Einleitung
Seit 1979 werden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments direkt gewählt. Waren bei der ersten Direktwahl noch 184 Millionen Bürgerinnen und Bürger in neun Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) wahlberechtigt, werden es nun bei der siebten Wahl rund 378 Millionen Bürger in mittlerweile 27 Ländern der Europäischen Union (EU) sein. Erhöht hat sich auch die Zahl der Parlamentarier, wenn auch nicht proportional zur Bevölkerung: Vor 30 Jahren zählte das bis 1986 offiziell "Gemeinsame Versammlung" genannte Parlament noch 410 Abgeordnete, nach dem derzeit gültigen EU-Vertrag von Nizza werden 2009 insgesamt 736 Abgeordnete gewählt. Damit repräsentiert das europäische Parlament (EP) als direkt gewählte Institution weltweit die zweitgrößte Anzahl an Bürgern. Nur in Indien können mehr Menschen in allgemeinen, freien, direkten und geheimen Wahlen über ihre parlamentarische Vertretung entscheiden.
Die Einführung der Direktwahl des Europäischen Parlaments (Direktwahlakt 1976) erfolgte in einer Phase des "Stillstands" der Europäischen Integration. Die direkte Wahl der einzigen, durch die Bürger selbst legitimierten politischen Institution der damaligen EG sollte das Gemeinschaftsgefühl stärken und die politische Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses sichern. Mit der Einführung der Direktwahl und durch nachfolgende Vertragsänderungen erhielt das Europäische Parlament einen immer größeren Stellenwert. Nach einer Analyse von Andreas Maurer und Wolfgang Wessels hat der Anteil derjenigen Artikel der Vertragstexte, bei denen das EP über Beteiligungsrechte verfügt, nicht nur absolut, sondern auch im Verhältnis zum Gesamtvolumen erheblich zugenommen. Inzwischen entscheidet das EP in vielen Bereichen gleichberechtigt mit dem Ministerrat über europäische Gesetze und den EU-Haushalt. Bei der Ernennung des Präsidenten der Europäischen Kommission ist die Zustimmung unerlässlich; zudem kann es der Kommission das Misstrauen aussprechen.
Parallel zu diesem Bedeutungszuwachs würde man auch einen Anstieg der Wahlbeteiligung erwarten. Stattdessen kam es zu mitunter starken Beteiligungsrückgängen. Als Hauptursache für die niedrige Wahlbeteiligung führt die Forschung an, dass die Europawahl von Bürgern, Parteien und Medien immer noch als nationale Nebenwahl angesehen und entsprechend behandelt wird. Neben niedrigen Wahlbeteiligungsraten hat dies auch zur Folge, dass Regierungsparteien zumeist Stimmen verlieren, während vor allem kleine und neue Parteien Stimmengewinne verbuchen können.
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Europawahlen aus wahlsoziologischer Perspektive. Oft blendet die Wahlsoziologie institutionelle Rahmenbedingungen aus, da diese zumeist bekannt sind und im Zeitverlauf kaum Veränderungen unterliegen. Sieht man von einigen Ländern wie beispielsweise Italien ab, gehört das für eine Wahl wichtige Wahlsystem zu diesen stabilen institutionellen Faktoren. Dies ist, nicht zuletzt durch die Vielfalt der Wahlsysteme, bei Europawahlen anders. Deshalb werden zunächst die institutionellen Rahmenbedingungen der Europawahl skizziert, wobei der Ausgestaltung der 27 (nationalen) Europawahlsysteme besondere Beachtung geschenkt wird. Im zweiten Teil werden dann Erklärungsansätze der Wahlbeteiligung und der Parteiwahl vorgestellt und anhand einiger Befunde aus der Europawahlforschung exemplifiziert. Schließlich werden Perspektiven der Europawahlforschung diskutiert.
Eine Wahl, 27 Wahlsysteme
Bereits die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften (1957) sahen die allgemeine und unmittelbare Wahl der Mitglieder der Vorgängerinstitution des EPs nach einem einheitlichen Verfahren vor. Trotz zwischenzeitlicher Harmonisierungstendenzen besteht selbst ein halbes Jahrhundert später noch kein einheitliches Wahlverfahren. Die Wahlsysteme sind Ländersache, nur wenige Eckpunkte wurden in den bisherigen Gemeinschaftsverträgen festgeschrieben. Erst seit der Änderung des britischen Wahlsystems für die Europawahl 1999 werden die Abgeordneten in allen Mitgliedstaaten nach Verhältniswahl gewählt. Aufgrund ihres proportionalen Effekts lässt sich auch die Single Transferable Vote (Verfahren der übertragbaren Einzelstimme) in Irland, Nordirland und Malta eher den Verhältnis- als den Mehrheitswahlsystemen zurechnen. Erst nach der Änderung in Großbritannien hat der Rat der Europäischen Union mit Beschlüssen vom 25. Juni und 23. September 2002 die Verhältniswahl nach Parteilisten oder das Verfahren der übertragbaren Einzelstimme für Europawahlen verbindlich festgelegt.
