Einleitung
Forderungen, den Arbeitsmarkt zu deregulieren und flexible Beschäftigungsformen zu fördern, gehören seit Jahren zu den Kernpunkten in der beschäftigungspolitischen Debatte.
Ungeachtet dessen setzte die Politik, beginnend mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985, auf eine sukzessive Deregulierung. In zahlreichen Schritten wurde, vor allem im Rahmen der "Hartz-Gesetze" (die vier Gesetze "für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt"), der Spielraum für sämtliche Dimensionen der Flexibilität erheblich ausgeweitet.
Diesen Aspekten gilt der vorliegende Beitrag. Er beginnt, atypische und Normalarbeitsverhältnisse begrifflich voneinander abzugrenzen, skizziert anschließend Entwicklung und Ausmaß atypischer Beschäftigungsformen und vergleicht danach anhand sozialer Kriterien, wie sich atypische und Normalarbeitsverhältnisse unterscheiden. Einige Schlussfolgerungen zur besseren sozialen Absicherung atypischer Beschäftigung schließen den Beitrag ab.
Normalarbeitsverhältnis und Formen atypischer Beschäftigung
Atypische Beschäftigungsverhältnisse werden in aller Regel in einer negativen Abgrenzung zum sogenannten Normalarbeitsverhältnis (NAV)
Atypische Beschäftigungsverhältnisse weichen in mindestens einem der genannten Kriterien vom NAV ab. Ihre Merkmale sind:
Teilzeittätigkeit, bei der die regelmäßige Wochenarbeitszeit und entsprechend das Entgelt reduziert sind.
Geringfügige Beschäftigung, die eine spezifische, durch Einkommensgrenzen definierte Variante von Teilzeit darstellt; sie wurde durch die Hartz-Gesetze zu Mini- und Midi-Jobs erweitert (mit monatlichen Entgeltgrenzen von 400 bzw. 800 Euro bei Abschaffung der vorher bestehenden Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit) und pauschalierten Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern in Höhe von 30 Prozent, die allein der Arbeitgeber zu leisten hat.
Befristete Beschäftigung: Die Höchstdauer der Befristung wurde mehrfach bis zuletzt auf zwei Jahre ausgeweitet.
Leiharbeit,
deren Besonderheit in der dreiseitigen Beziehung zwischen Arbeitnehmer, Verleih- und Entleihunternehmen liegt. Dadurch fallen Arbeitsverhältnis (zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer) und Beschäftigungsverhältnis (zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer) auseinander. Im Rahmen der Hartz-Gesetze wurden die Überlassungshöchstdauer, das Synchronisationsverbot von Arbeitsvertrag und Entleihdauer sowie das Wiedereinstellungsverbot abgeschafft. Im Gegenzug wurde das equal-pay-Prinzip eingeführt, von dem im Rahmen von Tarifverträgen abgewichen werden kann. "Neue Selbständigkeit", welche die alte freiberufliche, wie bei Anwälten oder Ärzten, ergänzen soll, wurde durch den im Rahmen der Hartz-Gesetze 2003 eingeführten Existenzgründungszuschuss ("Ich-AG" bzw. "Familien-AG") gefördert. Dieser ist inzwischen mit dem ähnlichen Instrument des Überbrückungsgeldes zum Gründungszuschuss zusammengelegt worden (ab August 2006). Die Abgrenzung zwischen abhängiger und selbständiger Erwerbstätigkeit ("Scheinselbständigkeit") fällt nicht immer leicht. Die Grenzlinien zwischen beiden Beschäftigungsformen können fließend sein. Auf diese Erwerbsform wird hier nicht näher eingegangen.
Entwicklung und Ausmaß atypischer Beschäftigung
Seit den frühen 1990er Jahren nehmen sämtliche Formen atypischer Beschäftigung zu, allerdings mit unterschiedlichem Tempo und ausgehend von unterschiedlichen Niveaus (vgl. Tabelle in der PDF-Version):
Teilzeit stellt mit Abstand die am weitesten verbreitete Form dar (über 26 Prozent). Ihre Ausweitung über die Konjunkturzyklen hinweg hängt eng mit der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen zusammen, die nach wie vor über 80 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten ausmachen.
Einer geringfügigen Beschäftigung gehen - nach einer anfänglich deutlichen Zunahme infolge der Hartz-Gesetze sowie einer anschließenden Konsolidierung auf hohem Niveau - inzwischen über 20 Prozent aller abhängig Beschäftigten nach. Zu unterscheiden ist zwischen Mini-Jobs als ausschließlich ausgeübter Tätigkeit und Mini-Jobs, die als Nebenerwerbstätigkeit, also zusätzlich zu einer nicht-geringfügigen Beschäftigung, ausgeübt werden. Die zuerst genannte, eindeutig problematischere Variante dominiert; auf sie entfallen mehr als zwei Drittel aller Minijobs.
