Einleitung
Die Architektur ist wie alles Handeln in Überlegungen eingebettet, ja gerade beim Bauen sind eine komplexe geistige Arbeit und Fachkenntnisse vonnöten, um Planung und Berechnung, Organisation und Durchführung erfolgreich zu leisten. Ohne das könnte uns die Decke auf den Kopf fallen. Schon der Römer Vitruv (80/70 - 25 v. C.) schreibt in seinen "10 Büchern zur Architektur", dass "Praxis" und "Theorie" unverzichtbar für das Bauen seien.
Aber wer baut, "denkt" noch in einem weiteren Sinne, wie Martin Heidegger 1951 in dem Vortrag "Bauen Wohnen Denken" betont: In unserem "Bauen" und in der Weise, wir wie den gebauten Raum beleben ("Wohnen") spiegele sich, wie wir die Wirklichkeit verstehen und was wir für sinnvoll und bedeutungsvoll erachten ("Denken").
Die Gartenstädte des Briten Ebenezer Howard (1850 - 1929) waren zum Beispiel vom Ideal gemeinschaftlichen Zusammenlebens in Naturnähe bestimmt und sollten eine Alternative zu den industriellen Arbeitersiedlungen sein. Er entwarf Einfamilienhäuser mit Gärten, die am Rand in die freie Natur übergingen. So sollten Siedlungen von überschaubarer Größe mit Plätzen und anderen sozialen Räumen entstehen, die ein intensives Gemeinschaftsleben befördern. Howard veröffentlichte seine Ideen 1898 unter dem Titel "Tomorrow - a peaceful path to real reform".
Eine ganz andere Gesellschaftsphilosophie findet sich bei Mies van der Rohe, der eine Siedlung pavillonartiger Einfamilienhäuser entwarf. Sie grenzen sich voneinander durch fensterlose Mauern ab, alles Licht kommt von einem geschützten Innenhof durch Glaswände. Das bedeutet eine ganz andere Integration der Natur in den Lebensraum, basierend auf einem abweichenden Naturverständnis (der Garten ist primär ein Kulturraum). Vor allem aber wird bei van der Rohe die Autonomie des Menschen höher geschätzt als Interaktion und Gemeinschaft.
Bauwerke können komplexe oder schlichte Weltsichten ausdrücken, zu sehr unterschiedlichen Themen Stellung nehmen und die Weltsichten den Architekten mehr oder weniger bewusst sein. Dabei ist die jeweilige Weltsicht in der Regel von der Philosophie einer Zeit geprägt - selbst dort, wo sich Architekten davon absetzen wollen. Die Architekturtheorie reagiert sogar oft explizit auf philosophische Ideen. Aber unabhängig davon, ob und wie weit Weltsichten überhaupt in Worte gefasst werden, verkörpert jedes Gebäude eine Deutung der Welt. Man könnte von der Architektur als Philosophie sprechen.
Philosophie begegnet uns so mehrfach: Erstens wird die Architektur (und Architekturtheorie) durch die Philosophie ihrer Zeit geprägt. Zweitens drückt die Architektur eine Philosophie aus. Drittens ist Architektur ein Gegenstand philosophischen Nachdenkens - nämlich der Philosophie der Architektur.
Architektur als Philosophie
Vom Turmbau zu Babel wird erzählt, dass die Menschheit sich mit ihm an die Stelle Gottes setzen wollte. Der Turm ragt in den Himmel als Symbol menschlicher Anmaßung. Das himmlische Jerusalem aus der Apokalypse des Johannes ist das Gegenbauwerk. Mit "Mauerwerk ... aus Jaspis und die Stadt aus reinem Gold, gleich reinem Glas", verweist es auf eine zukünftige Harmonie zwischen Mensch und Gott, der in dieser Stadt unter uns wohnen wird.
