Einleitung
Historischer Ausgangspunkt für die heutige Arbeitslosenversicherung war die nach dem Ersten Weltkrieg eingeführte staatliche Erwerbslosenfürsorge, die in den 1920er Jahren zu einer beitragsfinanzierten Versicherung weiterentwickelt wurde. Sie besteht in den Grundzügen noch heute. Das Leistungsniveau der Arbeitslosenversicherung und die Bedingungen für deren Inanspruchnahme unterlagen jedoch einem stetigen Wandel: In wirtschaftlichen Schwächephasen wurden Leistungen tendenziell gekürzt und in Aufschwungphasen eher ausgebaut. Eine wichtige arbeitsmarktpolitische Weichenstellung erfolgte durch das 1969 vom Bundestag verabschiedete "Arbeitsförderungsgesetz" (AFG). Es war nicht nur durch seine in Teilen präventive Ausrichtung umfassender als seine gesetzlichen Vorgänger, sondern auch, weil es sich mit seinen vielfältigen Weiterbildungsangeboten nicht nur an Arbeitslose wandte. Mit dem seit dem 1. April 1998 wirksamen Sozialgesetzbuch III (SGB III) wurde der hohe Anspruch des AFG aufgegeben. Seither ist die Funktionalität der Arbeitslosenversicherung wieder stärker in den Fokus der Diskussion gerückt.
Die Arbeitslosenversicherung ist ein wesentlicher Bestandteil der Arbeitsmarktpolitik. Da temporäre Lohnersatzleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit gewährt werden, rechnet man sie gemeinhin der passiven Arbeitsmarktpolitik zu. Dagegen werden Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Arbeitslosen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zugeordnet. Die Arbeitslosenversicherung hat zwei wesentliche Funktionen. Zum einen trägt sie temporär zur Einkommenssicherung von Personen bei, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Damit hat sie eine verteilungspolitische Dimension, der in wirtschaftlichen Schwächephasen auch ein Beitrag zur Stützung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zugemessen werden kann. Zum anderen soll die Arbeitslosenversicherung eine effiziente Suche ermöglichen und damit die Zuweisung von Arbeitskräften (Allokation) am Arbeitsmarkt verbessern. Dabei stehen die Anreizeffekte der Lohnersatzleistung im Vordergrund. Beide Funktionen können sich widersprechen, weil ein relativ hoher Lohnersatz zwar den materiellen Status des Arbeitslosen weitgehend wahrt, aber den Suchprozess und damit die Arbeitslosigkeit verlängern kann. Wenn somit beiden Funktionen der Arbeitslosenversicherung eine Berechtigung zukommt, sie sich aber auch widersprechen können, ist danach zu fragen, wie großzügig die Arbeitslosenversicherung sein sollte und sein darf.
Ökonomische Funktionen
In nahezu allen OECD-Ländern existiert eine mehr oder weniger öffentliche Arbeitslosenversicherung, die für Arbeitnehmer in aller Regel obligatorisch ist. Dagegen gibt es so gut wie keine privaten Angebote zur Absicherung des Einkommensausfalls im Falle der Arbeitslosigkeit. Dafür gibt es mehrere Ursachen.
Die Bedeutung der öffentlichen Arbeitslosenversicherung für den Ausgleich von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage lässt sich am besten auf der Basis suchtheoretischer Ansätze verdeutlichen.
Die Ausgestaltung des Arbeitslosengelds beeinflusst auch die Akteure des Arbeitsmarkts. So können großzügige Transferleistungen die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften stärken und damit die Lohnsetzung beeinflussen. Werden Löhne durchgesetzt, die oberhalb des Wertschöpfungsbeitrags der Arbeitskraft liegen, kommt es zu Arbeitsplatzverlusten. Allerdings ist der Zusammenhang nicht eindeutig, weil es nicht nur eine positive Beziehung zwischen gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht und Arbeitslosigkeit gibt, sondern auch einen negativen Zusammenhang zwischen Lohnniveau und vorheriger Arbeitslosigkeit. Denn das Gewerkschaftsverhalten wird auch von der Höhe der Arbeitslosigkeit beeinflusst.