Befristete Beschäftigungsverhältnisse haben trotz mehrfacher Deregulierungen seit Mitte der 1980er Jahre im Vergleich zu den anderen Formen nur moderat auf ca. 10 Prozent zugelegt.
Leiharbeit umfasst nach wie vor nur ein insgesamt kleines Segment des Arbeitsmarktes, ist aber seit der Reform im Zuge der Hartz-Gesetze ungewöhnlich stark expandiert (auf über zwei Prozent). Mit der derzeitigen Wirtschaftskrise hat sich die Entwicklung schlagartig umgekehrt: Dem steilen Anstieg folgt ein ebenso steiler Abschwung.
Diese Kurve spiegelt die extreme Konjunkturabhängigkeit der Leiharbeit wider.
Der Anteil aller atypischen Beschäftigungsverhältnisse ist, wenn man Doppelzählungen berücksichtigt, mittlerweile (2007) auf 37 Prozent aller Beschäftigten gestiegen.
Angesichts dieser Entwicklung beschreibt die Formel "Pluralisierung bzw. Differenzierung der Erwerbsformen" die Veränderungen im Erwerbssystem trefflicher als die häufig verwendete Begrifflichkeit einer Krise oder gar "Erosion des Normalarbeitsverhältnisses".
Die Varianten unterscheiden sich in Bezug auf die Zusammensetzung (u.a. nach Alter und Qualifikationsniveau der Arbeitnehmer, Branche und Region, vor allem Ost und West).
Sind atypische Beschäftigungsverhältnisse prekär?
In der politischen wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion wird atypische häufig mit prekärer Beschäftigung gleichgesetzt.
Wir schlagen vor, folgende, vergleichsweise leicht zu operationalisierende, nicht rein subjektive Dimensionen von Prekarität zu unterscheiden, die kombiniert auftreten können:
ein die materielle Existenz sicherndes Einkommen, wie üblich definiert als mindestens zwei Drittel des Medianlohnes, wobei zwischen Individual- und Haushaltseinkommen zu unterscheiden ist;
Integration in die Systeme sozialer Sicherung;
Beschäftigungsstabilität (bezogen auf ein möglichst ununterbrochenes Beschäftigungsverhältnis, das sich durchaus auf verschiedene Arbeitsplätze beziehen kann;
Beschäftigungsfähigkeit (employability).
Im Großen und Ganzen stufen die mittlerweile zahlreichen, auf unterschiedlichen Datensätzen basierenden empirischen Analysen atypische Beschäftigung als inferior gegenüber dem Normalarbeitsverhältnis ein. Sie zeigen aber, dass nicht jedes atypische Beschäftigungsverhältnis als prekär einzustufen ist. Die Prekaritätsrisiken sind jedoch, gemessen an den genannten Kriterien, deutlich höher als bei NAV, die ebenfalls nicht frei von Prekaritätsrisiken sind.
Beim Lohn schneiden alle Formen atypischer Beschäftigung schlechter ab als das NAV. Besonders krass fallen die Lohnabschläge bei geringfügig Beschäftigten aus,
Benachteiligt sind atypisch Beschäftigte außerdem beim Zugang zu betrieblich-beruflicher Weiterbildung.
Die aufgezeigten Prekaritätsrisiken wären in dem Maße zu relativieren, wie atypische Beschäftigung als Einstieg in den Arbeitsmarkt und als nur kurzzeitige Durchgangsstation zu Normalarbeitsverhältnissen dienen würde. Aufwärtsmobilität ist jedoch nur eingeschränkt vorhanden. Bei Arbeitsplatzwechsel gelingen Übergänge aus atypischer Beschäftigung in Normalarbeitsverhältnisse deutlich schwieriger als aus unbefristeter Vollzeittätigkeit. Befristet Beschäftigte und Leiharbeitnehmer münden nach Verlust ihres Arbeitsplatzes, wenn man den Verbleib in Arbeitslosigkeit außer Acht lässt, überproportional häufig wieder in vergleichbar unsichere Beschäftigungsformen.
Langfristige Effekte
Solche Karrieremuster atypischer Beschäftigung werfen langfristige Probleme der sozialen Sicherung auf. Sie reichen über den Arbeitsmarkt hinaus und weit hinein in die Systeme sozialer Sicherung. Diese sind in der Bundesrepublik stark erwerbszentriert beziehungsweise relativ strikt an den Kriterien des NAV (mit Beitragsfinanzierung und Äquivalenzprinzip) ausgerichtet. Die Analyse der sozialen Folgeprobleme lässt die bisherigen Grenzziehungen zwischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik obsolet erscheinen.
