Einleitung
Es ist und bleibt ein Paradox: Die Architektur ist die unentrinnbare, stets vor Augen stehende, nicht wegzustoßende, dauerhafte und überdimensionale Gestalt der Gesellschaft. Zudem ist insbesondere die moderne Architektur für ihren Anspruch, ein "neues Leben" herbeizuführen und die ganze Gesellschaft zu verändern, ebenso bekannt wie umstritten. Trotz der faktischen Brisanz und Allgegenwart der Architektur in einer artifiziellen, städtischen Gesellschaft hat sich die Soziologie der Architektur bisher nicht systematisch zugewandt.
Die Stadtsoziologie fragt jenseits des gebauten Raumes nach den Interaktionen in der Stadt; die Raumsoziologie stellt sich den Raum als lediglich in der Interaktion geschaffen vor; die Kultursoziologie hat Kunst und Religion im Blick: für sie ist die Architektur zu "technisch"; für die Techniksoziologie wiederum ist sie zu "ästhetisch". Kurz, die Architektur fiel bisher durch die Ritzen der soziologischen Beobachtung. Vor allem hat die allgemeine Soziologie, das heißt die soziologische Theorie, die Architektur nicht ernst genommen: weder in der Frage nach der Vergesellschaftung überhaupt noch in der nach der Eigenart der Moderne. Und implizit hat die Soziologie den Anspruch der Architektur in dieser Moderne wohl entweder als Hybris verstanden - als zum Scheitern verurteilte Utopie - oder sie hat die architektonische Bevormundung der Nutzer kritisiert. Vor allem diese Kritik war bisher der Punkt, an dem sich die Soziologie explizit für die Architektur interessierte.
Architektur als Sozialtechnologie
Was die Architektur des frühen 20. Jahrhunderts zeitgleich mit der Etablierung der Wissenschaft Soziologie wollte, war in der Tat nichts weniger als die "Ordnung" des Sozialen. Le Corbusier hat es 1923 formuliert: Worum es der modernen Architektur geht, ist die Entscheidung zwischen "Baukunst" und "Revolution". Der historische Kontext ist bekannt: Das frühe 20. Jahrhundert ist in Frankreich und Deutschland verbunden mit der Erfahrung einer neuen Gesellschaftsstruktur (dem Aufkommen der Angestellten); einer neuen Wirtschafts- und Produktionsweise (Taylorismus, Fordismus); dem Wachstum der Städte; und zugleich der Erfindung neuer Baufunktionen, Bauweisen, Baumaterialien (Stahl, Stahlbeton, Glas). Die Architektur zeigt sich dabei zutiefst abgestoßen vom Bisherigen: nicht nur vom ästhetischen, sondern vor allem auch vom sozialen "Chaos". In dieser Situation nannte Adolf Loos das Ornament das "Verbrechen": nicht nur, weil es den Stillstand der Architektur bedeutete, sondern tiefergehend noch, weil es die Gesellschaft in vergangenen Lebenswelten - im Barock, im Mittelalter, in der Antike - "gefangen hielt". In ihrer neuen Architektur hat sich die Gesellschaft durch ihre Architekten gewissermaßen selbst ein neues Gesicht "gewählt": artifizielle, serielle Formen, die sich von den regionalen Bautraditionen und der Erde gleichermaßen ablösten, in neuen Materialien und Farben. Zugleich hat sie sich neue Lebensräume geschaffen: entleerte Räume mit transportablen Möbeln aus Glas; Dachterrassen zum Sporttreiben; minimalisierte Küchen mit Anweisungen zur Rationalisierung der Hausarbeit. Es ging dabei nicht nur um ein schnörkelloses Funktionieren, nicht nur um die "Maschine zum Wohnen" (Le Corbusier): sondern es ging auch um ein Management der Affekte und Gefühle, um die Lösung von Vergangenem zugunsten einer vorwärtsblickenden Haltung.