Detailfreudig wird eine sinnfällige Architektur in den Utopien ausgemalt; Thomas Morus schildert in seiner Utopia von 1516 eine ideale Wirklichkeit (auch wenn es umstritten ist, ob er nicht eine ironische Lesart dieses Ideals nahelegt). Zu dieser Wirklichkeit gehört Amaurotum, eine wohl befestigte, fast quadratische Stadt mit schmucken Häusern an einem breiten Fluß. Hier wird die Heimstatt einer friedliebenden, aber wehrhaften Gemeinschaft entworfen. Das drückt sich in Befestigungsanlagen aus wie auch in der Gleichförmigkeit ihrer Gebäude: Diese Bauidee zeigt eine wechselseitige Achtung aller Bewohner; keiner will den anderen überragen. Die Architektur bekräftigt auch die Eigentumsordnung der Utopier:
"Kein Haus, das nicht, wie nach vorne die Straßentür, so nach hinten ein Pförtchen in den Garten hätte. Diese Türen sind zweiflügelig, mit einem leichten Druck der Hand zu öffnen, und gehen dann auch von selber wieder zu und lassen Jedermann ein, weil es ja Privateigentum nicht gibt."
Dadurch, dass die Bauweise der Tür eine räumliche Abgrenzung unmöglich macht, soll auch das Sichern und Horten privaten Eigentums - und damit dieses selbst - undenkbar werden. (Zudem würde zugleich Diebstahl sinnlos werden, weil ja auch kein Dieb seine Beute sichern könnte.)
Eine andere Philosophie findet sich im Fun Palace, einem nie realisierten Entwurf des Briten Cedric Price aus den 1960er Jahren (die Entwürfe standen allerdings Pate für das Centre Pompidou in Paris). Das Menschenbild könnte kaum gegensätzlicher sein: Morus sieht den Menschen als Wesen mit fester Bedürfnisstruktur (zu der das Gärtnern, aber nicht das Eigentum gehört), Price betont die frei gewählte, ständige Veränderung menschlicher Interessen und Bedürfnisse, wobei Vergnügen ("Fun") die Erfüllung des Daseins ausmacht. Diese Dynamik soll das Bauwerk ausdrücken und unterstützen und damit im Kontrast zur seriellen Eintönigkeit der normalen Architektur stehen. Der Fun Palace ist ein großer Raum ohne feste Zimmerabgrenzungen, in dem für die jeweiligen Bedürfnisse immer neue Räume und Nutzungen entwickelt werden können. Den Fun Palace zu beleben wird selbst zu einem kreativen Erlebnis; seine Form ist unbestimmt, weil auch die menschlichen Bedürfnisse nicht festgelegt sind. Das drückt eine Weltsicht aus, nach der diese eine immer neu zu gestaltende Wirklichkeit ist, der wir jeweils Sinn und Bedeutung geben.
Architektur kann in verschiedenen Phasen der Entstehung Ausdruck einer Philosophie sein - nicht nur im Entwurfsplan oder in der Beschreibung, sondern auch in der konkreten Planung und Organisation des Baues. (Howards Gartenstädte etwa sollten genossenschaftlich organisiert sein, um mit dem Gemeineigentum auch die Gemeinschaft einer Siedlung zu stärken.) Beim Bauprozess werden ebenfalls Entscheidungen getroffen, hinter denen neben ökonomischen auch Wertüberzeugungen stehen: Das britische Arts and Crafts Movement des 19. Jahrhunderts beispielsweise forderte handwerkliche Gestaltungen, während die internationale Moderne industriell gefertigten Bauteilen den Vorzug gab. Das Bauwerk selbst spricht schließlich zu uns: Die großen Bögen am Bundeskanzleramt in Berlin sollen für die Offenheit der Demokratie stehen, während die versetzten Steine der neuen Synagoge in Dresden mitteilen, dass jüdisches Leben in Deutschland nie mehr "normal" sein kann. Was das Gebäude kommuniziert, kann sich allerdings über die Zeit ändern, wie auch die Bedeutung von Worten nicht stabil ist, sondern durch die wechselnden Bezugspunkte einer Zeit konstituiert wird. Und auch in der Sensibilität einer Architektur für ihren baulichen Kontext liegt ein Stück Philosophie: Es kann Ein- oder Unterordnung angestrebt werden (als Achtung vor einer Tradition), scheinbare Einordnung zum Betonen der eigenen Sonderstellung (wie beim Haus der Kunst in München, in dem sich das Dritte Reich als Vollendung klassischer Kunst feiern wollte) oder selbstbewusste Absetzung (wie beim unvermittelt massig aufragenden Fernsehturm auf dem Berliner Alexanderplatz).