Auch hinsichtlich verschiedener Wahlsystemelemente gibt es Unterschiede: Die Mitgliedstaaten können über Anzahl und Größe der Wahlkreise entscheiden, Sperrklauseln von landesweit maximal fünf Prozent festschreiben, die Abgabe von Präferenzstimmen für Kandidaten ermöglichen und verschiedene Wahlformeln für die Umrechnung der Stimmen(anteile) in Mandate anwenden. Wahlen zum EP finden demnach auf der Grundlage annähernd so vieler Wahlsysteme statt, wie EU-Mitgliedstaaten Abgeordnete direkt wählen. Deshalb ist Dieter Nohlens Bezeichnung "polymorphes Wahlsystem" alles in allem treffend. Trotz der Vielfältigkeit lässt sich jedoch auf den zweiten Blick eine Art Standard-Wahlsystem für Europawahlen erkennen. Es handelt sich dabei um die Verhältniswahl in nur einem (nationalen) Wahlkreis nach starren, das heißt nicht veränderbaren Parteilisten ohne eine Sperrklausel (wie die in Deutschland übliche Fünfprozenthürde). Die wichtigsten der zahlreichen und vielfältigen länderspezifischen Abweichungen vom "Europa-Standard" sind in Tabelle 1 zusammengetragen (vgl. PDF-Version).
Neben dem seltenen Wahlsystemtyp der übertragbaren Einzelstimme zeigt sich, dass lediglich in vier Ländern die Verrechnung von Stimmen in Mandate in mehr als einem Wahlkreis stattfindet. Häufiger sind Sperrklauseln, die es in immerhin zwölf Ländern gibt. Wie David Farrell und Roger Scully für die Europawahl 2004 zeigten, sind diese gesetzlichen Sperrklauseln jedoch in drei Fällen (Frankreich, Litauen und Zypern) ineffektiv, da die natürliche Sperrklausel höher ist. Das bedeutet, dass erst ein teilweise erheblich höherer Stimmenanteil als der gesetzlich vorgeschriebene Mindestanteil nötig ist, um einen Sitz im EP zu erringen. Im Fall Zyperns beträgt dieser Anteil 10,7 Prozent; das ist etwa das Sechsfache des gesetzlichen Mindestanteils von 1,8 Prozent.
Aber nicht nur die Wahlsysteme sind unterschiedlich, sondern auch andere, teilweise grundlegende Elemente des Wahlrechts. So haben etliche Länder ein höheres Mindestalter für Kandidaten (passives Wahlrecht). Und Österreich weicht erstmals beim Mindestwahlalter für das aktive Wahlrecht ab: Auch 16- und 17-Jährige sind, analog zur Nationalratswahl, bei der Europawahl stimmberechtigt. Alle Mitgliedsländer können, ihren nationalen Traditionen entsprechend, den Wahltag innerhalb einer vom Rat der Europäischen Union festgelegten Zeitspanne (Donnerstag bis Sonntag) selbst bestimmen, und auch hinsichtlich der Wahlzeiten (Öffnung der Wahllokale) sind sie frei.
Nationale Nebenwahlen aus Anlass einer Europawahl
Schon die erste Europawahl im Jahr 1979 hat gezeigt, dass die Wahlbeteiligung bei Europawahlen deutlich geringer ausfällt als bei nationalen (Haupt-) Wahlen, dass Regierungsparteien Stimmen verlieren, Oppositionsparteien vergleichsweise gut abschneiden und kleine Parteien bessere Wahlchancen haben. Diese Beobachtungen waren der Ausgangspunkt der von Karlheinz Reif und Hermann Schmitt entworfenen Theorie nationaler Nebenwahlen (second-order national election theory). Auf Grundlage der Charakterisierung von Europawahlen als nicht primär europäische, sondern nationale (Neben-) Wahlen, sollten Wahlbeteiligungen und Wahlergebnisse besser erklärt werden können.
