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Grenzen - ihre Bedeutung für Stadt und Architektur

Markus Schroer

/ 16 Minuten zu lesen

Welchen Beitrag leistet Architektur für die Stabilität und Sichtbarkeit sozialer Verhältnisse? Welche Grenzen zieht sie? Was passiert, wenn diese uneindeutig werden oder gar zu verschwinden drohen, wie im Globalisierungsdiskurs zu vernehmen ist?

Einleitung

"Keine Haut, keine Barrieren, kein Schutz. Die Grenzen sind wichtig."(Siri Hustvedt, Die Leiden eines Amerikaners)

Wir sind es mittlerweile gewohnt, die globalisierte Welt als eine grenzenlose zu denken. Grenzen erscheinen dabei stets als unerwünschte Hindernisse, die aus dem Weg geräumt werden müssen, damit Geld- und Warenströme ungehindert fließen können.


Entgegen dieser gegenwärtig weit verbreiteten Perspektive will der folgende Beitrag an die fundamentale Bedeutung der Grenzen erinnern, die diese für die Konstituierung des Sozialen hat.

Die Stadt und ihre Grenzen

Der städtische Raum ist - wie jeder Raum - das Ergebnis einer Grenzziehung. Jede Stadt grenzt sich von einer sie umgebenden Umwelt ab. Von der Antike bis in die Neuzeit fungieren Mauer, Wall und Graben als Grenzen der befestigten Städte. Durch diese Abschließungsarchitektur erreichen sie einen Grad an Sicherheit, den es in Dörfern nicht geben konnte. Die Abschirmung nach Außen darf man sich jedoch nicht als einen einseitigen Rückzug ins Geschlossene vorstellen. Mit Hilfe der Grenze wird vielmehr ein Eigen- von einem Fremdraum unterschieden. An den in Mauern eingelassenen Toren wird über Einlass oder Nicht-Einlass zu diesem Eigenraum entschieden. Das ist die elementare Funktion jeder Grenze, die generell nicht für totale Abschottung steht, sondern für die Organisation von Inklusion und Exklusion, Einschluss und Ausschluss zuständig ist. Eine unüberwindbare Grenze ist ein Widerspruch in sich. Die Überschreitung ist der Grenze gewissermaßen eingeschrieben. Insofern ist jede Grenzüberschreitung keine Zweckentfremdung der Funktion der Grenze, sondern eine Erfüllung ihres ureigensten Programms. Erst in der Möglichkeit ihrer Überwindung bestätigt sich die Existenz der Grenze. An der historischen Entwicklung der Städte lässt sich ablesen, dass ein reger Grenzverkehr zwischen Innen und Außen nicht zum Verschwinden, sondern zum ständigen Hinausschieben, also zur Neuerrichtung von Grenzen geführt hat. Immer neue, sich jenseits der Mauern befindliche Areale, wurden nach und nach ins Innere verlegt und integriert.

Die Errichtung einer Stadt geht mit der Ziehung einer Grenzlinie einher, die jedoch nicht nur einen Stadtraum schafft, der sich aus seiner Umwelt herauslöst und von dieser unterscheidet, sondern auch einen ländlichen Raum hervorbringt, der nicht mehr derselbe ist wie zuvor. Erst die Entstehung der befestigten Städte als Sicherheitsbollwerke lässt die Dörfer als unsichere Siedlungsstruktur erscheinen; erst die städtische Lebensweise bringt einen ländlichen Lebensstil hervor und erst das rasante Tempo in der Stadt lässt das Treiben im Dorf langsam erscheinen. Das Ziehen einer Grenze sorgt stets auf beiden der durch sie getrennten Seiten für eine Veränderung. Die Errichtung eines Innen hat somit nicht nur Auswirkungen auf ein Außen, sie schafft überhaupt erst dieses Außen, auf das es stets bezogen bleibt. Die Grenze markiert den Unterschied zwischen Innen- und Außenraum.

