wahrheit lassen ihnen die Globalisierung und internationale Verflechtung der Finanzmärkte keinen ökonomischen Handlungsspielraum. "Weltwirtschaftliche Einflüsse sind heute stärker als fast alles, was die Geld- oder Fiskalpolitik [der nationalen Notenbanker und Haushaltspolitiker] ihnen entgegensetzen können."
Anders als die Gegner des Lissabon-Vertrags meinen, kann heutzutage kein Staat seine Souveränität verlieren - in der global vernetzten Welt besitzt er keine mehr. Damit entfällt die inhaltliche Begründung für Referenden über EU-Verträge. Stärker als Parlamentsvoten unterliegen die Plebiszite sachfremden Motiven, werden zum Votum über die Regierung. Hat sie einen guten Stand wie in Spanien und Luxemburg, gehen sie positiv aus. Die negativ verlaufenen Referenden in Frankreich, den Niederlanden und Irland hatten mit Europa kaum etwas zu tun. Zudem wächst das politische Desinteresse, wie die beständig sinkende Wahlbeteiligung in Deutschland belegt. Bei der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte, wahrlich eine überschaubare Entscheidung, liegt diese oft nur noch bei etwa 30 Prozent.
Gesellschaftlichen Fortschritt durchsetzen
Gesellschaftlicher Fortschritt muss häufig gegen die Mehrheit durchgesetzt werden, wie zum Beispiel die Gleichberechtigung der Frau vom Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof. In den Grundgesetzberatungen 1948/49 setzte Elisabeth Selbert, SPD-Mitglied im Parlamentarischen Rat, mit einer Bürgerinitiative die Aufnahme des Satzes "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" ins Grundgesetz durch (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG) - ein Referendum wäre gescheitert. Gegen "nachdrückliches konservatives Beharrungsbedürfnis"
Die Unionsbürger wollen soziale Sicherheit von einer starken EU.
Wie jedes große Staatsgebilde wirkt das vereinte Europa, nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG ein Ziel deutscher Politik, zenhipetal, nur so kann Gemeinsamkeit wachsen. Es schließt regionales Bewusstsein, Kultur und regionale Sprachen
Die Schaffung der Verfassung folgt der Vereinigung, so wie nach 1945 die Alliierten die deutschen Länder schufen, über deren Verfassung dann abgestimmt wurde. In keinem Staat, erst recht nicht im großen Europa, besteht von vornherein ein Grundkonsens, der auf der Freiwilligkeit gemeinsamen Zusammenlebens basiert und eine Verfassungsbildung von unten erlaubt. In überschaubaren, vor allem kommunalen Fragen können Plebiszite zur Selbstorganisation sinnvoll sein, so in Bremen das Volksbegehren für ein personalisiertes Wahlrecht oder in Berlin zum Unterrichtsfach Religion als Wahlpflicht alternativ zum Ethik-Unterricht.
Nicht nur wegen der Sprachprobleme können im zerklüfteten, heterogenen Europa Referenden nicht grenzübergreifend sein. Sie würden die kleinen Mitgliedstaaten marginalisieren. Das Europaparlament besteht daher aus Mandatskontingenten. Neben dem gewichteten Stimmrecht der Mitgliedstaaten im Ministerrat ist es eine Form von parlamentarischem Föderalismus.
Bürgerinitiativen wirken auch ohne viele Unterstützer. Nur eine Minderheit trug die 68er-Bewegung, die Europa modernisierte, oder die Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss sowie heute die Demonstrationen gegen die Castor-Transporte nach Gorleben.
Die Welt dreht sich immer schneller. Die Globalisierung und ihre Folgen machen vor dem zersplitterten Europa nicht halt. Mit demokratisch nicht legitimierter Macht treiben globale Firmen die Staaten vor sich her. Die Bilanzsumme der Deutschen Bank lag 2007 bei zwei Billionen Euro, was 80 Prozent des deutschen Bruttoinlandprodukts (BIP) entspricht; die der vier größten britischen Banken war mehr als viermal so hoch wie das BIP. Staatliche Souveränität ist mangels Handlungsmöglichkeiten bloße Theorie. Klimawandel und Energiekrise fordern gemeinsames Handeln, der Terrorismus zwingt zu gemeinschaftlicher Abwehr und die weltweiten Flüchtlingsströme brauchen eine einheitliche Entwicklungspolitik. Die Gefahren für die Unabhängigkeit der östlichen EU-Mitgliedstaaten, ihre Existenzangst vor Russland bedürfen einer gemeinsamen Sicherheits- und Militärpolitik. Für ihre politische, wirtschaftliche und militärische Sicherheit brauchen die Europäer jenseits mentaler Befindlichkeiten starke zentrale Organe und Institutionen, nicht Referenden. Mehr Demokratie findet im Europaparlament statt, der Lissabon-Vertrag stärkt sie weiter. Die Beteiligung der nationalen Parlamente an den Entscheidungen ihrer Regierungen im Ministerrat müssen die Mitgliedstaaten regeln.