Einleitung
Schon seit längerer Zeit lässt sich feststellen, dass sich eine erhebliche Kluft aufgetan hat zwischen Eliten und Bürgerinnen und Bürgern, wenn es um den europäischen Einigungsprozess geht. Während ihn Erstere enthusiastisch verteidigen, zeigt sich unter Letzteren allenfalls lauwarme Zustimmung, vielfach auch Skepsis. Im Jahr 2005 lehnten 55 Prozent der Franzosen und 62 Prozent der Niederländer die "Verfassung für Europa" ab. Der damalige französische Staatspräsident Jacques Chirac hatte diese Abstimmung aus freien Stücken angesetzt.
Die Ablehnung traf ihn und ganz Europa wie ein Donnerschlag, konnte man doch sagen, dass diese Verfassung einen klaren Fortschritt der Europäischen Union (EU) im Hinblick auf Demokratisierung, Transparenz und Effizienz der Entscheidungsstrukturen mit sich gebracht hätte. EU-freundliche Kommentatoren suchten - und fanden auch - die Gründe für dieses Resultat, die, wie sich herausstellte, mit der Verfassung selbst wenig zu tun hatten - sondern vor allem mit der Unbeliebtheit von Präsident Chirac. Es scheint in der Tat, als verstünde das Volk ein so komplexes Thema wie die europäische Integration nicht wirklich, weshalb es besser wäre, die Entscheidung darüber seinen gewählten und fachkundigen Repräsentanten zu überlassen.
Kluft zwischen Eliten und Bürgerinnen und Bürgern
Eine Kluft zwischen Eliten und Bürgern zeigen auch repräsentative Umfragen unter beiden Gruppen über die Zustimmung zum Integrationsprozess. 1996 wurden von Gallup Europe fast 4000 Spitzen-Entscheidungsträger (Politiker, hohe Beamte, Wirtschaftsführer, Medien- und kulturelle Eliten) in allen 15 Mitgliedsländern der EU befragt. Ihnen wurde die auch in den Eurobarometer-Umfragen regelmäßig enthaltene Aussage vorgelegt: "Die Mitgliedschaft [unseres Landes] in der EU ist eine gute Sache, eine schlechte Sache, weder gut noch schlecht." 94 Prozent dieser top decision makers beantworteten die Frage mit Ja, aber nur 48 Prozent der Bevölkerung! Ganz ähnlich waren die Ergebnisse auf die Frage, ob die EU-Mitgliedschaft insgesamt von Vor- oder Nachteil für das eigene Land sei: 90 Prozent der Eliten, aber nur 43 Prozent der europaweiten Bevölkerung sahen einen Vorteil darin, 8 Prozent bzw. 36 Prozent einen Nachteil.
Seit Volksabstimmungen über den Beitritt zur EU bzw. zu ihrer institutionellen Vertiefung durchgeführt werden, treten markante Differenzen in den Ergebnissen von Referenden und parlamentarischen Abstimmungen zutage. Dazu ein paar Beispiele:
Der schweizerische Ständerat hatte 1992 mit 85 Prozent für den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EEA) gestimmt; die Bürger lehnten diesen dann aber mit 50,3 Prozent ab.
1994 stimmten die Schweden über den EU-Beitritt ab; lag unter der Bevölkerung die Zustimmung bei 52 Prozent, befürworteten ihn die Abgeordneten im Riksdag zu 88 Prozent.
Der Vertrag von Lissabon, der Nachfolgevertrag der "Verfassung für Europa", ist mit dieser zu rund 95 Prozent identisch. Die Sozialistische Partei Frankreichs forderte daher eine Wiederholung der seinerzeitigen Volksabstimmung. Dieser Antrag wurde von einer Parlamentsmehrheit abgelehnt; die dann folgende Abstimmung über den Vertrag erbrachte 88 Prozent Zustimmung; auch der niederländische Senat stimmte dem Vertrag mit fast 90 Prozent zu; das Volk hatte die EU-Verfassung 2005 fast mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt.