Soziologie ohne Architektur
Spätestens diese Architektur hätte die Soziologie auf die Frage bringen müssen, was Architektur hinsichtlich des Sozialen vermag. "Reform" statt "Revolution": Das war das Motto auch der Soziologie. Auch sie zielt(e) neben der Diagnose der modernen Gesellschaft stets auf deren Bändigung: auf Integration, Ordnung, die Schaffung neuer sozialer Bindungen. Dass es keine systematische Architektursoziologie gab, wird vielleicht daran gelegen haben, dass sich die Soziologie (wie der Freiburger Soziologe Wolfgang Eßbach es ausdrückt) von Kunst und Technik in die "Klemme" genommen sah: und damit wesentlich auch von der modernen Architektur. Diese war mit ihrem sozialen Anspruch die vielleicht übermächtige Konkurrenz der Soziologie. Für Eßbach ist dies der Grund einer weitreichenden Weichenstellung der Soziologie, in der alle "Dinge" aus dem Bereich des Sozialen und dem Blick der Soziologie verbannt sind. Die Soziologie gibt sich ihre Grundbegriffe in einer "antiästhetischen und antitechnischen Haltung".
Dass sich diese moderne Gesellschaft in den Großstädten entfaltet, haben wenige angesprochen. Vor allem Georg Simmel hat diese neue Lebenswelt analysiert: eine Lebenswelt, die neue Umgangsformen notwendig macht, weil sich in ihr die Menschen und Dinge explosionsartig vermehren. Simmel schlug der Soziologie vor, von der sichtbaren Oberfläche der Gesellschaft ein "Senkblei" zu ziehen, gleichsam am Körper der Gesellschaft ihre "Seele" zu erkennen. Und dieser Körper ist faktisch sicher nicht zuletzt die Architektur.
Architektursoziologie
Der gesellschaftlichen Bedeutung der Architektur angemessen, entsteht derzeit eine explizite Architektursoziologie. Dieser geht es weniger um eine Belehrung der Architektur als um deren soziale Brisanz: um die Relation von Architektur und Gesellschaft.
Diese Denkweise findet sich nicht nur in der Soziologie, sondern auch in Architekturtheorie, Kunstgeschichte, Politologie, Ethnologie, Archäologie. Soziologisch wäre die Architektur damit aber zu kurz gefasst, schon wegen ihrer Ausrichtung auf das Neue, aber auch ganz grundlegend: Die Architektur jeder Gesellschaft (auch der Nomaden) umgibt die Einzelnen ständig: ist unentrinnbar, sozialisiert immer schon und bleibt dabei zumeist unbewusst. Sie verleiht der Gesellschaft zugleich stets eine bestimmte, sicht- und greifbare Gestalt: gliedert sie, affiziert die Einzelnen, verschafft den Institutionen Ausstrahlungskraft. Und nicht zuletzt sind es die Architekten, die - um es mit Gilles Deleuze zu sagen - "neue Falten im sozialen Stoff" bilden. Sie sind schließlich diejenigen, denen systematisch "beigebracht wird, Pläne zu machen" (Frank L. Wright).
Aktuell sieht man es am "Dekonstruktivismus", der soziologisch nicht nur eine Spektakelarchitektur ist, sondern auch etwas verändert: die "Haut" der Gesellschaft und vermutlich auch unsere Bewegungs- und Kommunikationsweisen. Die Frage ist daher, bis zu welchem Punkt die Architektur adäquat als "Ausdruck" der Gesellschaft beschreibbar ist und mit welchen Begriffen ihr aktiver Part zu fassen wäre.
Die Architektur ist überaus komplex: mehrfach sozial brisant. Auf einer makroskopischen Ebene stellt sich die Frage, welche gebaute Gestalt sich die Gesellschaft "wählt": damit auch, wie die Einordnung und Hierarchisierung der Einzelnen geschieht. In jeder Gesellschaft, die sich in Klassen, Schichten, Geschlechter, Generationen teilt, bedarf dies einer anschaulichen Form. Dasselbe gilt für die funktionale Teilung in die Sphären des Rechts, der Ökonomie, der Politik, der Erziehung, der Religion usw. Und auf einer eher mikroskopischen Ebene wäre zu beobachten, welche Bewegungs-, Blick- und Handlungsweisen das Gebaute nahelegt. Es gibt viele verschiedene Bautypen, die in je verschiedenen Gesellschaften die Einzelnen mit je verschiedenen Objekten zu soziotechnischen Konglomeraten zusammen schalten.