Darüber hinaus muss eine weitgehende Absicherung im Falle der Arbeitslosigkeit immer auch finanzierbar sein. Entweder geht es dabei um zusätzliche Steuermittel oder materielle Ressourcen der Arbeitslosenversicherung. Im Falle Deutschlands bedeutet eine großzügigere Arbeitslosenunterstützung, dass der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung längerfristig höher ausfallen müsste, was dauerhaft Wachstum und Arbeitsplätze kostet. Dies alles sind Argumente, die eine eher kritische
Zur InformationAktuelle Regelungen der Arbeitslosenversicherung (Stand 1. 1. 2009)
Obligatorisches Sozialversicherungssystem für Arbeitnehmer.
Zeitlich befristete, entgeltbezogene Leistung.
Grundsicherung bei Bedürftigkeit, insbesondere das wenn das Arbeitslosengeld erschöpft ist.
Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern: 2,8 Prozent.
Beitragsbemessungsgrenze: 5.300 Euro in den alten Bundesländern, 4.500 Euro im Osten.
Versichert sind Arbeitnehmer, deren Entgelt die Geringfügigkeitsgrenze übersteigt.
Anwartschaft durch beitragspflichtige Beschäftigung von mindestens 12 Monaten innerhalb einer Rahmenfrist von zwei Jahren vor Eintritt der Arbeitslosigkeit.
Bemessung: Maßgeblich ist das durchschnittliche Arbeitsentgelt der letzten 52 Wochen vor Entstehen des Anspruchs.
Höhe des Arbeitslosengelds: 60 Prozent des Nettolohns für Personen ohne Kinder, 67 Prozent für Personen mit Kindern.
Dauer der Leistung: maximal 12 Monate (bei Älteren bis zu 24 Monate).
Sanktionen: bei Eigenkündigung (einschl. Aufhebungsverträgen) ohne wichtigen Grund oder bei vertragswidrigem Verhalten (z.B. Ablehnung eines zumutbaren Angebots oder Nicht-Teilnahme an Maßnahme. Sperrzeit: bis zu 12 Wochen).
Sicht auf die Arbeitslosenversicherung unterstützen. Dem stehen jedoch aus ökonomischer Sicht auch positive Aspekte gegenüber. Zu nennen ist hier zuallererst die eingangs erwähnte Einkommenssicherungsfunktion der Arbeitslosenversicherung, die eine verteilungspolitische Dimension besitzt und zumindest potentiell den sozialen Frieden stärkt. Ohne eine solche Absicherung wäre der mit einem Prozess der kreativen Zerstörung einhergehende strukturelle Wandel der Volkswirtschaft noch schwerer zu bewältigen, denn die davon betroffenen Arbeitnehmer hätten bei einem Arbeitsplatzverlust noch mehr zu verlieren und würden deshalb gegebenenfalls mit allen Mitteln um den Erhalt ihrer Beschäftigungsmöglichkeiten kämpfen.
Eng verbunden mit der Einkommenssicherungsfunktion der Arbeitslosenversicherung ist die volkswirtschaftliche Bedeutung des Arbeitslosengelds als Nachfragekomponente. Die Lohnersatzleistung ist in diesem Zusammenhang als ein automatischer Stabilisator zu sehen, der bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit und insbesondere in Krisenzeiten auf der Mikro- und Makroebene Nachfrageausfällen entgegenwirkt und damit die Konjunktur stützt. Schließlich unterstützt ein "angemessenes", und damit am vorherigen Status orientiertes, befristetes Arbeitslosengeld das matching (die Abstimmung) zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage und damit die Ausgleichsprozesse auf dem Arbeitsmarkt. Denn durch eine solche Suchsubvention sieht sich der Arbeitslose nicht veranlasst, schnell das erstbeste Angebot annehmen zu müssen.
Gestaltungsparameter
Höhe der Lohnersatzleistung: Eine Reihe von empirischen Untersuchungen zeigt, dass der Einfluss der Höhe von Transferleistungen auf das Arbeitslosigkeitsniveau weder überschätzt, noch unterschätzt werden sollte. Dennoch weisen die Ergebnisse eine eindeutige Wirkungsrichtung aus. Früheren Untersuchungen zufolge wäre eine Absenkung der Lohnersatzrate um 10 Prozent notwendig, um die Arbeitslosenquote um 1 bis 1,5 Prozent zu verringern.