Die Soziologie kann einen wesentlichen Beitrag zur wissenschaftlichen Analyse des Integrationsprozesses leisten. Juristen und Ökonomen sehen ihn vor allem aus ihrer spezifischen Sichtweise; viele von ihnen werden als Experten kontinuierlich in den Integrationsprozess einbezogen und stellen einen großen Teil der EU-Beamten, des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) usw. Sie fragen meist nur, wie der Integrationsprozess möglichst reibungslos und effizient gestaltet werden kann. Explizite Integrationstheorien wurden vor allem von der Politikwissenschaft entwickelt.Die intergouvernementalistische Theorie erklärt die Integration aus dem Bestreben der Nationalstaaten, ihre Autonomie auch im Zeitalter der Globalisierung zu sichern; sie fragt nur nach den Interessen von Staaten und Regierungen, vernachlässigt jedoch die Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten. Die neofunktionalistische Integrationstheorie nimmt an, dass der Integrationsprozess, nachdem er einmal in einem Bereich in Gang gekommen ist, sich mehr oder weniger kontinuierlich auf viele andere Bereiche ausweitet; dabei entstehende Widersprüche und Konflikte werden kaum thematisiert. Typisch für diesen Ansatz ist auch eine Vermengung der funktionalen und kausalen Perspektive: Die Tatsache, dass ein Ziel der Integration erreicht wurde, beweist nicht, dass dieses von den Eliten angestrebt war.
Ich gehe von der Grundannahme aus, dass sich der Integrationsprozess entfaltet als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppen von Eliten einer- und zwischen diesen und den Bürgern andererseits. Dabei spielen sowohl Interessen wie auch Ideen und Werte eine wichtige Rolle. Die zentralen Thesen lauten: (1) Die Integration ist in hohem Maße den Interessen der Eliten zugute gekommen, während (2) die Vorteile für die Bürger weit weniger spektakulär sind, als in offiziellen Reden und Schriften vielfach dargestellt. (3) Eine Kluft zwischen Eliten und Bürgern gibt es auch im Hinblick auf die Werte, die der Integration zugrunde liegen.
Betrachten wir zunächst die Interessen und Vorteile, welche die Eliten aus der Integration beziehen. Eliten werden hier definiert als Inhaber einflussreicher Positionen, etwa Regierungsmitglieder, Abgeordnete, Unternehmer und Manager, Spitzenbeamte usw. Mit dem Elite-Begriff ist keinerlei Wertung verbunden. Jede moderne, komplexe Gesellschaft braucht Eliten. Kennzeichnend für Demokratien ist jedoch, dass die Auswahl der Eliten, ihre Interessen und Netzwerke und ihr Verhalten öffentlicher Kontrolle zugänglich sein müssen.Drei Gruppen von Eliten müssen wir betrachten, wenn es um die europäische Integration geht: die politischen, die ökonomischen und die neuen europäischen bürokratischen Eliten. Interessen der Eliten an der EU
Wie haben die politischen Eliten von der Integration profitiert? Auf den ersten Blick scheint es ja paradox zu sein, dass die nationalen Regierungen bereit waren, erhebliche Teile ihrer Kompetenzen an die EU abzugeben. Dieser Verlust wurde durch die EU-Mitgliedschaft jedoch mehr als aufgewogen. Vier Aspekte sind hier relevant.
Die EU dient oftmals als Reformhebel. Die politischen Eliten in vielen Ländern haben den EU-Beitritt angestrebt, weil sie sich nicht in der Lage sahen, in ihrem eigenen Land längst überfällige Reformen durchzusetzen. So wurde in Österreich 1994 ganz offen gesagt, dass Verkrustungen und Klientelismus nur aufgebrochen und grundlegende Reformen realisiert werden könnten, wenn man der EU beitrete. Ähnliches galt für Schweden. Die Italiener erwarteten von der EU von Beginn an, dass sich durch die Mitgliedschaft viele Probleme ihres Landes lösen. In diesem wie in vielen anderen Ländern strebte man die Teilnahme an der gemeinsamen Währung auch deshalb an, weil damit die Verpflichtung zu Haushaltsdisziplin aufgezwungen wurde.