Die Häufung sozialer Risiken bei atypisch Beschäftigten hat zur Folge, dass sie im Vergleich zu Beschäftigten mit NAV häufiger nur Niedriglöhne beziehen,
Langfristig ist vor allem die Rentenversicherung relevant. Längere Phasen einer Teilzeitbeschäftigung oder einer ausschließlich ausgeübten Tätigkeit als Minijobber führen aufgrund geringer Beiträge zu nicht ausreichenden Ansprüchen; sie erhöhen in individueller Perspektive das Risiko der Altersarmut, welches in der Bundesrepublik über Jahrzehnte als gelöst angesehen werden konnte, in Zukunft jedoch wieder an Bedeutung gewinnen wird. In kollektiver Sicht belasten sie wegen der notwendigen, aufstockenden Transferzahlungen die Träger beziehungsweise die öffentlichen Haushalte in beträchtlichem Maße und bergen das Risiko einer allmählichen Erosion der Beitragsbasis.
Arbeitsmarktpolitik und atypische Beschäftigung
Die Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahrzehnte hat aus den eingangs genannten Gründen versucht, die verschiedenen Formen atypischer Beschäftigung zu fördern. Die Frage nach den positiven und negativen Auswirkungen lässt sich in Anbetracht der skizzierten Heterogenität ihrer Varianten und veränderten rechtlich-institutionellen Voraussetzungen kaum generell beantworten. Von positiven Effekten könnte gesprochen werden, wenn die Expansion atypischer Beschäftigung einen spürbaren Beitrag zum Beschäftigungsaufschwung zwischen 2005 und 2008 geleistet hätte. Hierüber gehen die Meinungen auseinander. Während zum Beispiel der Sachverständigenrat die Deregulierungen bei Leiharbeit, befristeter sowie geringfügiger Beschäftigung als wesentlichen Impulsgeber ansieht,
Kaum Zweifel bestehen an den positiven Beschäftigungswirkungen der expandierenden Teilzeitarbeit. Eine auf vereinfachenden Annahmen basierende Modellrechnung für die Jahre 1994 bis 2004 schreibt der gestiegenen Teilzeitquote einen positiven Umverteilungseffekt von 2,6 Millionen Beschäftigungsverhältnissen zu.
Ausblick
Resümierend lässt sich festhalten, dass atypische Beschäftigungsformen systematisch höhere Prekaritätsrisiken als Normalarbeitsverhältnisse aufweisen. Die Beschäftigungseffekte sind nur als gering einzustufen.
Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage, wie atypische Beschäftigungsformen zukünftig behandelt werden sollen. Soll man weiterhin auf die Marktmechanismen vertrauen und sie sogar durch weitere Deregulierungsmaßnahmen fördern - oder sollte man sie regulieren und gestalten? Im Rahmen der zweiten Option ginge es um die Minderung, im günstigsten Fall um die Beseitigung der skizzierten sozialen Risiken durch (Re-)Regulierung. Da die Formen atypischer Beschäftigung recht heterogen sind, müssen entsprechende Strategien differenziert ansetzen. Gleichwohl versprechen bestimmte generelle Regelungen und Gestaltungsprinzipien die beschriebenen Prekaritätsrisiken zu mindern. Hierzu gehört die Verwirklichung des equal-pay-Prinzips, das den Lohnabstand zwischen atypisch und regulär Beschäftigten einebnet. Bei einem funktionierenden Marktmechanismus wäre angesichts der höheren Beschäftigungsrisiken sogar mit einer Risikoprämie zu rechnen. Generelle Ansprüche auf betrieblich-berufliche Weiterbildung würden nicht nur die individuellen Arbeitsmarktchancen fördern, sondern ebenso die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes verbessern.
Ein dritter genereller Reformpunkt betrifft die Alterssicherung. Eine nicht systemkonforme Lösung wäre die Einführung einer bedarfsorientierten Mindestsicherung im Alter, die seit Langem auch unabhängig von atypischer Beschäftigung diskutiert wird. Wir plädieren für eine dreistufige Lösung aus allgemein-steuerfinanzierter Basissicherung, beitragsfinanzierten Ansprüchen aus der Erwerbstätigkeit sowie freiwilliger Zusatzversicherung, die allerdings ein entsprechendes Einkommen voraussetzt.
Einen Ansatz, der die genannten Reformpunkte konzeptionell integrieren könnte, bieten die neu aufgekommenen Überlegungen zur "Flexicurity-Strategie". Sie verlagern die Richtung der Auseinandersetzung um die Regulierung des Arbeitsmarktes. Das Konzept der Flexicurity soll die von den Unternehmen geforderte höhere Flexibilität mit den Interessen der Arbeitnehmer an mehr sozialer Sicherheit besser austarieren als dies bisher unter den Vorzeichen von ausschließlicher Flexibilisierung und Deregulierung geschehen ist.