Bezugsdauer der Unterstützungsleistung: Den vorliegenden wissenschaftlichen Befunden zufolge hat die Dauer des Bezugs von Lohnersatzleistungen einen stärkeren Einfluss auf Höhe und Dauer der Arbeitslosigkeit als das Niveau der Transferleistung.
Anwartschaftszeiten: Anwartschaften entstehen durch Beschäftigungszeiten und können höhere oder geringere Anforderungen an den Leistungsbezug stellen. Sie sind insofern ein Element, das zur relativen Großzügigkeit des Arbeitslosenversicherungssystems beiträgt. Höhere Anforderungen an die Anwartschaftszeiten fördern zwar tendenziell die Beschäftigungsstabilität, können aber in Krisenzeiten dazu führen, dass die dann häufiger freigesetzten Personen in stärkerem Maße auf die Grundsicherung angewiesen sind. Eine wichtige Frage bei der Ausgestaltung der Anwartschaften ist die Anrechnung von Maßnahmezeiten
Zumutbarkeit: Aus arbeitsökonomischer Sicht ist bei der Frage der Zumutbarkeit ein Zielkonflikt zu konstatieren. Wird den Erwerbslosen hinsichtlich der Aufnahme von Beschäftigung vergleichsweise wenig "zugemutet", ist der Druck für sie geringer, Ausstiegsoptionen aus der Arbeitslosigkeit wahrzunehmen. Dagegen kann zu viel Druck (durch die Durchsetzung einer weit gefassten Zumutbarkeit) in einem frühen Stadium des Transferbezugs dafür sorgen, dass Arbeitslose die erstbeste Stelle annehmen müssen und dadurch die Allokation am Arbeitsmarkt beeinträchtigt wird.
Verfügbarkeit: Eine wichtige Voraussetzung für den Leistungsbezug ist die Verfügbarkeit der Arbeitslosen. Hierzu trägt eine Vielzahl von Faktoren bei, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden können. Darunter lassen sich die erweiterte Meldepflicht, Eingliederungsvereinbarungen, Sanktionen im Falle der Ablehnung von Stellenangeboten oder auch die Verpflichtung zur Teilnahme an Fördermaßnahmen subsumieren. Je mehr den Arbeitslosen in dieser Hinsicht abverlangt wird, desto geringer ist der Reservationslohn und desto früher beginnt und intensiver verläuft die Suche. Generell besteht ein enger Zusammenhang mit der Definition von zumutbarer Beschäftigung. Scharfe Sanktionen führen zu einem stärker versicherungskonformen Verhalten, weil sie von den Betroffenen antizipiert werden. Verschiedene empirische Untersuchungen zeigen zudem, dass durch vollzogene Sanktionen die Abgangswahrscheinlichkeit aus Arbeitslosigkeit von sanktionierten Personen beträchtlich ansteigt.
Bedürftigkeitsabhängige Leistungen: Schließlich ist auch die Ausgestaltung bedürftigkeitsabhängiger Leistungen relevant für die Arbeitslosenversicherung. Dass die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe mit ihren weitgehenden Implikationen erste Spuren hinterlassen hat, zeigen Ergebnisse aus einer repräsentativen Betriebsbefragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Reformvorschläge
Zur Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung sind in der jüngeren Vergangenheit eine Reihe von Reformvorschlägen zur Diskussion gestellt worden, die von eher marginalen, systemimmanenten Veränderungen bis hin zu einem fundamentalen Systemwechsel reichen. Nachfolgend sollen drei weitergehende und grundlegend verschiedene Reformtypen in ihren Grundzügen kurz dargestellt und hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile gegenüber dem bestehenden System geprüft werden.
Um zu vermeiden, dass Arbeitgeber Beschäftigungsrisiken über Gebühr auf die Arbeitslosenversicherung verlagern, wird häufig das aus den USA bekannte sogenannte experience rating ins Spiel gebracht.
Eine Abkehr von der öffentlichen Sozialversicherung und damit ein radikaler Systemwechsel ginge mit sogenannten "Kontenmodellen" einher.