Die EU-Mitgliedschaft eröffnet eine Vielzahl neuer politischer Ämter und Karrieren. Muss ein Abgeordneter heute im nationalen Parlament einem jüngeren Bewerber Platz machen, kann er nach Brüssel wechseln; setzt ihn eine Partei auf einen guten Listenplatz, ist seine Wahl sicher; selbst ein abgewählter Ministerpräsident hat die Chance, als Kommissionsmitglied oder -präsident eine respektable Nachfolgeposition zu finden.
Die riesigen Mittel, die über die EU-Agrar- und Strukturpolitik verteilt werden, eröffnen den nationalen und regionalen Politikern eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten, ihre Klientel und Wähler mit Förderungen und Subventionen aller Art zu beglücken. Nicht umsonst verteidigen die Regierungschefs den Spielraum in diesem Bereich gegenüber Parlament und Kommission mit besonderer Hartnäckigkeit.
Auch der Gewinn von Prestige kann eine starke Antriebskraft sein. Jedes große, feierliche Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs bietet den nationalen Regierungsmitgliedern die Möglichkeit, sich auf einer internationalen Bühne zu präsentieren und in einer besonderen Aura zu sonnen. Kein solches Treffen geht ohne Fototermin vorbei. Noch größer ist der Prestigegewinn, wenn ein Kleinstaat die Präsidentschaft der EU, also einer politischen Gemeinschaft von fast einer halben Milliarde Menschen, übernehmen kann.
Welche Vorteile ziehen die wirtschaftlichen Eliten, Unternehmer, Manager und ihre Verbände aus dem Integrationsprozess? Ich möchte hier zwei hervorheben.
Die Landwirtschaft war einer der ersten substantiellen Politikbereiche der EU, und sie ist bis heute der mit Abstand größte Brocken des EU-Haushalts. Wer profitierte von den 55 Milliarden Euro, die hier 2008 ausgegeben wurden? Unter Experten besteht weitgehend Einigkeit darüber: Die EU-Agrarpolitik muss als eine Umverteilung weg von den Konsumenten angesehen werden: hin zu den Produzenten, vor allem zu den großen.Nur etwa ein Drittel aller Direktzahlungen an Landwirte kommt kleineren und mittleren Betrieben mit bis zu 20 Hektar (ha) zugute; Großbetriebe mit 100 ha und mehr - weniger als ein Prozent aller Betriebe - erhalten 13 Prozent aller Zahlungen. Bis vor kurzem waren die Namen dieser Betriebe noch streng geheim. Auch großindustrielle Lebensmittelproduzenten erhalten beachtliche Zahlungen. Diese Agrarpolitik wird von der EU-Bürokratie unterstützt; für die ungeheuer komplizierte Verwaltung und Verteilung dieser Gelder sind rund 5000 Beamte notwendig und ihre Jobs würden mit einer Rückverlagerung dieser Politik in die Mitgliedstaaten (wie sie der ehemalige Agrarkommissar Franz Fischler sogar erwog) nahezu ersatzlos entfallen.
Welche Interessen wurden durch die europäische Integration im Bereich von privaten Unternehmern tangiert? Weit verbreitet ist die Ansicht, dass die EU ein neoliberales Projekt der Liberalisierung und Deregulierung darstellt. Dies ist jedoch nur teilweise richtig. Die Großunternehmer in Industrie und Finanzwesen waren von Beginn an entschiedene Befürworter der Integration, weil die Europäische Kommission mit ihnen das Ziel teilte, sie zu global players auf dem Weltmarkt zu machen. Die Vergrößerung ihres Heimatmarktes war dazu die eine, die Unterstützung ihrer technologisch-wissenschaftlichen Innovationskraft durch Forschungssubventionen die andere Strategie (im 7. Rahmenprogramm für Forschung und Entwicklung über 50 Milliarden Euro). Diese Förderungen werden ergänzt durch eine "strategische Industrie- und Handelspolitik" der EU, in deren Rahmen bestimmte Industriesektoren von äußeren Märkten abgeschirmt werden. Firmenzusammenschlüsse werden von der EU-Kommission aktiv gefördert, die Fusionskontrolle hat nur in einem minimalen Anteil der Fälle zu einer Untersagung von Zusammenschlüssen wegen der Entstehung marktbeherrschender Stellungen geführt.