Da bei Europawahlen nicht über die Macht im Staat und folglich nicht über die Vergabe von (nationalen) Regierungsämtern entschieden werde, so argumentieren Reif und Schmitt, gehe es bei den Wahlen zum Europäischen Parlament "um weniger" als bei nationalen Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen. Es könnten grundsätzlich ein bescheidenerer Wahlkampf der Parteien, eine geringere Medienberichterstattung und eine schlechtere Wählermobilisierung erwartet werden. Diese Thesen lassen sich empirisch belegen. In Deutschland betrugen die Budgets der Parteien für den Europawahlkampf 2004 weniger als die Hälfte ihrer Budgets für den Bundestagswahlkampf 2002, die Europawahl wurde von den Medien so gut wie gar nicht thematisiert, die Bürger schätzten die Europawahlebene als weit weniger wichtig ein als die Bundestagswahlebene und sie nahmen den Europawahlkampf im Vergleich zum Bundestagswahlkampf kaum wahr. Ergebnisse aus anderen EU-Ländern und vergleichende Analysen für die Europawahl 1999 stützen die Befunde aus Deutschland.
Da überrascht es nicht, dass die Wahlbeteiligungen niedrig ausfallen. Zwar spielen individuelle Charakteristika und Einstellungen wie die Sozialstruktur, Parteibindungen und politisches Interesse auch bei Europawahlen wichtige Rollen für die Wahlbeteiligung (Tabelle 2). Wie Mark Franklin, Cees van der Eijk und Erik Oppenhuis für frühere Europawahlen zeigen, ist jedoch die Mobilisierung durch Parteien und Medien als mindestens genauso wichtiger Einflussfaktor hervorzuheben. Gerade für die politisch kaum Interessierten und die parteipolitisch schwach oder gar nicht Gebundenen macht es einen Unterschied, ob sie zur Teilnahme an der Wahl mobilisiert werden oder nicht.
Zur Mobilisierung gehört auch, dass über europäische Themen gesprochen wird. Dies geschieht zwar zunehmend besser, aber immer noch nicht in dem Maße, wie es bei einer Europawahl zu erwarten wäre. Es sind häufig europakritische Parteien, denen es gelingt, durch ihre EU-Kritik einseitig Wähler zu mobilisieren. In einigen Ländern wie Dänemark kann man sogar von einem europawahlspezifischen Parteiensystem sprechen, denn regelmäßig ziehen die EU-kritischen Parteien nur ins EP, nicht aber in das Folketing (nationales Parlament) ein.
Für die meisten anderen EU-Länder ist jedoch die Bezeichnung "nationale Nebenwahl" treffend. Es findet, etwas überspitzt formuliert, eine sekundäre Wahl auf nationaler Ebene aus Anlass der Europawahl statt. Deshalb kann, wie Reif und Schmitt bereits betonten, die Europawahlebene nicht isoliert von Entwicklungen auf der nationalen Wahlebene betrachtet werden. Die relative Folgenlosigkeit dieser nationalen Nebenwahl ermöglicht es denjenigen Wählern, die mit der Arbeit der nationalen Regierung oder mit ihrer eigentlich präferierten Partei unzufrieden sind, diesen einen Denkzettel zu verpassen (voting with the boot). Andererseits müssen Wähler bei der Europawahl keine taktischen Entscheidungen, vor allem mit Blick auf mögliche Regierungskoalitionen, treffen und können deshalb bedenkenlos diejenige Partei wählen, der sie nahestehen (voting with the heart). Im Vergleich zu Volksparteien haben kleine und sich stärker politisch links oder rechts positionierende Parteien einen höheren Anteil an Wählern, die sich ihnen längerfristig verbunden fühlen. Daher sollten diese Parteien bei einer Nebenwahl (mit niedrigerer Wahlbeteiligung) stärker profitieren.
Aufgrund des nationalen Bezugsrahmens ist auch der sogenannte Wahlzyklus von Relevanz: Beteiligungsraten und Stimmenanteile für die Regierungsparteien variieren auch in Abhängigkeit von der zeitlichen Nähe bzw. Distanz zur letzten oder nächsten (nationalen) Hauptwahl. Mitten in einer Legislaturperiode fallen beide sehr niedrig aus, unmittelbar nach einer Hauptwahl sollten Regierungsparteien am wenigsten verlieren (Bestätigungseffekt), und kurz vor einer Hauptwahl sollte ein Testwahleffekt sowohl die Wahlbeteiligung erhöhen als auch dazu führen, dass die Europawahlergebnisse den nationalen Kräfteverhältnissen besser entsprechen. Ein solches Szenario gab es in Deutschland erstmals 1994 und wird es 2009 erneut geben. Viel spricht daher dafür, dass die Beteiligung an der Europawahl 2009 zumindest in Deutschland nicht weiter sinken wird und sich die parteipolitischen Kräfteverhältnisse im Wahlergebnis vergleichsweise gut widerspiegeln werden. Auch diese Komponenten der Nebenwahltheorie wurden in empirischen Analysen immer wieder bestätigt, zuletzt für die Europawahl 2004.
