Einleitung
Dem Deutschen Bundestag kommt im Verfassungssystem der "alten" Bundesrepublik wie auch seit dem 3. Oktober 1990 im vereinigten Deutschland eine zentrale Rolle zu. Auch in der politischen Praxis hat er in hohem Maße dazu beigetragen, dass sich die Bundesrepublik zu einer stabilen Demokratie entwickelt konnte. Allerdings haben sich Stellung und Funktionen des Parlaments im Laufe der Zeit deutlich verändert. Neben einer Fülle höchst anspruchsvoller Aufgaben, die mit der deutschen Vereinigung verbunden waren, sah sich der Bundestag Wandlungsprozessen und Herausforderungen gegenüber, die zwar schon früher eingesetzt haben, in den vergangenen zwanzig Jahren jedoch weiter an Bedeutung gewonnen haben. Hierzu gehören die Expansion und der Wandel der Staatstätigkeit und die damit einhergehende Bürokratisierung, das wachsende Partizipationsinteresse der Bürgerinnen und Bürger sowie die Vervielfältigung und Kommerzialisierung des Angebots elektronischer Massenmedien.
Einerseits hat sich die politische Aktions- und Resonanzfähigkeit einer vielfältiger organisierten Bürgerschaft qualitativ gewandelt. Andererseits sind mit zunehmendem Bewusstsein der weit reichenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen und Wechselwirkungen neuer technischer Entwicklungen auch die Anforderungen an die Gestaltungsfähigkeit und das Verantwortungsbewusstsein der politischen Entscheidungsträger gewachsen. Dies gilt auch unter den Bedingungen der Globalisierung, die eine Sicherung des Primats der Politik erschweren. Zudem schränkt die zunehmende Übertragung von Rechtsetzungskompetenzen auf die Europäische Union die Handlungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente ein.
Wie hat der Deutsche Bundestag auf diese Wandlungsprozesse und Herausforderungen als Institution reagiert? Wie hat sich die Stellung des Bundestages im politischen System verändert?
Nach der deutschen Vereinigung gelten die wichtigsten, 1949 beschlossenen Regelungen des Grundgesetzes hinsichtlich des Verhältnisses von Bundestag, Bundesregierung und Bundespräsident weiter. Nach wie vor ist der Bundestag als einziges zentralstaatliches Organ direkt vom Volk gewählt und damit in bevorzugter Weise demokratisch legitimiert und verantwortlich. Eine Direktwahl des Staatsoberhauptes oder einer zweiten Kammer wie in einigen anderen (west-)europäischen Ländern kennt das Grundgesetz nicht.
Mit den genannten Bestimmungen zur Wahl und Abwahl des Regierungschefs wurden die verfassungsmäßigen Grundlagen eines parlamentarisch-demokratischen Regierungssystems geschaffen. Demnach ist die Regierung nicht nur in ihrer Aktionsfähigkeit, sondern auch in ihrem Bestand vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig.
Schon bisher war es weder analytisch noch normativ angemessen, Modellvorstellungen des britischen "Westminster-Systems" schematisch auf das politische System der Bundesrepublik zu übertragen. Dies gilt auch für fast alle anderen westeuropäischen Staaten.
Fraktionenparlament
Charakteristische Merkmale des Bundestages sind seine Ausprägung als Fraktionenparlament und die fachliche Ausdifferenzierung, die im Laufe der Zeit deutlich zugenommen haben. Dies gilt - trotz mancher nicht wirkungsloser Reformschritte - auch für die damit einhergehende fraktionsinterne Hierarchisierung. Begünstigt durch die Fünfprozent-Sperrklausel des Wahlgesetzes, liegt das faktische Monopol der Rekrutierung der Parlamentarier bei den Parteien. Durch das enge Zusammenwirken von Regierung und Mehrheitsfraktionen bedingt, sind nicht nur der Bundeskanzler, sondern auch die Bundesminister - von seltenen Ausnahmen abgesehen - herausragende Vertreter ihrer Partei. Die Abgeordneten einer Partei schließen sich bei der Konstituierung des Bundestages zu Fraktionen zusammen, wobei eine Mindeststärke von fünf Prozent der Abgeordneten gilt (§ 10 Geschäftsordnung des Bundestages/GOBT). Ihre Rechte können sie überwiegend nur als Mitglieder einer Fraktion wirksam ausüben.
