Einleitung
Im geschichtspolitischen Jubiläumsjahr 2009 hat Patriotismus in Deutschland Konjunktur. Ausgerechnet jener Begriff, mit dem sich die Bundesrepublik Deutschland in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz verständlicher Weise so schwer getan hat: Deutsche Teilung, europäische Integrationsbestrebungen, vor allem aber die historische Hypothek des Nationalsozialismus und die in deutschem Namen begangenen einzigartigen Verbrechen ließen deutschen Patriotismus historisch obsolet, wenn nicht gar gefährlich erscheinen. Wenn überhaupt, wurde ihm nur mit dem Präfix der "Verfassung" Berechtigung zuerkannt.
Kaum eine Debatte entzweite die politisch-kulturelle Öffentlichkeit der Bonner Republik tiefer als jene geschichtspolitische Großkontroverse namens "Historikerstreit", die 1986 entbrannte und zwei Jahre später, im unmittelbaren Vorfeld der revolutionären Ereignisse in der DDR 1989, ihren vorläufigen Abschluss fand. Gegenstand der Kontroverse war unter anderem der vermeintliche Gegensatz von Verfassung und Nation als Bezugsgröße eines zeitgemäßen, freiheitlichen Patriotismus in der Bundesrepublik. Kein Zweifel, dass die nationale Perspektive des Patriotismus angesichts einer dominanten Selbstwahrnehmung der Bundesrepublik als "postnationaler Demokratie unter Nationalstaaten"
Die nationalstaatliche, "deutsche" Perspektive war hinter eine postnationale europäische zurückgetreten. Paradox, aber wahr: Eben das Postnationale entpuppte sich in dem Moment, als es mit der Friedlichen Revolution in der DDR 1989 auf die realpolitische Probe gestellt wurde, "als entschieden selbstbezügliche provinziell-nationale Denkfigur".
Im zwanzigsten Jahr des Mauerfalls wirkt Billers Misstrauen gegenüber einem Patriotismus in und für Deutschland geradezu anachronistisch. Grundlegendes hat sich fast wie im Zeitraffer gewandelt; hartnäckige Vorbehalte begrifflicher wie substantieller Art sind weitgehend überwunden, und der Patriotismus scheint zum Bestandteil der deutschen Staatsräson zu avancieren. Als Anzeichen für einen derartigen Wandel mag exemplarisch folgendes Plädoyer gelten, das Charlotte Knobloch jüngst formuliert hat: "Nur wer sein Land bejaht, sich mit seiner Nation und ihrer Geschichte identifiziert, wird sich einmischen. Und die Gestaltung der Gegenwart nicht den Ewiggestrigen überlassen. Darum ist es wichtig, einen neuen Patriotismus zu entwickeln."
Ist mit dieser veränderten Perspektive nun auch der "Verfassungspatriotismus" als Identitätskonzept Deutschlands obsolet geworden? Hat, cum grano salis, die nationszentrierte über die verfassungszentrierte Perspektive obsiegt und erstere letztere ersetzt? Keineswegs, auch wenn bzw. gerade weil der "Verfassungspatriotismus" nach 1990 immer stärker auf sein Ursprungskonzept, wie es Dolf Sternberger 1979 formuliert hat, zurückgeführt wird.
Von Habermas zu Sternberger
Anlässlich des dreißigjährigen Inkrafttretens des Grundgesetzes hatte Sternberger in einem viel beachteten Beitrag in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" die "gemischte Verfassung" im Sinne der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zur Bezugsgröße eines spezifisch bundesrepublikanischen Patriotismus erklärt und keinen Zweifel daran gelassen, dass dieser keineswegs ein Notbehelf sei, kein Ersatz für einen nationalen Patriotismus.
Eben dieser Sternberger'schen Deutung des "Verfassungspatriotismus" im Sinne Montesquieus nähert sich nun auch Habermas an, wenn er betont, entgegen eines "weit verbreiteten Missverständnisses" heiße "Verfassungspatriotismus", "dass sich Bürger die Prinzipien der Verfassung nicht allein in ihrem abstrakten Gehalt, sondern konkret aus dem geschichtlichen Kontext ihrer jeweils eigenen nationalen Geschichte zu Eigen machen" sollten und es im Übrigen "im eigenen Interesse des Verfassungsstaates" liege, "mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstein und die Solidarität von Bürgern speist".