Die Architektur affiziert in all dem, im Unterschied zu vielen anderen Artefakten: Sie erhebt oder stößt ab. Zumindest die Architektur der "Hochkulturen" kultiviert ihre Affektivität, während etwa die Architektur der Eskimo - Erd- und Schneehäuser, Lederzelte - eher nichtssagend ist und sich Völker wie die Troglodyten gar eine negative Architektur schaffen, sich in die Erde eingraben. Auch diese Nicht-Affektivität hat Effekte: mit ihr wird die sichtbare Teilung der Gesellschaft (in "oben" und "unten") verhindert. Dass die Architektur sozial brisant ist, gilt also keineswegs nur für die Moderne. Es gilt für jede Gesellschaft, nicht zuletzt für die "anonyme" Architektur nichtmoderner Gesellschaften. So bringt auch die Architektur der Nomaden (Zelte, Hütten, Jurten) eine je bestimmte Gestalt der Gesellschaft und je bestimmte Lebensräume hervor, die Bewegungen und Blicke und damit die Interaktionen beeinflussen. Im Fall der Nomaden handelt es sich um eine bewegliche, kaum auf Augenhöhe reichende, weiche "Gestalt" der Gesellschaft aus Haar, Wolle und aus Häuten, die ganz für den Weg gemacht ist. In ihren fehlenden Trennungen und ihrer Mobilität lässt das Zelt kaum Privaträume zu, fördert ein symbiotisches Naturverhältnis, erschwert Bodeneigentum. Feste Gebäude schaffen (im Fall sesshafter Gesellschaften) wiederum erst die Dauer, an die sich die sozialen Einrichtungen anlehnen. So besteht die christliche Kirche wesentlich dadurch, dass sie neben den Schriften und Riten ihre heiligen Stätten pflegt und die Einzelnen in affektiven Gebäuden versammelt. Neben der Pflege vergangener Architekturen als Substrat des "kollektiven Gedächtnisses"
Eine solche Architektursoziologie ist für die Soziologie selbst eine neue Information. Sie übt einen kognitiven Druck aus. Sie nötigt erstens die allgemeine Soziologie, die "Mechanismen" des sozialen Lebens auf neue Weise zu buchstabieren. Wenn das Soziale in der reinen Interaktion besteht oder in sozialen Strukturen, sind Artefakte und auch die Architektur (als artifizielle Umwelt) ausgeschlossen. Damit bleibt auch die Affektivität, das Beeindruckungspotential der Architektur unberücksichtigt, das sie den sozialen Einrichtungen leiht, ebenso wie ihr kreatives Potential. Zweitens erlaubt der Blick auf die Architektur eine andere Diagnose der gegenwärtigen Gesellschaft: Die Frage, in welcher Gesellschaft wir "eigentlich" leben, wird dann nicht mehr ausschließlich mit der Medienvermitteltheit oder der Individualisierung beantwortet. Im aktuellen Begehren der Rekonstruktion historischer Gebäude ebenso wie in der aktuellen Avantgarde-Architektur zeigen sich Momente der Gesellschaft, die in den Diagnosen der "Medien-" oder "Wissensgesellschaft" nicht benannt sind. Zu beachten ist auch aktuell die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigkeiten: die Anwesenheit vergangener Generationen und Gesellschaften. Auch die Frage, mit welcher Subjektform, welcher Denkweise, welchen Begehren man es gegenwärtig zu tun hat, wird sich angesichts der Körperlichkeit des Menschen nicht jenseits der Architektur stellen lassen, die unseren Körper nahezu ständig umgibt. Drittens wirft das Interesse an der Architektur neues Licht auf die klassische Soziologie. Diese hat keine systematische Architektursoziologie entfaltet; aber sie enthält wichtige Fallstudien: veritable Klassiker der Architektursoziologie, die Hinweise für eigene Forschungsprojekte geben, Antworten auf die Frage, wie und mit welchen Begriffen man den Effekten der Architektur auf die Schliche kommt. Dies ist der Forschung nicht äußerlich; sie bedarf stets der Theorie.