Die Grenze gegenüber dem ländlichen Raum bleibt indes nicht die einzige Grenze, welche die Stadt ausmacht. Vielmehr kommt es auch innerhalb des Stadtraums zur Ziehung von Grenzen, die einzelne Quartiere voneinander unterscheiden. Diese Segregation lässt sich über die gesamte Geschichte der Stadt hinweg beobachten und kann die verschiedensten Formen annehmen. In der mittelalterlichen Stadt konzentrieren sich verschiedene Handwerke in verschiedenen Quartieren. Asiatische Städte weisen eine Segregation nach Religionszugehörigkeit auf. In amerikanischen Städten bilden sich Quartiere entlang der ethnischen Zugehörigkeit. Darüber hinaus gliedern sich Städte in verschiedene Viertel, die von sich sozial nah stehenden Bevölkerungsgruppen gebildet werden. So gibt es in jeder Stadt Arbeiterviertel und Villenviertel, bevorzugte Wohngebiete und Problembezirke. Für die Erkennbarkeit dieser verschiedenen Areale spielt die Architektur eine bedeutende Rolle, weil sie die sozialen Unterschiede erst sichtbar werden lässt, die zwischen den einzelnen Vierteln und ihren Bewohnern bestehen. Mit Hilfe der Architektur vermag selbst der Besucher einer Stadt zu erkennen, wo er sich gerade aufhält. Akzeptable, begehrte oder zu vermeidende Wohnviertel sind mit dem bloßen Auge auszumachen. Doch man täusche sich nicht: Sie sind dies nur deshalb, weil wir gelernt haben, bestimmte räumliche Arrangements mit bestimmten sozialen Kategorien zu verbinden. Wir wissen, dass prunkvolle Villen mit großem Grundstück reiche Bevölkerungsgruppen beherbergen, dass ein freistehender Bungalow oder eine Doppelhaushälfte auf die Mittelklasse verweisen und dass ein Wohnsilo in städtischer Randlage als typische Unterkunft der Unterschicht angesehen werden kann. Es ist dieses Wissen, das die Lesbarkeit der Stadt letztlich erst ermöglicht. Da die Grenzen jedoch niemals ein für allemal festgelegt sind, bleibt die zentrale Frage stets, wo, wie und von wem welche Grenzen gezogen werden. Die Art und Weise der Grenzziehungen und ihre Benennungen sagen viel über die jeweilige Gesellschaft, die Gruppe, das Milieu oder Szene aus, die sie zieht. Sie können zwischen dem Eigenen und dem Fremden, den Reichen und den Armen, den Inländern und den Ausländern gezogen werden. Dabei müssen sie sich nicht in jedem Fall räumlich manifestieren, wodurch sie jedoch - wie wir seit Georg Simmel wissen - eine ungleich höhere "Festigkeit und Anschaulichkeit" erfahren. Kommt es zu keiner räumlichen Materialisierung der Grenzen, so haben wir es demnach mit fragilen und unsichtbaren Verhältnissen zu tun. Welchen Beitrag leistet die Architektur für die Stabilität und Sichtbarkeit sozialer Verhältnisse? Welche Grenzen zieht sie?