Dass die alten Streitmuster entlang des Gegensatzes "Verfassung" und "Nation" heute zugunsten eines weitgehend konsensuellen Verständnisses von Patriotismus weichen, hat verschiedene Gründe. Zum einen sind das die während der rot-grünen Regierungszeit erfolgte Rückbesinnung auf die "Nation" diesseits einer postnationalen Europaidee sowie, damit verbunden, die Proklamation eines freiheitlichen Patriotismus innerhalb einer demokratischen Nation; zum anderen die enormen integrationspolitischen und demographisch-zuwanderungspolitischen Herausforderungen der deutschen Gesellschaft,
Rot-grüne Neujustierungen
Wer hätte unmittelbar vor Beginn der rot-grünen Regierungszeit 1998 vermutet, dass wenig später ein "Patriotismus von links"
Nimmt man den "deutschen Weg" im Irak-Konflikt - selbstverständlich und normal, wie Egon Bahr meinte
Eben darum geht es im Patriotismus-Diskurs der vergangenen Jahre: um die Sensibilisierung des Bürgers hinsichtlich der Notwendigkeit, für seine Patria, für das Land, in das er entweder geboren wurde oder für das er sich willentlich entschieden hat und dem er sich zugehörig fühlt, tätig einzustehen, im Alltäglichen ebenso wie in Ausnahmesituationen, wenn es um das große Ganze geht, etwa um die Verteidigung und Zukunftssicherung der Nation als staatlich verfasster Bewusstseinsgemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger. Sei es das seit Jahren immer wieder bemühte "Böckenförde-Paradoxon",
Der Patriotismus verweist uns auf eine Kultur verantwortungsbewusster Freiheit der Bürgergesellschaft und auf deren Primat gegenüber dem bürokratischen bzw. allzuständigen Wohlfahrts- und Interventionsstaat. Keineswegs zufällig orientiert sich der Begriff der "Bürgergesellschaft"
Was eint uns?
Reicht in einem modernen, weltoffenen und toleranten Deutschland heute die Identifikation mit dem Grundgesetz bzw. die Beachtung seiner Artikel aus, oder ist darüber hinaus eine Integration notwendig, die kulturellen Pluralismus als selbstverständlich anerkennt, zugleich die Forderung nach Assimilation zurückweist und doch den Gefährdungen eines freiheitlichen, demokratischen Gemeinwesens durch die Existenz von fragmentierten, nicht durch einen Wertekonsens geeinte Parallelgesellschaften Rechnung zu tragen sucht? Das Ringen um das richtige Maß und die stets neu auszulotende Mitte stehen im Zentrum dieser Debatte. Dabei ist der Ton heute leiser und der Tenor abwägender geworden als in der Kontroverse um den "ungenauen, missverständlichen, irreführenden" (Salomon Korn) Begriff der "Leitkultur" im Jahr 2000.
Dass man sich fünf Jahre später nicht in parteipolitischen und ideologischen Reflexen erschöpfte oder sich mit semantischer Kleinarbeit am Begriff "Leitkultur" begnügte, hat unzweifelhaft mit einem gesellschaftlichen Problemdruck zu tun, der sich mit verschiedenen Ereignissen exemplarisch verband: sei es die im Herbst 2004 angestoßene Debatte über "Allahs rechtlose Töchter"
"Leitkultur" und "Multikultur", lange Zeit als strikte theoretische Gegensätze begriffen, entpuppten sich im Verlauf der Debatte jenseits der semantischen Ebene als Scheinalternativen bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme. "Gerade eine de facto multikulturelle Gesellschaft wie unsere", so formuliert Jörg Lau einen sich abzeichnenden sachlichen Konsens, "braucht eine Leitkultur. Es geht darum, die neue Vielfalt dieses Landes - in kultureller, ethnischer und religiöser Hinsicht - anzuerkennen und mit ihr leben zu lernen, ohne dabei in einen Werte-Relativismus abzugleiten."