Ursachen für den Rückgang der Wahlbeteiligung
Politiker und Medien sehen in der Wahlbeteiligung einen wichtigen Indikator der politischen Unterstützung der EU. Wie Abbildung 1 zeigt (vgl. PDF-Version), ist die Wahlbeteiligung im EU-Durchschnitt von der ersten bis zur sechsten Wahl allerdings rückläufig - 1979 beteiligten sich noch 62 Prozent der Wahlberechtigten, 2004 waren es nur noch 45,5 Prozent.
Auf den zweiten Blick ist der Rückgang der Wahlbeteiligung weniger gravierend. Im Zuge der Erweiterung der Europäischen Union ist der Anteil der Mitgliedsländer, in denen eine Wahlpflicht besteht (Luxemburg, Belgien, Griechenland, Zypern), kontinuierlich zurückgegangen. Mit Ausnahme Zyperns sind seit 1979 ausschließlich Länder der EU beigetreten, in denen es keine Wahlpflicht gibt und in denen die Wahlbeteiligung tendenziell niedriger ist. Diese Entwicklung trägt zur Wahrnehmung einer EU-weiten Abnahme der Wahlbeteiligung bei.
Neben der Wahlpflicht spielt aber auch der zeitliche Abstand einer Europawahl zur nächsten nationalen Hauptwahl eine Rolle - die Wahlbeteiligung fällt nach einer Hauptwahl zunächst ab (oft mit einem Tiefpunkt inmitten der Legislaturperiode), steigt aber mit der Nähe zur nächsten Hauptwahl wieder an. Die durchschnittlichen Abstände zur nächsten Hauptwahl haben, wie Mark Franklin zeigt, von 1979 bis 1999 - mit der einzigen Ausnahme 1989, als die Wahlbeteiligung stabil blieb - kontinuierlich zugenommen. Zur Abnahme der Wahlbeteiligung bis einschließlich 1999 tragen demnach auch Wahlzykluseffekte bei. Schließlich ist die Wahlbeteiligung höher, wenn die Wahl zum Europäischen Parlament mit einer nationalen Hauptwahl (traditionell Parlamentswahlen in Luxemburg; 2004 auch Präsidentschaftswahl in Litauen) oder mit einer anderen wichtigen Nebenwahl (regionale Wahlen, Kommunalwahlen) zusammenfällt. Für Deutschland kann gezeigt werden, dass die Wahlbeteiligung in den Bundesländern, in denen parallel zur Europawahl eine weitere Wahl stattfindet, im Durchschnitt rund 20 Prozentpunkte höher ausfällt als in Bundesländern ohne weitere Wahl (vgl. Tabelle 3 der PDF-Version).
Am 7. Juni 2009 sind daher in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wieder höhere Beteiligungsraten als in den anderen Bundesländern zu erwarten, denn zeitgleich mit der Europawahl finden in diesen Bundesländern Kommunalwahlen statt. Auch die größten Veränderungen bei der Wahlbeteiligung in den verschiedenen EU-Ländern lassen sich zu einem beträchtlichen Teil auf gleichzeitig stattfindende Regionalwahlen zurückführen. Im Vergleich zur Vorwahl gab es 2004 die größten Beteiligungsänderungen in Spanien (minus 17 Prozentpunkte) und im Vereinigten Königreich (plus 15 Prozentpunkte). Gleichzeitig mit der Europawahl fanden 1999 in Spanien, aber nicht im Vereinigten Königreich Kommunalwahlen statt; 2004 gab es am Europawahltag keine Kommunalwahlen in Spanien, dafür aber in England und Wales. Werden auch Wahlpflicht, Wahlzyklen und gleichzeitig stattfindende Wahlen im Zeitverlauf berücksichtigt, dann blieb die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament im EU-Durchschnitt (EU-15) weitgehend stabil.