Die Architektur und ihre Grenzen

Die Geschichte der Architektur beginnt lange vor der Entstehung von Städten. Wann immer eine Grenze zwischen Innen und Außen gezogen wird, können wir von Architektur sprechen. Insofern handelt es sich schon bei der vom Menschen gebaute Hütte, in der er Schutz vor Regen, Kälte und wilden Tieren sucht, um Architektur. Ihr Aufkommen ist zugleich auch die Geburtsstunde des Wohnens: "Das Wohnen beginnt, sobald der Mensch der Höhle des Mutterleibs entweicht und einen Unterschlupf sucht." Wenn man sich die zentralen Elemente der Architektur vor Augen führt - Böden, Decken, Wände, Dächer - wird deutlich, dass sich Architektur generell als Antwort auf ein tief verwurzeltes Schutzbedürfnis des Menschen verstehen lässt. Von der primitiven Hütte bis zur mondänen Villa besteht der gemeinsame Nenner der Architektur in der Schutz bietenden Abschirmung nach Außen: "Auch beim Menschen beruht das moralische und physische Wohlbefinden letztlich auf der gänzlich tierischen Wahrnehmung des Sicherheitsbereichs, des Zufluchtsortes." Ebenso wie im oben beschriebenen Fall der Stadt erfolgt die durch den Bau eines Gebäudes vollzogene Abschließung jedoch nicht so radikal, dass von einem vollkommenen Ausschluss des Außen gesprochen werden kann. Zentrale Elemente der Architektur wie Fenster und Türen sorgen vielmehr für den Austausch zwischen Innen und Außen. Neben dem Streben nach Sicherheit geht es also immer auch um die Suche nach Kontakt und Verbindung: "Dadurch, daß die Tür gleichsam ein Gelenk zwischen dem Raum des Menschen und allem, was außerhalb dessen ist, setzt, hebt sie die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen auf. Gerade weil sie auch geöffnet werden kann, gibt ihre Geschlossenheit das Gefühl eines stärkeren Angeschlossenseins gegen alles jenseits dieses Raumes, als die bloße, ungegliederte Wand. Diese ist stumm, aber die Tür spricht". Die Grenze ist insofern ein höchst ambivalentes Gebilde. Sie befriedigt sowohl das Bedürfnis des Menschen nach Abschluss vom Anderen als auch das nach der Hinwendung zu ihm. Die Aufgabe der Architektur besteht nicht zuletzt darin, die Balance zwischen einer Schutz suchenden Orientierung nach Innen und der schutzlosen Öffnung nach Außen herzustellen. Dabei gilt grundsätzlich, dass das, was trennt, auch verbindet und umgekehrt. Grenzen lassen sich insofern nicht in offene und geschlossene Grenzen unterteilen, da damit allenfalls vorübergehende Zustände der Grenze bezeichnet sind. Grenzen unterscheiden sich vielmehr nach dem jeweiligen Grad ihrer Durchlässigkeit. Entscheidend dabei ist, dass der Charakter der Grenze nicht ein für allemal festgelegt ist und für jedermann gilt, sondern als sehr verschieden erlebt werden kann. Für Alte und Kinder, Arme und Reiche, Frauen und Männer können sich etwa beim Durchschreiten der Stadt völlig verschiedene Grenzen auftun: Grenzen, hinter denen sich für die einzelnen Bevölkerungsgruppen regelrechte no-go-areas befinden. Alte Menschen vermeiden steile Treppen, Kinder stark befahrene Straßen, Arme die von Sicherheitsdiensten geschützten Geschäfte in den Nobelpassagen der Innenstädte, Reiche die Randbezirke, Frauen Parkhäuser und Unterführungen, Männer Frauenparkplätze und Frauenbuchläden, Einheimische Treffpunkte der "Fremden", "Fremde" Szenetreffs der Deutschnationalen. Die Stadt ist durch eine Fülle von Grenzen gekennzeichnet, die nicht immer unmittelbar sichtbar und für jeden erkennbar sein müssen, um die Nutzungsprofile der Bewohner dennoch zu prägen. Jeder setzt andere, seiner Position und seinem Status gemäße Prioritäten und bahnt sich entsprechend verschiedene Wege durch die Stadt. Das Image der Städte hängt zu einem erheblichen Ausmaß davon ab, wie sie - jenseits des Images, das ihr die Stadtväter und deren Werbeabteilung zu verleihen suchen - von den einzelnen Bevölkerungsgruppen gesehen werden. In unzähligen Alltagsgesprächen werden Städte als hart, unzugänglich und öde oder als sozial, offen und lebendig eingestuft. Wenn Stadtväter versuchen, Unternehmen in ihre Stadt zu locken oder Unternehmen Mitarbeiter anwerben, spielen solche Standorteinschätzungen eine kaum zu unterschätzende Rolle für die Entscheidung der jeweils Betroffenen.