Aus all diesen Gründen haben die wirtschaftlichen Eliten seit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als treibende Kraft gewirkt. Ihre Interessen werden in Brüssel in einer für die Öffentlichkeit wenig transparenten Weise von zehn- bis fünfzehntausend Lobbyisten vertreten.Machtvolle "Eurokratie"
Die "Eurokratie", die neue europäische Beamtenschaft, ist vielleicht der mächtigste und zugleich am stärksten verkannte Akteur im Prozess der europäischen Integration. Ihre Interessen sind auf Gedeih und Verderb mit der EU verknüpft. Drei Aspekte sind hier relevant.
Die Gehälter und Arbeitsbedingungen der Beamten der EU weisen diese als Angehörige einer eigenen Klasse aus. Es ist ohne Zweifel berechtigt, dass die Zusatzkosten und -mühen von Beamten, die nach Brüssel übersiedeln und dort leben, in ihrem Gehalt zum Ausdruck kommen sollen. Faktisch sieht dies aber so aus, dass ihre Gehälter weit (oft das Doppelte oder Dreifache) über jenen von nationalen Beamten liegen. Dazu kommen umfangreiche Sonderzahlungen für Übersiedlungs- und Wohnkosten, niedrige Steuern, lebenslange Anstellung und großzügige Pensionsregelungen. Wie attraktiv Jobs in der Eurokratie sind, zeigt sich in den jährlich EU-weit abgehaltenen Auswahlverfahren für die Einstellung neuer Beamter. Für einige tausend Stellen bewerben sich jeweils bis zu 50 000 Personen. Max Weber schrieb schon 1918, dass die Bürokratie in modernen Gesellschaften den mächtigsten Herrschaftsapparat darstellt.Die Eurokratie ist welthistorisch wohl die erste Bürokratie, die selbst die Befugnis zum Erlassen von Gesetzen und Regulierungen erhielt; bislang standen Bürokratien stets im Dienste von (politisch oder wirtschaftlich) Herrschenden. Des Weiteren gilt, dass die Eurokratie keineswegs jene schlanke, effiziente Organisation darstellt, als die sie oft charakterisiert wird. EU-Kommissar Günter Verheugen hat festgestellt, dass inzwischen die Hälfte der Tätigkeit der Eurokratie nur mit der Bewältigung ihrer internen Abläufe zu tun hat. Eine EU-Bürokratiereform sollte seiner Meinung nach "messbare positive Einflüsse auf Wachstum und Beschäftigung" haben (womit er implizit sagte, dass die Eurokratie diese derzeit hemmt). Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach vor dem deutschen Bundestag 2006 von einem "revolutionären Schritt" der notwendig sei im Hinblick auf den EU-Bürokratieabbau. Im Jahre 2005 umfasste das "Amtsblatt der Europäischen Union" 349 Bände oder 21 000 Seiten. Keines der EU-eigenen Reformprogramme hat jedoch zu einem signifikanten Erfolg geführt - vor allem deshalb nicht, weil sich die Reformer die Zähne an den starken Direktoren, Abteilungsleitern und Gewerkschaften ausgebissen haben. Die 36 Generaldirektoren der EU, die auf Lebenszeit bestellten "heimlichen Macher von Europa", sind vielfach mächtiger als die EU-Kommissare. Sie kennen nicht nur alle internen Abläufe bestens, sondern haben auch umfangreiche Befugnisse. Sie entscheiden, welche der vielen tausend Erlässe und Regulierungsakte überhaupt auf den Tischen der politisch ernannten Kommissare landen.
