Einleitung
Warum kommt der "schweren" Architektur (und über sie dem Raum und der Stadt) zentrale Bedeutung zu? Warum gibt es in einer Gesellschaft aufmerksamkeitsfesselnde Architekturdebatten über die Gestalt der Städte? Antworten darauf kann die sich etablierende Architektursoziologie geben - als ein Korrektiv zur Soziologie der Moderne. Letztere tendiert in ihrer Eichung auf abstrakte Prinzipien der Vergesellschaftung (Geld, Recht, Schrift, virtuelle Medien) dazu, eine Gesellschaftstheorie ohne Stadt und eine Stadtsoziologie ohne Architektur zu betreiben - bzw. beide stets erst nachträglich zu thematisieren. Die folgenden Überlegungen kreisen um das Ziel, die Architektursoziologie von der Peripherie in das Zentrum der Soziologie zu lotsen.
Zunächst ist die Architektur als eigenlogisches Medium zu präzisieren, um sie überhaupt als spezifisches Kommunikationsmedium des Sozialen zu erschließen. Damit gelingt eine neue Akzentuierung der Raum- und der Stadtsoziologie, wird also die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die Architektursoziologie ins Zentrum der soziologischen Diagnostik gelangen kann. Man erkennt, weshalb die gebaute "Architektur der Gesellschaft" konstitutiv ist für die "Architektur der Gesellschaft" (i. S. ihrer Struktur) - warum Architekturstreite Zentraldebatten gegenwärtiger Vergesellschaftung sind. Dabei ist die Architektursoziologie nicht zu verwechseln mit der "Architekturtheorie" (Ideengeschichte der Architektur), der "Architekturkritik" (Wertung des Gebauten) und "Architekturphilosophie" (Ästhetik und Ethik der Architektur).
Zur Eigenlogik der Architektur: Baukörpergrenze
Die Architektursoziologie ins Zentrum der Soziologie zu bringen, macht einen Umweg erforderlich. Die Soziologie muss sich der Architektur nähern, ohne sofort deren soziale Dimension zu erschließen: Das geschieht am besten über die Kultursoziologie. Denn die Soziologie begreift die Architektur zu rasch in Analogie zu anderen Medien, ungeachtet dessen, dass Architektur weder wie "Sprache", "Text", "Bild", "Skulptur", "Musik" noch wie ein technisches "Artefakt" funktioniert. Ihre Eigenlogik oder ihre "symbolische Form" (Ernst Cassirer) zu ermitteln, heißt auf das spezifische "Wie" der kulturellen Welt- und Selbsterschließung im Bauwerk achtzugeben - noch bevor sich die Frage nach dem Zweck, nach der Funktion stellt.
Charakteristisch für die Architektur ist die Umschließung eines Raumes - die Grenzziehung zwischen Innen/Außen -, in den Öffnungen eingefügt sind, die geschlossen werden können.
Architektur als Kommunikationsmedium
Hat man die Architektur als "Baukörpergrenze" bestimmt, hält man den Schlüssel zur Raumsoziologie in der Hand, indem man von einem kulturtheoretischen Begriff (Ernst Cassirer) zu einem soziologischen Begriff des "Kommunikationsmediums" (Niklas Luhmann) "umschaltet". Architektur ist ein Kommunikationsmedium, sie bahnt die "Verkehrsformen" zwischen den Menschen.
Gebaut wird "nach dem Vorbild des Körpers (...) Die geläufigen Begriffe von Kopf und Fuß, Gesicht und Rücken tauchen als Unterscheidungen von oben und unten, vorn und hinten am Gebäude als Dach- und Untergeschoss, Vorder- und Rückseite wieder auf", und in Analogie zur menschlichen Haut: "Vor allem folgt die Differenz von innen und außen, die für das Wohnen eminente Bedeutung hat, unmittelbar dem Körperschema. Ebenso wie Eigen- und Fremdkörper voneinander getrennt werden, wird auch in der Architektur ein Eigenbereich von einem Fremdbereich, die Privatsphäre von der Öffentlichkeit unterschieden."
Architektur: "konstitutives und transitives Medium" der Vergesellschaftung
Erst unter dieser Voraussetzung gilt der vielzitierte Satz Simmels: Die Grenze ist "eine soziale Tatsache, die sich räumlich formt".
Feminine Soziogenese von Architektur
Hat die Soziologie im Hinblick auf die Architektur so das anonyme Feld zwischen Sach- und Sozialdimension eröffnet, kann sie nun die "Figur" des Architekten "soziologisieren": in ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Konstitution spezifizieren. Das grundlegende soziale Beziehungsmuster in der jeweiligen Genese von Architektur ist die Figuration Bauherr-Architekt-Nutzer (respektive Nutzerin). Dass die Relation triadisch ist, weil Bauherr und Nutzer nicht kongruent sind, dass Architekten nicht nur im Auftrag des "Bauherrn", sondern auch in Erwartung der Nutzer bauen, sieht man daran, dass sie bereits immer auch für Frauen (die bei der weltweit und weltgeschichtlich gebauten Architektur überwiegend nicht Auftraggeber oder Baumeister waren) mitgeplant und -gebaut haben. Architektursoziologisch gesehen waren Frauen über ihre Nutzererwartungen, ihre Geschmacksbildung und -entscheidung eine permanente Steuerungsgröße der Architektur. Über das Beziehungsgefüge Bauherr-Architekt-Nutzerin erlaubt es die Architektursoziologie, eine feminine Soziogenese bestimmter "Bautypen" (Tempel, Kirchen, Klöster, Hofhäuser, Wohnhäuser, Villen, Schlösser, Marktplätze, Theater, Passagen, Kaufhäuser) und vielleicht auch "Baustilen" zu rekonstruieren.