Aber nicht nur die Stadt und ihre Quartiere, auch die einzelnen Gebäude lassen sich in einem erheblichen Ausmaß danach unterscheiden, welchen Grad an Durchlässigkeit sie erlauben bzw. anstreben. Schon die Anzahl von Türen und Fenstern, deren Größe und Anordnung, vermag etwas über das Ausmaß der gesuchten Schließung oder Öffnung nach Außen auszusagen. Erst recht sind unterschiedliche Materialien dazu in der Lage, Zugänglichkeit oder Zurückweisung zu symbolisieren. Glas signalisiert Offenheit und wirkt einladend. Man macht sich freiwillig beobachtbar, will zeigen, dass es nichts zu verbergen gibt. Beton dagegen erscheint unzugänglich und abweisend, wirkt wie ein Bollwerk gegen feindliche Einflüsse von Außen. Der äußere Eindruck kann allerdings täuschen: "Das Glas bietet zwar Möglichkeiten der rascheren Kommunikation zwischen Innen und Außen, aber zugleich zieht es eine unsichtbare Wand, die verhindert, daß diese Verbindung eine wirkliche Öffnung zur Welt wird." Die Baumaterialien allein sind sicher kein verlässlicher Indikator, um eindeutig zu bestimmen, ob wir es mit offenen oder geschlossenen Formen zu tun haben. Dass Glas nicht per se für leichte und damit erwünschte Zugänglichkeit steht, hat niemand eindrücklicher gezeigt als Jacques Tati in seinem Film "Playtime". Die moderne Großstadt präsentiert sich hier als ein geradezu aseptisches Labyrinth aus Glas, Stahl und Beton, in der sich kaum mehr jemand zurecht findet, obwohl - oder gerade weil - scheinbar alles offen ausgestellt und dargeboten wird. Richard Sennetts Kritik an der modernen Glasarchitektur weist in eine ähnliche Richtung: "Sehen zu können, was man nicht hören, berühren, spüren kann, verstärkt das Gefühl, das, was sich im Inneren befindet, sei unzugänglich." Sennett zufolge führt Glasarchitektur gerade nicht zu Offenheit und Transparenz, sondern zu Einsamkeit und Isolation. Ganz unabhängig aber von den tatsächlichen Zugangsbedingungen sind die kollektiven Assoziationen und Konnotationen, die beim Anblick von Glas oder Beton hervorgerufen werden, in der Lage, einem Gebäude ein Image zu verleihen, das es nur schwer wieder los wird.

Abgesehen vom Material und den entsprechenden Zuschreibungen gibt es allerdings auch eindeutigere, weniger widersprüchliche Möglichkeiten, mit Hilfe architektonischer Maßnahmen Ausschluss und Ausgrenzung zu ermöglichen. Metallspitzen auf Mauervorsprüngen, die das Anlehnen oder Sitzen verhindern, Rasensprenger in Parks, die das dortige Übernachten unmöglich machen und öffentliche Toiletten, die immer geschlossen sind, lassen nur wenig Interpretationsspielraum. Insofern kann Architektur zweifellos dazu beitragen, bestimmten Bevölkerungsgruppen den Zugang zu bestimmten Orten zu verweigern. Dabei muss es sich gar nicht immer um eindeutige Abwehrarchitekturen wie Zäune, Mauern oder ähnliches handeln. Auch auf sehr viel subtilere Art und Weise kann Architektur Eintrittsverbote aussprechen, die oft nur als Empfehlungen daher kommen, sich diesen Räumen nicht zu nähern und jene besser erst gar nicht zu betreten. Die soziale Welt, die eine Welt voller mal gepflegter, mal verleugneter Unterschiede ist, bedient sich der Architektur, der Gestaltung von Räumen und der Ausgestaltung des Interieurs, um auf Unterschiede aufmerksam zu machen und zu signalisieren, welches Klientel willkommen ist und welches nicht. So ist zum Beispiel längst bevor man einen Blick auf die Speisekarte und die Preise eines Restaurants werfen kann, in aller Regel klar, ob das Restaurant zu einem passt oder nicht. Insgesamt gesehen dürfte es eher selten vorkommen, dass sich Passanten in das falsche Lokal verirren. Das gesamte Arrangement, von der Gestaltung des Eingangsbereichs über das Auftreten und die Blicke der Kellner bis hin zum Mobiliar, trägt dazu bei, die gewünschte Kundschaft anzulocken und die unerwünschte von einem Besuch abzuschrecken. So bleibt die vertraute Ordnung gewahrt: Der Habitus der Akteure wählt sich das zu ihm passende Habitat aus. Ohne dass der Einlass direkt untersagt werden muss, schließt sich das Publikum im Sinne einer vorauseilenden Selbstexklusion - "Das ist nichts für uns!" - selbst aus. Erst wenn diese Art der Selbstregulierung versagen sollte, weiß der Kellner durch Blicke und Gesten zu signalisieren, dass man sich an einem Ort befindet, an dem man nicht erwünscht ist. Gewollte Regeldurchbrechung, Zuwiderhandlungen und Provokationen bleiben zwar immer möglich, sind aber eher die Ausnahme.