Seit der Parlamentsreform 1969/70 wurden die Minderheitenrechte schrittweise ausgebaut - eine Entwicklung, die sich auch nach der deutschen Vereinigung fortsetzte. Die Stärkung der Opposition vollzog sich dabei im Wesentlichen über einen Ausbau von Fraktionsrechten, womit den Bedingungen eines Mehrparteienparlaments mit auch untereinander konkurrierenden Oppositionsfraktionen Rechnung getragen wird. Der Bundestag war somit auf die Entwicklung zum Fünfparteienparlament gut vorbereitet. Von Änderungsanträgen abgesehen, bedürfen alle Vorlagen (Gesetzentwürfe, Anträge) der Unterstützung durch eine Fraktion oder von fünf Prozent aller Abgeordneten (§§ 75, 76 GOBT). Hingegen sind den einzelnen Abgeordneten nur wenige Rechte geblieben. Will ein Abgeordneter initiativ werden, muss er sich um Unterstützung in der eigenen Fraktion bemühen.
Die Fraktionen prägen auch die Willensbildung in den für die Arbeitsplanung zuständigen Gremien. So liegt die Bestimmung der Tagesordnung und der Debattengestaltung beim Ältestenrat. Dort sind neben den Mitgliedern des Präsidiums die Fraktionen mit ihren Parlamentarischen Geschäftsführern und weiteren Abgeordneten im Verhältnis ihrer Stärke vertreten (§§ 6, 12 GOBT). Vereinbarungen über die Arbeitsplanung kommen hier und in weiteren interfraktionellen (Vor-)Absprachen der Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer nur zustande, wenn ein Konsens zwischen den Fraktionen hergestellt werden kann. Die eingespielte parlamentarische Praxis führt - im Vergleich zu einigen anderen westlichen Demokratien
Seit 1994 ist der Anspruch jeder Fraktion auf Mitgliedschaft im Präsidium des Bundestages gesichert (§ 2 Abs. 1 GOBT), womit die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erstmals eine Vizepräsidentin stellen konnte. Bei der Leitung der Plenarsitzungen wechseln sich der Bundestagspräsident und die (derzeit sechs) Vizepräsidenten ab; im Präsidium handelt der Bundestagspräsident zunehmend als Primus inter pares.
Arbeitsteilung und Koordination
Hatte seit den 1950er Jahren der Ausbau des Sozial- und Interventionsstaates zur Expansion der Staatstätigkeit geführt, sind die Vielfalt und Komplexität der Gesetzgebungs- und Kontrollaufgaben mit der deutschen Vereinigung, aufgrund technologischer Entwicklungen und im Zuge der Globalisierung noch gewachsen. Um seinen Aufgaben gerecht zu werden, haben der Bundestag und seine Fraktionen strikt arbeitsteilige Strukturen ausgebildet. Mit dieser Entwicklung geht auch die Professionalisierung der Abgeordnetentätigkeit einher. Mit der Vergrößerung des Bundestages auf regulär 656 Abgeordnete nach der deutschen Vereinigung hatte sich die Notwendigkeit einer ausgeprägten Arbeitsteilung noch erhöht. Auch nach einer moderaten Verringerung seiner regulären Mitgliederzahl auf 598 im Interesse verbesserter Arbeitsfähigkeit ist der Bundestag eines der größten Parlamente.
Der Schwerpunkt der parlamentarischen Arbeit liegt bei den (derzeit 22) Ständigen Ausschüssen, deren Beschlussempfehlungen an das Plenum faktisch meist Entscheidungscharakter haben. Die Kompetenzverteilung der Fachausschüsse und der korrespondierenden Arbeitsgruppen der Fraktionen entspricht weitgehend der Ressortgliederung der Regierung. Die Besetzung der Ausschüsse sowie die Regelung des Vorsitzes wird - im Verhältnis ihrer Stärke - von den Fraktionen vorgenommen (§§ 57, 12 GOBT). Somit werden die Oppositionsfraktionen auch bei der Verteilung der Ausschussvorsitze angemessen berücksichtigt, was nur in etwa der Hälfte der westeuropäischen Parlamente der Fall ist.
Strukturen und Willensbildung der Fraktionen weisen Gemeinsamkeiten, aber auch bemerkenswerte Unterschiede auf.
Zudem sind die Regierungs- und Fraktionsebene durch verschiedene informelle Koalitionsgremien miteinander verklammert. Eine sehr bedeutende Rolle spielt seit den 1970er Jahren die Große Koalitionsrunde (seit 1998: Koalitionsausschuss).