Als Folge der ständig zunehmenden Politikfelder, in denen die EU Regulierungen erlässt, ist eine kontinuierlich steigende Zahl von Beamten notwendig. Die EU-Bürokratie wird im Vergleich zu nationalen Verwaltungen zumeist als besonders schlank und klein charakterisiert. Dabei werden jedoch drei Fakten übersehen: (1) Die Europäische Gemeinschaft (EG) bzw. EU ist erst ein halbes Jahrhundert alt - man müsste sie also mit der französischen oder preußischen Verwaltung im 17. Jahrhundert vergleichen. (2) Die Eurokratie wächst seit ihrer Gründung kontinuierlich an - alle zehn Jahre um rund 10 000 Beamte. (3) Es gibt in den Verwaltungen der Nationalstaaten, ihrer Regionen und Städte inzwischen eine respektable EU-Stellvertreterbürokratie, also Beamte, die ausschließlich mit EU-Angelegenheiten befasst sind. Ich habe Spezialstudien in vier Regionen jeweils in Italien, Österreich, Deutschland und Schweden durchführen lassen, in denen ihre Anzahl erfasst und auf die gesamte EU hochgerechnet wurde. Es ergaben sich nochmals mindestens 20 000 Beamte.Interessen und Wahrnehmungen der Bürgerinnen und Bürger
Folgende der mit der Integration verbundenen Werte sind von größter Wichtigkeit: Erhalt und Förderung von Wirtschaftswachstum und Wohlstand sowie Sicherung von Frieden und von Demokratie. Wir müssen uns hier zwei Fragen stellen: Inwieweit lagen diese Werte, Ziele und Interessen tatsächlich dem Integrationsprozess zugrunde? Inwieweit wurden sie durch ihn bzw. seine Proponenten, die Eliten, gefördert?
Glaubt man den Aussagen der Eliten, so steht dies außer Frage. Die Einigung wird von Politikern als welthistorisch beispiellose Leistung gepriesen: "Als der [Welt]krieg zu Ende ging, lag Europa in Trümmern. Heute steht die EU wie ein Denkmal für politische Errungenschaften da. Fast 50 Jahre Frieden, 50 Jahre Wohlstand, 50 Jahre Fortschritt" - so Tony Blair 2005.Dass Europa tatsächlich einen großen Fortschritt gemacht hat, ist nicht zu bezweifeln. Die Frage ist jedoch, ob es in erster Linie die europäische Integration war, die dies bewirkt hat. Wie sah die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung in den Mitgliedsländern der EU aus? Betrachtet man die Jahre 1995 bis 2005 und vergleicht die EU mit den Vereinigten Staaten und Japan, so ist das Bild keineswegs berauschend. Nur in einem von fünf besonders wichtigen Aspekten - Wirtschaftswachstum, Inflation, Beschäftigungsrate, Arbeitslosigkeit und soziale Standards - schnitt die EU sehr gut ab (Inflation) - zweitplaziert hinter Japan; im Wirtschaftswachstum lagen die EU und Japan deutlich hinter den USA; bei Beschäftigung und Arbeitslosigkeit dagegen lag die EU auf dem dritten und somit letzten Platz - ein eindeutiger Versager. Zu konstatieren ist auch eine deutliche Zunahme der ökonomischen Ungleichheit in Europa. Laut tief gehenden ökonomischen Analysen hat die europäische Integration das Wirtschaftswachstum allenfalls in bescheidener Weise verstärkt.
Wie sieht die Bevölkerung diese Trends? Im Eurobarometer wird die Frage gestellt, in welchen Politikbereichen die Befragten eine eher positive oder eine negative Rolle der EU sehen. 2004 meinte die große Mehrheit der Befragten, dass die EU in drei von fünf Bereichen - Arbeitslosigkeit, Inflation und soziale Standards - eher eine negative als eine positive Rolle spiele; die positive Bewertung überwog nur im Bereich der Bekämpfung der Kriminalität. Anscheinend sind diese Wahrnehmungen der Bevölkerung nicht ganz unzutreffend. In Ländern, die eine weniger positive Entwicklung zu verzeichnen hatten - darunter vor allem die großen Gründungsstaaten Deutschland, Frankreich und Italien - hat die Bevölkerung ein viel weniger positives Bild, als in Ländern wie Spanien oder Irland. Soziale Gruppen, die von den Entwicklungeneher negativ betroffen waren, - wie Menschen in weniger qualifizierten und weniger gut bezahlten Berufen, generell auch Frauen -, sehen die Integration weniger positiv als jene, die davon eindeutig profitierten. Die EU besitzt also auch eine geringe "Output-Legimität", um einen eher fragwürdigen Begriff zu verwenden.