Halten wir fest: Städte ebenso wie Bauwerke und Gebäude sind das Produkt von Grenzziehungen, welche die Grenzziehungen in der sozialen Welt massiv unterstützen können. Was passiert, wenn diese Grenzen uneindeutig werden oder gar zu verschwinden drohen, wie in den aktuellen Debatten um die Globalisierung oft zu vernehmen ist?

Grenzziehung und Grenzüberschreitung

In den gegenwärtigen Zeitdiagnosen stößt man immer wieder auf die These, dass sich die soziale Welt zunehmend verflüssigt, womit auch die Grenzen verschwänden, die ein wichtiger Bestandteil der "festen Moderne" waren. Dieser These fehlt es zunächst nicht an Plausibilität. Ein Abbau von Grenzen lässt sich auf verschiedenen Ebenen beobachten: Auf der Makroebene kommt es unzweifelhaft zu einer zunehmenden Öffnung der Grenzen zwischen Nationalstaaten. Die Mühelosigkeit, mit der vor allem Informationen staatlich gesetzte Grenzen überwinden, untergräbt zunehmend die Autorität dieser Demarkationslinien. Der Prozess der Globalisierung wird deshalb mit einem Wegfall der Grenzen geradezu gleichgesetzt. Auf der Mesoebene ist unschwer zu erkennen, dass Städte nicht mehr an einer massiven Mauer deutlich erkennbar enden, sondern sich geradezu in ihren Umgebungsraum ergießen, so dass kaum mehr auszumachen ist, wo die Stadt endet und der ländliche Raum beginnt. Die Grenze zwischen Stadt und Land wird so zumindest uneindeutig. Auf der Mikroebene weichen die streng gezogenen Grenzen zwischen einem Ess-, Schlaf- und Wohnbereich in den Privatwohnungen durch das Weglassen von Wänden mehr und mehr einer offenen Raumkonzeption, in der sich die verschiedensten Tätigkeiten innerhalb eines nicht unterteilen Raums abspielen - eine Entwicklung, die sich bereits in den späten 1920er Jahren andeutete, vor allem aber in den 1980er und 1990er Jahren im großen Maßstab vorangetrieben wurde. Während im Haus des Mittelalters die verschiedensten alltäglichen Tätigkeiten wie Schlafen, Kochen und Essen in einem einzigen zentralen Raum stattfanden, kommt es spätestens seit dem 19. Jahrhundert zu einer stärkeren Aufteilung der Wohnung in verschiedene Funktionsbereiche. Jeder einzelne Raum erfüllt nun einen ganz bestimmten Zweck. Gekocht wird in der Küche, geschlafen im Schlafzimmer, gespielt im Kinderzimmer. Inzwischen aber gibt es wieder den Trend zu mehr Offenheit. Damit kommt es zu einer Erweiterung des Sehraums, die eine Rücknahme seiner nach dem Mittelalter eingeführten Begrenzung einschließt. Die mit der Separierung der Räume möglich gewordene Privatheit, die den Schutz vor den Blicken noch der engsten Verwandten ermöglichte, scheint durch die Öffnung der Räume gefährdet und als Zunahme von Kontrolle erlebt zu werden.