Klassiker der Architektursoziologie: In all diesen Aspekten der Relation von Architektur und Gesellschaft ist eine historische Soziologie interessant, die die Frage stellt, wie wir zu dem geworden sind, was wir sind. Von den Klassikern der Architektursoziologie haben einige genau diese Frage gestellt. Die Antworten sind alle aktuell, insofern man sich vergegenwärtigt, dass die Soziologie ein "multiparadigmatisches" Fach ist, viele gleichberechtigte Theorien kennt, die je andere Facetten fokussieren, andere Erklärungen bieten.
Trotz der genannten Hemmnisse ist der Soziologie zunächst die zeitgleiche Architektur nicht ganz entgangen. Siegfried Kracauer (selbst Architekt) erkennt in der Weißenhofsiedlung das "anonyme Sein des der kapitalistischen Wirtschaft verpflichteten Massenmenschen", will der Architektur allerdings einen emanzipativen Effekt nicht absprechen; die Öffnung der Wände zeige "eine noch ungegebene Struktur der Gesellschaft".
Während Simmel die Großstadt Berlin um 1900 im Blick hat, richtet Norbert Elias den Blick zurück auf Versailles: um den Anfangspunkt der Zivilisierung der Sitten zu erkennen. In seiner Analyse des Schlosses interessiert er sich weniger für den Prunk als für die Funktion und Lage der Räume für 10 000 Menschen: Dieses "Haus des Königs" erscheint ihm als das "Spitzenphänomen" einer absolut hierarchischen Gesellschaft, deren Verhaltenscodex sich zunächst (mittels der Palais) im Adel, dann (mittels der Villen) im Bürgertum verbreitet.
Auch die "Konsumgesellschaft" ist nicht ohne eine bestimmte, Begehren weckende Architektur denkbar. Das hat bereits Walter Benjamin gezeigt. Für ihn ist die Architektur das "wichtigste Zeugnis der latenten Mythologie" der Gesellschaft, ihres Begehrens. Und da die "wichtigste Architektur des 19. Jahrhunderts" die Passage ist, kann man an ihr den Ursprung des modernen Subjekts entdecken. Wie prähistorische Gesteine "den Abdruck von Ungeheuern aus diesen Erdperioden tragen, so liegen die Passagen heute in den großen Städten wie Höhlen mit den Fossilien eines verschollenen Untiers: der Konsumenten aus der vorimperialen Epoche des Kapitalismus".
Die französische Soziologie interessiert sich zudem vor allem für den Vergleich nicht-moderner und moderner Gesellschaften. Marcel Mauss hat die Art und Weise, in der sich die Eskimo-Gesellschaft architektonisch am Boden fixiert, beobachtet: Es ist eine Gesellschaft, die sich im Sommer in kleinen Zelten zerstreut; im Winter "wandeln sich die morphologische Gestalt der Gesellschaft, die Technik ihrer Wohnbauten und die Struktur der darin Schutz suchenden Gruppe ganz und gar". Die Eskimo ziehen in feste, kollektive Häuser und führen darin ein intensives soziales und religiöses Leben in Güter- und Frauengemeinschaft. Sie entfalten also einen absoluten Rhythmus des sozialen Lebens, der nicht ohne den Wechsel der Architektur denkbar ist.
Der Architektursoziologe avant le lettre aber ist Michel Foucault: Er beschreibt die Architektur des Gefängnisses und zeigt, wie das disziplinierte und arbeitsame Subjekt - also wir - im 19. Jahrhundert durch eine spezifische Architektur (des Panoptismus) erzeugt wird. Es sind die Steine, welche die Individuen "gelehrig" machen, indem sie an die Stelle der totalen Einschließung Durchblicke treten lassen, die aus den Einzelnen "Objekte einer Information" machen. Foucault spürt auch an weiteren Stellen eine Architektur auf, die als "Auge der Macht" einer Gesellschaft fungiert, deren Ökonomie es erforderlich macht, die Macht in alle Bereiche der Gesellschaft eindringen zu lassen. Im 18. Jahrhundert enthält jede Abhandlung über Politik "Kapitel über Städtebau, den Bau kollektiver Einrichtungen, Hygiene und den Bau von Privathäusern", während Schlösser und "Zwangshäuser" Orte des Misstrauens werden, so dass sich die neue Gesellschaft "ohne ihre Auslöschung nicht errichten" lässt.
Was die Architektur vermag ...
... das hat, soviel ich weiß, noch niemand festgestellt".