Stadt als kommunikativer Baukörper-Raum
Mit der Etablierung der Architektursoziologie geht nicht nur eine Umakzentuierung der Raum-,
Was wird im Medium Architektur kommuniziert? Was wird mitgeteilt und zur Akzeptanz nahegelegt? In jedem Fall die Differenzierung von Funktionen, das Auseinanderhalten spezialisierter Teilsysteme der Gesellschaft: von Profan- und Sakralsphäre, privater und öffentlicher, Ernst-, Produktions-, Spiel- und Konsumsphäre. In jedem Fall werden soziale Gleichheit oder Ungleichheit, das heißt, Machtverhältnisse, kommuniziert: in der Aneignung von Boden; der Beletage; den Wohnlagen zwischen Zentrum/Peripherie. Ebenso wichtig: In der Architektur kommunizieren die Generationen. In den nacheinander entstehenden, nebeneinander präsenten "Baustilen" geht es um Existenzfragen,
Architektursoziologie als Korrektiv der soziologischen Diagnostik der Moderne
Unausräumbarkeit des Raumes in der Moderne: Nun ist die Stadt nicht mit der Gesellschaft identisch. Die soziologische Theorie hat die Strukturprinzipien der Moderne in der Abgelöstheit vom Raum erkannt. Dahinter verbirgt sich die Erfahrung, dass die "Aufnahme wirtschaftlichen Handelns und Geldgebrauchs gegenüber Unbekannten" nicht an den städtischen Raum gebunden ist.
Die Architektursoziologie kann erneut als Korrektiv fungieren. Wegen ihrer Omnipräsenz kann man sie als grundierendes Kommunikationsmedium der Gesellschaft verstehen, gewissermaßen als Basso continuo. Menschen gleiten Tag für Tag, Nacht für Nacht an den Gebäuden entlang, die ihnen Sinnofferten "zuwinken". "Schwer" ist die Architektur, weil es eine am Material haftende Kommunikation ist (Holz, Stein, Stahl, Glas): schwerer als der Körper und größer, aber auf ihn bezogen. Selbst wenn die Stadt praktisch nicht mehr nötig wäre (was undenkbar ist), wäre sie noch aus Gründen der Wahrnehmung erwartbar. Die "leichten" Kommunikationsmedien bleiben an das "schwere" gebunden. Die Architektursoziologie öffnet die Augen für die Unausräumbarkeit des Raumes in der Moderne.
Ahnenkommunikation der modernen Gesellschaft: Die meisten Menschen leben in Häusern, die sie nicht selbst gebaut haben. Wegen der materiellen Schwere der Architektur ist die Moderne ungeachtet aller Beschleunigung charakterisiert durch eine nur partielle Möglichkeit der "Umkonstruierung": Jedes Bauwerk, das vor meiner eigenen biographischen Spanne errichtet ist, gleich ob es umgenutzt oder umgebaut worden ist, strahlt die Sinnofferte der Ahnen ab. Architektursoziologie, verstanden auch als Beobachtung der Gegenwartsgesellschaft, erschließt diese als Ahnenkommunikation, als unhintergehbare Kommunikation zwischen mehreren Generationen. Nicht an Spezialorten wie dem Friedhof oder dem Archiv sind die - vertrauten oder fremden - Vorfahren präsent, sondern auch noch in den Baukörpern der futuristischen Stadt, "futuristisch" aus Sicht einer bereits vergangenen Generation.
Unaufräumbarkeit der Moderne: Man kann schließlich verstehen, warum es in der "virtuellen" Moderne Architekturstreite gibt, den Kampf um die Baukörper, warum die Frage des Baustils gesellschaftlich gravierend ist: Alle Baustile sind in der Moderne identifizierbar. Wie nirgend sonst macht die moderne Gesellschaft in den städtischen Räumen die Erfahrung der systemischen Unvollendbarkeit der Moderne. Immer geht es darum, wie die umbauten Räume zueinander in Beziehung treten, wie Innenräume abgeschirmt und perforiert werden und in ihrer "Stilisierung" zu den anderen Bauwerken Beziehungen aufnehmen. Durch jede Destruktion, jede Um-, Neu- und Rekonstruktion verschiebt sich etwas im Kommunikationssystem der Baukörper - und damit auch im Verhältnis der Bewohner zu einander. Die Bauhaus-Moderne mit den Gebärden des Aufbruchs; das traditionale Bauen mit der Schutzgebärde; der Expressionismus voll mythischer Baukörpermasken; der Neoklassizismus mit einer Erhabenheits- und Einschüchterungsgeste; die "Postmoderne" mit den der Gesellschaft mitgeteilten Lockerungsübungen; der "Dekonstruktivismus" mit bautechnisch gekonnten Störgesten; die "Rekonstruktion" als Kommunikation mit den Vorfahren bürgerlicher Vergesellschaftung - alle diese Baustile sind für eine architektursoziologische Diagnostik als gesellschaftliche Sozialregulationen identifizierbar. Man versteht, warum mit "Moderne" und "Postmoderne" Baustile der soziologischen Gesellschaftsgeschichte die Titel geben und warum umgekehrt mit »Kontruktivismus« und »Dekonstruktivismus« Architekturmetaphern Leitparadigmen sozial-kulturwissenschaftlicher Theoriebildung werden.
Architekturdebatten können keine Nebendebatten der Moderne sein - so wie Architektursoziologie keine nur periphere Disziplin sein kann, nicht in der Sozialtheorie, nicht in der Raum- und Stadtsoziologie und auch nicht in der Gesellschaftstheorie der Moderne.