Was bei der These vom Abbau der Grenzen übersehen wird, ist, dass die Grenzen nicht schon deshalb verschwinden, weil sie nicht mehr länger dort aufzufinden sind, wo man sie bisher zu Recht vermuten konnte. Grenzen wandern. Sie sind nicht starr und unbeweglich. Sie ändern vielmehr ihre Form und vollziehen auf flexible Weise eine Abschirmung gegenüber dem als bedrohlich wahrgenommenen Außen. So kann auf der Ebene der Nationalstaaten zwar ein Grenzabbau innerhalb Europas festgestellt werden. Gleichzeitig aber werden die Grenzziehungen nach Außen verstärkt, sodass sich vor allem für Nichteuropäer das Bild von der "Festung Europa" aufdrängt. Auf der Ebene der Städte kommt es zwar nicht zu einer Renaissance der befestigten Städte, aber die Verbreitung von gated communities zeigt einen Bedarf an der Errichtung von Sicherheitszonen inmitten einer als unsicher wahrgenommenen Metropolenwirklichkeit. Wenn die Torwächter in den heutigen Städten nicht mehr an den Toren der Stadtmauern vorzufinden sind, so heißt dies doch nicht, dass sie verschwunden wären: Sie befinden sich heute vielmehr an den Eingängen der Einkaufsläden, Casinos, Shopping Malls, Hotels, Parks, Flughäfen, Bahnhöfe, Stadien, Discotheken usw. Nicht mehr das Schloss mit mächtigem Riegel, sondern Video-Überwachung, Gegensprechanlagen, Drehkreuze, Doorman, automatischer Schließmechanismus und biometrische Kontrollverfahren regulieren und kontrollieren nunmehr die Zugänge. Es müssen nicht immer gleich Schlagbäume sein, wenn es darum geht, Grenzen zu ziehen. Wenn man - wie in Paris - die Möglichkeiten beschränkt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln von den Randbezirken in das Zentrum der Großstadt zu gelangen, dann wird auf diese Weise eine Grenze gezogen zu denen, die im öffentlichen Stadtbild nicht vorkommen sollen, um den positiven Gesamteindruck der Touristen nicht zu gefährden und der privilegierten Zentrumsbevölkerung den Kontakt mit den fremd gebliebenen Banlieubewohnern nicht zuzumuten. Eine Begegnung mit den Bewohnern der Vorstädte wird als bedrohlich wahrgenommen, die gewünschte Segregation als gescheitert angesehen. Denn angestrebt ist, dass jeder bleibt wo er ist und ,hingehört'. Diese Platzierungsmacht ist ein ebenso oft unterschätztes wie angewandtes Mittel politischer Herrschaft, zumal im Zeitalter der Globalisierung, das durch eine tiefe Unsicherheit in Fragen der Zugehörigkeit geprägt ist.

Hatte die Stadt ihre Autorität zunächst an den Nationalstaat abgegeben, der nunmehr dafür Sorge zu tragen hatte, dass keine unerwünschten Subjekte den Eigenraum betreten konnten, so erfolgt aktuell, vor dem Hintergrund eines Souveränitätsverlustes der Nationalstaaten, eine Aufrüstung im Meso- und Mikrobereich. So kann auf der Ebene des Wohnens nicht allein ein Trend zum offenen Wohnen, sondern zugleich ein Trend zur verstärkten Abschließung registriert werden. Die Bürgerinnen und Bürger reagieren auf den als mangelhaft empfundenen Schutz durch den Staat, indem sie sich selbst ein eigenes Territorium sichern, auf dem sie allein über Ein- und Ausgänge wachen, Eintritte zulassen oder verweigern können - und sei der Raum auch noch so klein, auf dem das individuelle Selbstbestimmungsrecht herrscht. Ob dies das eigene Haus, die eigene Wohnung, das eigene Auto oder auch nur das eigene Zimmer ist - es geht um die Entwicklung von Räumen, die Innen so behaglich und multifunktional wie möglich ausgestattet und gegen den unerwünschten Zugriff von Außen so gut wie nur möglich geschützt sind. Als letzter dieser politisch aufgeladenen Räume, an dessen Grenzen jedes Individuum selbst streng über Ab- und Zufuhren zu wachen versucht, lässt sich der eigene Körper auffassen. Was ihn berühren, oder gar in ihn eindringen darf, wird angesichts der Warnungen vor dreckiger Luft, unreinem Wasser und verseuchter Ernährung zum Politikum. Gerade dann, wenn andere Abwehrmaßnahmen versagen, wird der eigene Körper zum Schutzpanzer aufgebaut.