Philosophie der Architektur
Was kann eine Philosophie der Architektur leisten? Eine ihrer Aufgaben ist es, die implizite Philosophie der gebauten Welt aufzuschlüsseln. Was sagt ein Gebäude und wie spricht es überhaupt? Denn es ist durchaus eine sonderbare Sprache, mit der wir es zu tun haben: Sie wird von wenigen Menschen verstanden, und von noch weniger gesprochen. Ein Gehör für die Sprache der Architektur muss erst erworben werden.
Die Philosophie der Architektur kennt verschiedene Teilbereiche, da auch Gebäude vielschichtig in unser Leben eingewoben sind. Man könnte von einer philosophischen Anthropologie der Architektur sprechen, wenn es um das ihr zugrundeliegende (oder durch sie beförderte) Menschenbild geht. Oder von der Ästhetik der Architektur: Sie fragt beispielsweise nach den Vorstellungen von Schönheit oder den Gründen für aufrechte, "stehende" oder "liegende" Fenster. Man sollte ferner die Metaphysik erwähnen: Es ist eine umfassende Aufgabe der Philosophie (bzw. Metaphysik) der Architektur, Aussagen über letzte Dinge, die das Bauwerk macht, zu verdeutlichen. Eine gotische und romanische Kathedrale verkörpern unterschiedliche Gottesbilder.
Die Philosophie der Architektur stellt auch sozialphilosophische Fragen: Welche gesellschaftlichen Bedingungen erklären Bauweisen oder spiegeln sich in ihnen? Die Gestaltung der Küche zeigt etwa die soziale Struktur. Thomas Morus fordert: "Überfamiliär ist die Gemeinschaft klosterähnlich organisiert mit Gemeinschaftsküche und gemeinsamen Speisungen." In den privaten Bürgerhäusern des 19. Jahrhunderts dagegen gab es nicht einmal eine Tür, bestenfalls eine Durchreiche zwischen Speiseraum und Küche, dem Ort für das Personal. Noch bis in die 1960er Jahre blieb die räumlich getrennte Küche als Ausdruck für die Aufgabe der Hausfrau erhalten, die aber nunmehr verschiedene Rollen übernimmt: Sie kocht für die Familie und Gäste, ist aber beim Essen dabei, nachdem sie die Küchentür geschlossen hat. In den letzten Jahrzehnten "wuchs" das Wohnzimmer und die Küche öffnete sich zuerst mit einer Anrichte in den Lebensbereich und gipfelte dann im Küchenblock; ein zentraler Arbeitsbereich, an dem man von vier Seiten gemeinsam kochen kann. Aus der einstmals untergeordneten Tätigkeit hinter verschlossenen Türen ist eine geteilte Freizeitbeschäftigung geworden.
Es gehört zur Philosophie, nicht nur eine analytische, sondern stets auch eine kritische bzw. bewertende Seite zu haben. Sie kann fragen, ob wir das, was wir vorfinden oder was geplant ist, auch gutheißen - und entsprechend, wie wir bauen sollten. Dieses bewertende Herangehen findet sich in allen genannten Bereichen. In der Ästhetik können Maßstäbe bewertet werden (zum Beispiel beim Streit darüber, ob man heute noch im klassischen Stil bauen darf), ebenso in der Anthropologie (ist das Menschenbild des Fun Palace angemessen oder lebt der Mensch gerade aus der Auseinandersetzung mit dem Vorgegebenen?). Eine sozialphilosophische Frage der Bewertung wäre: Sollen Bauwerke die Autonomie betonen oder den Menschen zu stärkerer Sozialität anregen?