Wie sah es mit der Sicherung des Friedens aus, dem zweiten, unbestrittenen Grundwert der EU? Dass der Frieden in Europa einen historischen Fortschritt darstellt, zieht niemand in Zweifel. Fraglich ist jedoch auch hier, ob man ihn der Integration zuschreiben kann. Wir können hier die berühmte These von Kant anführen, wonach "ewiger Frieden" zwischen Nationen vor allem durch eine Bedingung herbeigeführt wird, nämlich Demokratisierung. Die Begründung ist sehr einfach: Von einem Krieg profitieren vor allem Eliten, während die Bevölkerung darunter nur leidet; sie wird es sich daher gründlichst überlegen, bevor sie dem Beginn eines Krieges zustimmt. Diese "Theorie des demokratischen Friedens" wurde in Hunderten von politikwissenschaftlichen Arbeiten untersucht und keine einzige konnte sie widerlegen.Es war also auch in Europa vor allem die Demokratisierung nach 1945 in Deutschland, dann in Südeuropa und zuletzt in Osteuropa, die den Frieden sicherte, aber nicht die europäische Integration. Frieden und Demokratie im Lissabon-Vertrag
Wie relevant Frieden als Grundwert der europäischen Integration ist, kann auch am Stellenwert dieses Ziels in der "Verfassung für Europa" bzw. im Vertrag von Lissabon abgelesen werden. Eine Inhaltsanalyse dieser Texte erbrachte ein erstaunliches Ergebnis. Sie sind ja nicht nur äußerst umfangreich, - weit umfangreicher als die Verfassungen aller Mitgliedstaaten - sondern auch voll von schönen Wertbegriffen; über 600 werden genannt. Dies entspricht der Charakterisierung der EU als "Wertegemeinschaft" - eine höchst seltsame Charakterisierung, wenn man bedenkt, dass die EU keine soziale Bewegung oder weltanschauliche Vereinigung ist, sondern eine politische Interessengemeinschaft. Das Ziel bzw. der Wert "Frieden" kommt im Verfassungsvertrag sehr selten vor, nur elf Mal - dagegen Begriffe wie "Sicherheit" und "Freiheit" weit über hundert Mal. Mehrere Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten enthalten explizit Zielsetzungen wie Sicherung des Friedens, Verzicht auf Krieg als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte, Rüstungsabbau und ähnliches. Nichts davon findet sich im EU-Vertrag. Dagegen sehr wohl Hinweise und Ziele mit einer ganz anderen Intention, etwa derart, dass die Union eine gemeinsame Verteidigungspolitik entwickeln will, dass sie im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nicht näher spezifizierte "Missionen" auch außerhalb ihres Territoriums durchführen soll, und dass die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, ihre militärischen Kapazitäten laufend zu erhöhen.
Wie steht es mit dem Wert der Demokratie? Demokratie ist für die EU tatsächlich grundlegend: Jeder Staat, der sich heute um die Mitgliedschaft bewirbt, muss strenge Auflagen erfüllen. Durch den Vertrag von Lissabon würde der demokratische Charakter der EU selbst verstärkt, so durch die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte des Europäischen Parlaments und durch die Einführung des direkt-demokratischen Elements einer Bürgerinitiative. Würde die Vertiefung der Integration damit zu einer Stärkung der Demokratie beitragen? Auch hier sind Zweifel angebracht. Ich möchte dazu drei Aspekte anführen.