Diese Befunde sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beteiligung an Europawahlen alles in allem niedrig ist. In den Beitrittsländern war sie teilweise sogar extrem niedrig (Slowakei: etwa 17 Prozent; Polen: 21 Prozent). Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass der EU-Beitritt selbst (1. Mai 2004) und nicht die nachfolgende Europawahl das entscheidende Ereignis war. Als mögliche Ursache für geringe bzw. rückläufige Wahlbeteiligungen wird - insbesondere in den Medien - häufig eine "Europamüdigkeit" thematisiert. Zumindest bis 1999 finden sich keine Hinweise, wonach die individuelle Beteiligung an den Europawahlen etwas mit der Einstellung gegenüber der Europäischen Union zu tun hat. Hermann Schmitt und Cees van der Eijk kommen bei der Analyse der Europawahlen 1989, 1994 und 1999 zu einem eindeutigen Ergebnis: "Wachsende Nichtwähler-Anteile bei Europawahlen lassen sich nicht auf eine zunehmende Entfremdung vom politischen System der EU oder allgemeiner auf europafeindliche Motive zurückführen." Für die Europawahl 2004 finden sich allerdings Hinweise, die für einen Zusammenhang zwischen der Einstellung gegenüber der EU und der individuellen Wahlbeteiligung sprechen. In einer vergleichenden Analyse fand Schmitt heraus, dass in Deutschland, Spanien, Tschechien, Ungarn und Polen Bürger, die der EU kritischer gegenüber stehen, seltener abgestimmt haben als Personen, die den Integrationsprozess positiver beurteilen. Eine Trendwende sieht er jedoch nicht.
Perspektiven der Europawahlforschung
Nur in einem Teil der europäischen Länder gibt es institutionalisierte nationale Wahlstudien. Wo diese fehlen, ist man von Wahl zu Wahl auf Initiativen einzelner Wahlforscher, Forschergruppen und/oder Umfrageinstitute angewiesen. Warum sollte es mit Blick auf Europawahlen anders sein? Obwohl es nach wie vor keine längerfristig angelegte Europawahlstudie gibt, ist die Anzahl von Datenerhebungen und -analysen der European Election Study Group beträchtlich. Für 1979 und 1984 wurden Wählerdaten im Rahmen der Eurobarometer erhoben, seit 1989 im Rahmen eigener Wählerstudien. Für 1979 und seit 1999 wurden zudem Mediendaten generiert, für die Wahljahre 1979 und 1994 liegen Daten aus Kandidatenbefragungen vor. Seit 2004 gibt es darüber hinaus eine bis ins Jahr 1979 zurückreichende Sammlung und inhaltsanalytische Aufbereitung der Europawahlprogramme.
Trotz fehlender Finanzierung einer europaweiten Wählerstudie konnten auch 2004 Wählerdaten (dezentral) erhoben sowie Medien- und Wahlprogramm-Inhaltsanalysen realisiert werden. Diese Tatsache mag dazu beigetragen haben, dass es für die Europawahl 2009 gelang, eine umfangreiche Forschungsförderung für das Europawahlprojekt "Providing an Infrastructure for Research on Electoral Democracy in the European Union" (PIREDEU) im siebten Rahmenprogramm der Europäischen Kommission zu erhalten. Die am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz angesiedelte Studie umfasst die Befragung von Wählern und Kandidaten, Medieninhaltsanalysen, Wahlprogrammanalysen und die Sammlung relevanter Kontextdaten (unter anderem Wahlsysteminformationen und Wahlergebnisse). Das Hauptaugenmerk liegt auf der inhaltlichen Abstimmung der einzelnen Studienteile.
Durch gleiche oder verknüpfte Fragestellungen erhöht sich das (kombinierte) Analysepotenzial der Studienteile erheblich. Dies wird einerseits die inhaltlichen Fragestellungen homogenisieren, andererseits bestehende Forschungslücken schließen. Erstmals werden so 2009 Europawahlkandidaten aus den jüngeren (1995) und jüngsten (2004) Beitrittsländern befragt. Zum anderen wird versucht, den Bestand an Aggregatdaten zu konsolidieren. So gibt es beispielsweise bis dato trotz aller technischen Möglichkeiten immer noch Schwierigkeiten bei der Recherche nach amtlichen Europawahlergebnissen. Das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat) stellt zwar umfangreiches Datenmaterial zu Strukturindikatoren, wirtschaftlicher Entwicklung und öffentlicher Gesundheit in allen EU-Mitgliedstaaten bereit, dokumentiert jedoch nicht die Europawahlergebnisse, da ein entsprechender Auftrag der EU-Kommission fehlt. Es gibt auch keine andere europäische Institution, die amtliche Wahlergebnisse der einzelnen Länder sammelt und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt - selbst das EP nennt auf den Internetseiten zur Europawahl 1999 und 2004 nur die provisorischen Ergebnisse auf nationaler Ebene. Wer an amtlichen Wahlergebnissen für das gesamte EP interessiert ist, muss die verantwortlichen Institutionen in sämtlichen Mitgliedstaaten kontaktieren. Dieses kleine Beispiel verdeutlicht, dass Europawahlen auch 30 Jahre nach der ersten Direktwahl immer noch zu einem erheblichen Teil nationale Nebenwahlen geblieben sind.