Neue Herausforderungen
Gesetze sind auch unter Bedingungen der Globalisierung und Europäisierung das dominante Steuerungsmittel des demokratischen Rechts- und Sozialstaats. Allerdings sind die Gesetzesfunktionen wie auch der Gesetzgebungsprozess einem bedeutenden Wandel unterworfen, der insbesondere durch die Entstehung eines Mehrebenensystems mit einer immer größeren Bedeutung der europäischen Ebene bedingt ist.
Bei der Gesetzgebung und Kontrolle sieht sich der Bundestag einer fachlich stark ausdifferenzierten Ministerialverwaltung mit nachgeordneten Behörden gegenüber, deren wissenschaftliche Beratungskapazität erheblich zugenommen hat. Bundestag und Fraktionen haben auf die Komplexität ihrer Aufgaben im Zuge der technologischen Entwicklung, der Europäisierung und der Globalisierung nicht nur mit fachlicher Ausdifferenzierung reagiert. Vielmehr wurde seit der Parlamentsreform 1969/70 die personelle und informationstechnische Ausstattung
Anstöße für Evaluierungen im Bereich der Exekutive gehen häufig vom Bundestag aus, der zunehmend Interesse an zuverlässigen Informationen über Gesetzeswirkungen und Folgenabschätzungen zeigt. Die parlamentarischen Informations- und Kontrollinstrumente (Anfragen, Anträge) werden auch dazu genutzt, entsprechende Auskünfte zu verlangen. Wachsende Bedeutung kommt der Anforderung von Regierungsberichten zu, die einmalig oder periodisch dem Parlament vorzulegen sind.
Eine wichtige Innovation stellen Enquete-Kommissionen dar, in denen Wissenschaftler und andere Sachverständige mit Abgeordneten gleichberechtigt beraten und Berichte an das Plenum beschließen (§ 56 GOBT). Seit ihrer Einführung 1969 haben sich die grundsätzlich diskurs- und problemlösungsorientiert angelegten Enquete-Kommissionen bewährt. Bisher wurden 34 Enquete-Kommissionen mit der Aufgabe eingerichtet, komplexe Entwicklungen zu erfassen und Gestaltungsvorschläge zu erarbeiten. Schwerpunkte waren neue Technologien und ihre ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen.
Die Verflechtung von Außen- und Innenpolitik bestimmt auch die Arbeit des Bundestages. Die Außenpolitik ist immer umfangreicher und komplexer geworden. Sie reicht unter den Bedingungen der Globalisierung und Europäisierung weit über die klassischen Felder der Friedens-, Sicherheits- und Außenhandelspolitik hinaus und umfasst immer mehr einstmals rein innenpolitische Fragen.
Die europäische Integration hat zu einer umfangreichen Verlagerung von Rechtsetzungskompetenzen auf die EG/EU geführt.
Die Bundesregierung hat den Bundestag "umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über alle Vorhaben im Rahmen der Europäischen Union, die für Deutschland von Interesse sein können", zu unterrichten und dessen Stellungnahmen zu EU-Vorlagen zu "berücksichtigen". Allerdings kam es bisher nur selten zu solchen Stellungnahmen. Inwieweit die im September 2006 getroffene "Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union" die "Europatauglichkeit" des Parlaments in der Praxis stärken wird, bleibt abzuwarten. Neben Verbesserungen der Informationsvermittlung weist der 2. Monitoringbericht zur Umsetzung der Unterrichtungspflichten durch die Bundesregierung
Beim Ausbau der Kontrollinstrumente wurde den Funktionsbedingungen des parlamentarisch-demokratischen Regierungssystems Rechnung getragen. Die Entwicklung kommt den Oppositionsfraktionen zugute, deren Kontrollprobleme angesichts zunehmender Staatstätigkeit und damit einhergehender Expansion der Ministerialbürokratie freilich auch gewachsen sind. Seit der Präsenz zweier untereinander konkurrierender Oppositionsfraktionen in den 1980er Jahren ist die Anzahl der Kontrollinitiativen erheblich angestiegen. So haben die Oppositionsfraktionen in den vier Wahlperioden von 1990 bis 2005 91 Prozent der 420 Großen Anfragen und 99 Prozent der 6062 Kleinen Anfragen an die Bundesregierung eingereicht sowie vier von fünf der 332 Aktuellen Stunden verlangt. Die Großen Anfragen zu meist bedeutenden Themen sind neben eigenen Gesetzentwürfen das wichtigste Instrument der Opposition zur Durchsetzung größerer Plenardebatten. Häufig nutzen die (Oppositions-) Fraktionen auch die Möglichkeit, kurzfristig eine Aktuelle Stunde mit kurzen Debattenbeiträgen zu aktuellen Themen durchzusetzen.