(1) Betrachten wir wieder die grundlegenden Vertragstexte, so kommt auch der Begriff der Demokratie nur knapp zehn Mal vor. (2) Ob die Stärkung des EU-Parlaments eine wirkliche Stärkung der Demokratie bedeutet, ist eine berechtigte Frage. Seit längerer Zeit ist ein kontinuierlicher Rückgang bei der Beteiligung an den Europawahlen festzustellen; im Jahre 2004 betrug diese nur 45 Prozent; auf der Ebene der Nationalstaaten zeigt sich kein vergleichbarer Trend. Der Grund ist evident: Das Europaparlament ist von den Bürgern sehr weit entfernt, sie erfahren fast nichts darüber. Es gibt dort auch keine wirklich harten politischen Debatten, weil das politische System der EU nach dem Konkordanzprinzip funktioniert. Das heißt, grundlegende Entscheidungen werden bereits im Vorfeld so lange zwischen den Parteien und Institutionen verhandelt, dass bei wichtigen Abstimmungen meistens bereits alles feststeht. (3) Auch die vielgepriesene Bürgerinitiative würde ein zahnloses Instrument bleiben: Wenn sie eine Million Bürger aus mehreren Mitgliedstaaten zusammenbringt, passiert nicht mehr, als dass die Europäische Kommission dazu Stellung nehmen bzw. Vorschläge ausarbeiten muss. Die Effekte von über 30 Volksbegehren in Österreich, bei denen mehrmals über 800 000 Personen teilnahmen, waren in den allermeisten Fällen gleich null. Mein Eindruck ist, dass sie der Demokratie sogar geschadet haben, da sie bei den Beteiligten das Gefühl verstärken mussten, nichts bewirken zu können.Schlussfolgerungen
Zum Abschluss noch zwei allgemeine Bemerkungen, um anzudeuten, in welche Richtung eine Reform der EU gehen müsste, um sie den Bürgern näher zu bringen.
Das politische System der EU ist, wie bereits angedeutet, ein Konkordanzsystem. Im Unterschied zu einem Westminster- oder Wettbewerbssystem, bei welchem sich Regierung und Opposition offene und harte Kämpfe liefern und einander in der Regierung abwechseln, werden im Konkordanzsystem über alle wichtigen Entscheidungen so lange Verhandlungen geführt, bis alle zustimmen können. Ein solches System ist nicht grundsätzlich schlechter als ein Wettbewerbssystem.Es gibt dazu in einem höchst heterogenen und "konsolidierten" politischen System, wie es die EU darstellt, auch keine Alternative. Ein Mehrheitssystem könnte ihren Zerfall zur Folge haben, da Koalitionen von wenigen großen Staaten in der Lage wären, alle übrigen zu majorisieren.
Neben seiner integrierenden Wirkung hat ein Konkordanzsystem jedoch eine höchst problematische Folge: Während die Zusammenarbeit zwischen den Eliten gut funktioniert, haben die Bürger wenig Möglichkeiten zu politischem Einfluss. Aus dieser Sicht ist das politische System der Schweiz ein ausgezeichneter Vergleichsfall für die EU: Auch sie ist sehr vielfältig und besitzt ein politisches Konkordanzsystem. Das Defizit der geringen Bürgerbeteiligung wird aber durch regelmäßige und bindende Volksabstimmungen zu wichtigen Fragen ausgeglichen. Auch wenn solche Abstimmungen keinen Erfolg haben, ist ihre Wirkung bedeutsam, da es zu den jeweiligen Themen eine breite, öffentliche Debatte gibt. Volksabstimmungen in der EU müssten in allen Mitgliedsländern zu ein- und demselben Termin und nach vorher klar definierten Regeln im Hinblick auf die Bewertung des Resultats abgehalten werden. Die Fragestellungen der Abstimmungen müssten kurz und klar formuliert und die Positionen der Proponenten und Gegner offen dargelegt werden. Das Argument des zu geringen Interesses und Wissens der Bevölkerung würde damit auch hinfällig - ganz abgesehen davon, dass das Wissen ihrer politischen Vertreter oft in erschreckender Weise zu wünschen übrig lässt.
Meine zweite Schlussfolgerung lautet, dass die EU von ihren immer wieder vollmundig verkündeten Zielen Abstand nehmen müsste. Schon bei der Verabschiedung des Lissabon-Zieles (in zehn Jahren zum innovativsten und wettbewerbsstärksten Wirtschaftsraum der Welt zu werden) war klar, dass dies völlig unrealistisch war. Die immer wiederkehrende Ankündigung derart ambitionierter, aber unrealistischer Ziele erhöht nur die Unglaubwürdigkeit der EU beim allgemeinen Publikum. Dies gilt auch im Hinblick auf das vielbeschworene "soziale Europa"; auch hier sollte die EU sich darauf beschränken, allgemein akzeptierbare Rahmenbedingungen zu formulieren, innerhalb derer die Mitgliedstaaten ihre autonome Sozialpolitik betreiben können.