Insoweit "Multikultur" kulturellen Pluralismus unter Anerkennung eines verbindlichen Wertefundaments meint, ist die Gegensätzlichkeit von "Multi-" und "Leit-"Kultur tatsächlich eine scheinbare. Insoweit jedoch Multikulturalismus die Existenz eines gemeinsamen Fundamentes an Werten, Rechten und Pflichten zu negieren und stattdessen eine Parallelität von verschiedenen, auch gegensätzlichen Kulturen zu etablieren sucht, steht dieser einem toleranten, Pluralismus anerkennenden kulturellen Leitbild diametral entgegen.
Dieses spiegelt sich in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik wider, wohl wissend, dass der im Grundgesetz niedergelegte Katalog der Menschen- und Bürgerrechte für sich allein noch keine humanistische Tradition schafft, die aus Menschen rechtstreue Bürgerinnen und Bürger macht. Hier ist vor allem Bildung gefordert, die Werte wie Toleranz, Respekt, Partizipation, Solidarität anschaulich und praktikabel macht, Bildung, die in Schulen, sei es in Form von Staatsbürgerkunde, von Politik- oder Sozialwissenschaftskursen oder in verpflichtenden Einbürgerungskursen vermittelt wird. Bildung, die wesentlich das Beherrschen der deutschen Sprache und der Grundzüge deutscher und europäischer Geschichte beinhalten muss; Bildung, zu der Religionsunterricht und damit, für Kinder muslimischen Glaubens, Islam-Unterricht an deutschen Schulen in deutscher Sprache gehören sollte. Ein gemeinsinnorientierter Bewusstseinswandel, der sich symbolisch im schwarz-rot-goldenen WM-Sommer 2006 zum Ausdruck brachte, zeichnet sich ab, lässt aber nicht bei jedem, bei manchem Intellektuellen indes umso überraschender, ein neues "Deutschlandgefühl"
Jenseits des Gefühligen geht es um die Beantwortung der Frage, wer als Bürger welchen Beitrag freiwillig, solidarisch, patriotisch für seine res publica leistet. Die Frage verweist auf die Neujustierung des Staat-Bürger-Verhältnisses und damit auf eine Stimulierung der bürgerlichen Selbsthilfebereitschaft und ihrer Fähigkeiten im Dienste einer solidarischen Verantwortungs- und Zivilgesellschaft, wie sie beispielsweise von Udo Di Fabio,
Die Bundesrepublik als Vaterland
Von Heinemann zu Köhler, von Habermas zu Sternberger, von Bonn nach Berlin - es geht um patriotische Diskurse um Verfassung und Nation, die im 60. Jahr des Grundgesetzes und im 20. Jahr des Mauerfalls stattfinden im Bewusstsein einer selbstverständlichen Annahme des vereinten Deutschlands als Heimat durch die nachwachsende Jugend - die so genannte "Generation '89" ist inzwischen volljährig - und einer fortschreitenden Versöhnung der Intellektuellen mit der "geglückten Demokratie".
Deutschland im Jahr 2009: Verwobene Prozesse in Politik, Gesellschaft und Kultur haben zu einem neuen Nachdenken über Patriotismus geführt, zu einem moderateren Ton und einem sachlicheren Tenor in der öffentlichen Debatte, und fokussieren vielleicht als Folge dessen die Erfahrung von "1989", wie Norbert Frei jüngst meinte: "auch deshalb, weil das Wir seitdem in sein Recht gesetzt wurde, mithin eine reale Möglichkeit geworden ist."
Deutschland seit 1990: Geschichtsbewusste und gesellschaftlich geweitete Perspektiven geben zur Hoffnung Anlass, künftig weniger über Patriotismus reden, ihn beschwören oder problematisieren zu müssen als vielmehr seine Lebendigkeit konstatieren zu können. Er gilt der freiheitlichsten Republik, die es je auf deutschem Boden gab. Diese Republik wird gelebt im Sinne Ernest Renans als plébiscite de tous les jours, sie wandelt und entwickelt sich. Sie ist als "europäisches Deutschland" realpolitische Wirklichkeit. Sie ist das Werk staatspolitischer Klugheit, von Adenauer über Brandt, Schmidt und Kohl bis Merkel. Sie gründet auf Recht und Gemeinwohl und formuliert eine überzeugende Antwort auf die Frage, was der Deutschen Vaterland sei.