Der Deutsche Bundestag gehört zu den wenigen westeuropäischen Parlamenten, in denen ein Untersuchungsausschuss von einer Minderheit - einem Viertel seiner Mitglieder - durchgesetzt werden kann. Hingegen steht dieses Recht in den meisten osteuropäischen Ländern einer parlamentarischen Minderheit zu, wobei nicht zuletzt die deutsche Regelung als Vorbild diente.
Kommunikationsfördernde Vorschläge zur Vitalisierung und diskursiven Fundierung parlamentarischer Debatten und zur Öffnung parlamentarischer (und gouvernementaler) Willensbildungsprozesse wurden zum Dauerthema von Parlamentsreformbemühungen. In mehreren, oft erst nach Jahren durchsetzbaren Reformschritten konnten Verfahrensänderungen erreicht werden, die aber nur teilweise die erwartete Wirkung brachten. Verbessert wurde die kommunikative Chancengleichheit der Oppositionsfraktionen: So wurde das Prinzip von "Rede und Gegenrede" in der Geschäftsordnung verankert und seit den 1970er Jahren jeweils zu Beginn der Wahlperiode ein Schlüssel für die Aufteilung der Redezeit für die Koalition (Regierung, Koalitionsfraktionen) und die Oppositionsfraktionen vereinbart.
In den 1980er Jahren konnte eine diskussionsfreundliche Regelung für Zwischenfragen und Kurzinterventionen durchgesetzt und 1995 noch verbessert werden, die sich auch bewährt hat (§ 27 Abs. 2 GOBT). Um das öffentliche Interesse an Plenardebatten zu wichtigen Themen zu erhöhen und die Glaubwürdigkeit des Bundestages zu verbessern, wurde im Rahmen der Geschäftsordnungsreform 1995 eine seit langem geforderte "Plenar-Kernzeit" eingeführt. In Sitzungswochen werden in einer Kernzeit am Donnerstagvormittag, die von anderen Terminen freizuhalten ist, und in Erwartung einer möglichst breiten Präsenz der Parlamentarier in der Regel zwei wichtige Themen behandelt. Diese Plenardebatten werden regelmäßig vom seit 1997 bestehenden Ereignis- und Dokumentationskanal "Phoenix" direkt übertragen.
Doch insgesamt stehen Reformbemühungen zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit und Transparenz insbesondere seit der Vervielfältigung und Kommerzialisierung der elektronischen Medien seit den 1980er Jahren Entwicklungen gegenüber, die eine angemessene Wahrnehmung der Plenardebatten und der parlamentarischen Willensbildung insgesamt erschweren. Politik wird von einem zunehmenden Teil der Bevölkerung offenbar primär in personalisierter, ritualisierter und verkürzter Form wahrgenommen. Bemühungen zur verbesserten öffentlichen Wahrnehmung der parlamentarischen Willensbildung sind eine schwierige Daueraufgabe des Bundestages.
Der Verknüpfung von Bürgeraktivitäten und parlamentarischen Verfahren können neue Foren und Formen der Bürgermitwirkung und des öffentlichen Diskurses dienen. Die 2005 eingeführten Neuregelungen des Petitionsverfahrens insbesondere für Massenpetitionen und "öffentliche Petitionen" sind ein positives Beispiel. Der Petitionsausschuss ist seit der Reform von 1975 im Grundgesetz verankert (Art. 45c) und verfügt gegenüber der Exekutive über ausgeprägte Inspektionsrechte. Von den zahlreichen Einzeleingaben sind Massen- und Sammelpetitionen zu unterscheiden: Aktivbürger tragen gemeinsam Anliegen - häufig zur Gesetzgebung - an das Parlament heran.
Fazit
Auf neue Herausforderungen hat der Bundestag auch nach der deutschen Vereinigung durch zahlreiche kleine Reformen reagiert, die sich insgesamt gesehen als bedeutsame institutionelle Anpassungsleistung darstellen und teilweise innovativen Charakter haben. Entscheidend war, dass eine Reihe von Neuregelungen intensiv genutzt wurden, was freilich nicht für alle Verfahrensänderungen gilt.