Alles zusammengenommen zeigt, dass wir es keineswegs mit einem umfassenden Abbau von Grenzen zu tun haben. Die weit verbreitete These von einer Verflüssigung des Sozialen aufgrund des Bedeutungsverlustes von Grenzen ist einseitig, weil sie die erneuten Grenzziehungen übersieht, die gerade als Antwort auf die Grenzauflösungen erfolgen. Die Praxis der Grenzziehung lässt sich nicht einfach abstellen: "Man richtet sich nie im Überschreiten ein, man wohnt nie außerhalb. Die Übertretung setzt voraus, daß die Grenze immer wirksam sei." Zu bedenken ist allerdings, dass wir es weniger mit einem zähen Beharrungsvermögen der alten Grenzen zu tun haben, als mit einer Veränderung der Grenzen selbst, die sich verlagern, ihre Form ändern, flexibler und situativer gezogen werden können. Von ihrem Verschwinden kann jedenfalls keine Rede sein - dies schon deshalb nicht, weil sie konstitutiv sind für das soziale Geschehen, das aus fortwährenden Grenzziehungen, Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen besteht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bernhard Schäfers zum 70. Geburtstag. Vgl. Martin Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 200410, S. 139 - 156.

  2. Vgl. Martin Dinges/Fritz Sack (Hrsg.), Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz 2000.

  3. Vgl. Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt/M., 1999, S. 204.

  4. Vgl. am Beispiel von Paris Eric Hazan, Die Erfindung von Paris. Kein Schritt ist vergebens, Zürich 2006.

  5. Vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt/M.-New York 2004, S. 139ff.

  6. Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Bd. 11, Hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt/M. 1992, S. 699.

  7. Bernhard Schäfers, Architektursoziologie. Grundlagen - Epochen - Themen, Opladen 2003.

  8. Vgl. B. Waldenfels (Anm. 3), S. 208.

  9. Vgl. Dirk Baecker, Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur, in: Niklas Luhmann u.a., Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S.

  10. André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M., 1984, S. 388.

  11. Georg Simmel, Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Hrsg. von Margarete Susman und Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 4.

  12. Vgl. Roland Girtler, Abenteuer Grenze. Von Schmugglern und Schmugglerinnen, Ritualen und "heiligen" Räumen, Wien-Münster 2006.

  13. Jean Baudrillard, Das System der Dinge, Frankfurt/M.-New York 1991, S. 56.

  14. Richard Sennett, Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt/M., 1991, S. 147.

  15. Vgl. Jan Wehrheim, Die überwachte Stadt. Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung, Opladen 2002, S. 95ff.

  16. Vgl. Pierre Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hrsg.), Stadt-Räume, Frankfurt/M.-New York 1991, S. 25 - 34 und Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2006, S. 97f.

  17. Vgl. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt/M. 2003.

  18. Zur Fragwürdigkeit dieser These vgl. M. Schroer (Anm. 15), S. 185ff.

  19. Vgl. Katharina Weresch, Wohnungsbau im Wandel der Wohnzivilisierung und Genderverhältnisse, Hamburg-München 2005, S. 252ff.

  20. Vgl. Peter Gleichmann, Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen, in: Peter Gleichmann, Johan Goudsblom und Hermann Korte (Hrsg.), Materialien zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie, Frankfurt/M., S. 254 - 278; hier S. 257.

  21. Vgl. K. Weresch (Anm. 19), S. 257f.

  22. Vgl. Mathias Bös/Kerstin Zimmer, Wenn Grenzen wandern. Zur Dynamik von Grenzverschiebungen im Osten Europas, in: Georg Vobruba/Monika Eigmüller (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, S. 157 - 184.

  23. Vgl. Stefan Kaufmann, Grenzregimes im Zeitalter globaler Netzwerke, in: Helmuth Berking (Hrsg.), Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt/M.-New York, S. 32 - 65.

  24. Vgl. Ronald Hitzler, Mobilisierte Bürger. Über einige Konsequenzen der Politisierung der Gesellschaft, in: Ästhetik&Kommunikation, 23 (1994) 85/86, S. 55 - 62.

  25. Vgl. Zygmunt Bauman, Ansichten der Postmoderne, Hamburg 1995, S. 235.

  26. Vgl. M. Schroer (Anm. 16), S. 276ff.

  27. Jacques Derrida, Positionen, Graz-Wien 1986, S. 39.

  28. Vgl. Markus Schroer, Raumgrenzen in Bewegung. Zur Interpenetration realer und virtueller Räume, in: Sociologia Internationalis, (2003) 1, S. 55 - 76.

Dr. phil., geb. 1964, Professor für Soziologie an der Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Nora-Patiel Str. 1, 34109 Kassel.
E-Mail: E-Mail Link: schroer@uni-kassel.de