In eine ganz andere Richtung geht der dritte hier dargestellte Ansatz, nämlich die Arbeitslosenversicherung in eine "Beschäftigungs(fähigkeits)versicherung" zu überführen. Hierzu liegt ein umfassender Vorschlag von Günther Schmid in einem Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung vor.
Fazit
Generell wird bei der Förderung der Wiedereingliederung von Arbeitslosen oft nur die Zweckmäßigkeit von Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik diskutiert. Dabei wird jedoch nicht selten die Rolle der Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung erheblich unterschätzt. Sie ist ein wirksames und mit Blick auf die Ausgestaltung bestimmter Elemente vergleichsweise kostengünstiges Instrument zur Beeinflussung des Suchverhaltens. Die jüngsten Arbeitsmarktreformen haben in dieser Hinsicht eine ganz Reihe von systemimmanenten Änderungen mit sich gebracht: frühzeitige Meldepflichten, verbindliche Eingliederungsvereinbarungen, striktere Kriterien für zumutbare Beschäftigung, schärfere Sanktionen, die Einführung des Arbeitslosengelds II sowie die Verkürzung der Bezugsdauer. Die Reformen folgten den vorliegenden wissenschaftlichen Befunden. Sie erhöhten die Arbeitsanreize und leisteten einen Beitrag, der Verfestigung der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Gleichzeitig wurden jedoch die Arbeitnehmer stärker in die Verantwortung genommen. Sie tragen nun einen noch größeren Teil des Beschäftigungsrisikos.
Generell ist die Ausgestaltung von Leistungen der Arbeitslosenversicherung aber nicht allein eine Effizienz-, sondern auch eine normative Frage. Es ist über das ökonomische Kalkül hinaus zu berücksichtigen, dass die Großzügigkeit der Lohnersatzleistungen auch verteilungspolitischen Zielen dient. Sie definieren das Einkommen, das die Gesellschaft denjenigen zukommen lassen möchte, die aus unterschiedlichen Gründen länger oder vorübergehend keine Erwerbstätigkeit ausüben. Dennoch wird sich die Gesellschaft immer wieder fragen müssen, ob das einmal festgelegte und natürlich immer auch diskussionswürdige Niveau von Lohnersatzleistungen mit den Verhältnissen und dem Wandel auf dem Arbeitsmarkt und den Wertevorstellungen korrespondiert. Dabei sollte bedacht werden, dass eine drastische allgemeine Kürzung wohl gravierende Konsequenzen für die Gesellschaft und auf individueller Ebene hätte. Armutserscheinungen, höhere Kriminalität und mangelnde Risikobereitschaft müssten bei einem solchen Schritt in Kauf genommen werden. Vor weiteren Reformen ist also immer eine sorgfältige Güterabwägung vorzunehmen.
Die Diskussion weitgehender Vorschläge zur Veränderung des Arbeitslosenversicherungssystems hat verdeutlicht, dass keiner der Ansätze den trilateralen Zielkonflikt zwischen Anreizkompatibilität, sozialer Verträglichkeit und Finanzierbarkeit besser lösen kann als das bestehende System. Das heißt aber noch nicht, dass die Stoßrichtung der Ansätze ganz und gar abzulehnen ist. Dies gilt vor allem, wenn diese nicht als fundamentaler Systemwechsel verstanden werden. So könnte ein partielles experience rating genauso ein stärker versicherungskonformes Verhalten unterstützen wie "symbolische Ansparkonten" als eine Kapitalversicherungskomponente in einem insgesamt als Risikoversicherung ausgestalteten System der Arbeitslosenversicherung. Unabhängig davon ist dem im Beschäftigungsversicherungsansatz stark gemachten Aspekt der Prävention größere Bedeutung beizumessen. Hier kann es jedoch nicht um so etwas wie eine "Vollversicherung" gehen, sondern um ein System mit intelligenten Anreizen zur Stützung und Befähigung von Eigenverantwortung. Letzteres könnte sich als ein wesentliches Element zur längerfristigen Stützung der richtigerweise vollzogenen Arbeitsmarktreformen erweisen.