Ein zentraler Bereich für die bewertende Herangehensweise ist natürlich die bisher noch nicht erwähnte Ethik der Architektur. Bauwerke sind moralisch nicht stumm, sondern verkörpern und befördern Werte. Wie Mies van der Rohe bemerkt:
"Ordnung ist mehr als Organisation. Organisation ist Zwecksetzung. Ordnung ist Sinngebung, und das hat sie mit der Baukunst gemein. Beide reichen weit über Zwecke und zielen im letzten Grund auf Werte."
Auch hier kann man einen analytischen Aufgabenbereich der Ethik der Architektur von einem bewertenden unterscheiden. Ein heute wichtiges Thema wäre etwa die Nachhaltigkeit eines Gebäudes. Aber die ethische Relevanz geht weiter, sie schließt zum Beispiel den sozialen Bereich ein: Durch die Bauweise können etwa Begegnungen gefördert oder behindert werden (was man in der Architektursoziologie "behaviour settings" nennt) - Fußgängerzonen erlauben andere Interaktionen als autofreundliche Innenstädte.
Grob könnte man folgende ethisch relevante Aspekte der Architektur unterscheiden: 1. Professionelles Verhalten während der Planungs-, Entwurfs- und Bauphase. (Wie geht der Bauherr mit den Mitarbeitern um?) 2. Funktion und Gebrauch eines Gebäudes. (Ist es ein Sanatorium oder ein GULag?) 3. Der Einfluss des Gebäudes auf die Natur. (Ist das Gebäude nachhaltig gebaut?) 4. Der Einfluss auf individuelle Nutzer, ihre Gesundheit, Sicherheit und auf ihr allgemeines, einschließlich des psychologischen Wohlbefindens. (Gibt es genügend natürliches Licht im Innenraum?) 5. Der Einfluss auf menschliches Verhalten, individuell wie gesellschaftlich-allgemein. (Befördert es sozialen Kontakt?) 6. Die kulturelle und symbolische Bedeutung der Architektur, die durch Formgestalt, Materialgebrauch, Stil und andere Mittel etwas ausdrücken kann.
Neben der Unterscheidung der Aspekte steht die schwierige Frage, welche Maßstäbe eine Ethik der Architektur zugrunde legen sollte. Ist ein gesellschaftliches Ideal großer Autonomie vorzuziehen wie in Apartment-Wohnblocks - oder sollte die Architektur sozialen Austausch befördern wie im New Urbanism, bei dem kleinteilige, fußgängerfreundliche Stadtteile in einer meist sehr traditionellen Stilsprache entworfen werden? Sollte sie alle Bedürfnisse der Bewohner befriedigen (selbst wenn dies Kitsch zur Folge hätte) oder eher erzieherisch wirken? Bei solchen Fragen herrscht nur wenig Übereinstimmung, was aber kaum verwundert - alle grundsätzlichen Diskussionen über angemessene Wertmaßstäbe für uns Menschen findet sich gespiegelt in der Frage, wonach sich die Architektur ausrichten sollte.
Die Philosophie der Architektur steckt noch in ihren Kinderschuhen. Und doch lohnt die Aufgabe, Architektur philosophisch weiter zu denken: Wenig umgibt uns so umfassend wie die gebaute Welt - zugleich sind unsere Augen und Ohren oft verschlossen für ihre Botschaft und Philosophie. Es ist an der Zeit, denkend tiefer in diesen wichtigen Bereich menschlicher Kultur vorzudringen, damit wir die Architektur unserer Gesellschaft - und damit uns - besser verstehen: und so vielleicht in Zukunft auch besser bauen.