Einleitung
Sowohl im deutschen Parteien- als auch im Verbändesystem sind seit der politischen Vereinigung 1990 Veränderungen erkennbar, die im Erosionsprozess der beiden Großparteien CDU und SPD und der traditionellen Verbände im Wirtschafts- und Sozialsektor ihren markantesten Ausdruck finden. Während Großparteien und -verbände an Mitgliedern und Wählern bzw. an ökonomischem Einfluss verlieren, befinden sich kleinere Parteien und spezifische Interessenorganisationen erkennbar im Aufwind. Diese weit gehende Parallelität der Schwächung von Großorganisationen ist mit Blick auf die Veränderungen des Parteien- und Verbändesystems nicht überraschend, da gesamtgesellschaftliche Entwicklungen diesen Prozessen zu Grunde liegen.
Die Frage, wie diese Veränderungen im Einzelnen zu erklären sind, soll im Vordergrund dieser Skizze stehen. Nicht zentral behandelt werden die veränderten Interaktionen von Parteien- und Verbändesystem, ohne diese aber auszublenden. Ebenso wird nicht ausführlich eingegangen auf die unmittelbaren Auswirkungen der politischen Vereinigung für das Parteien- und Verbändesystem, wiewohl Konsequenzen und Folgewirken des Institutionentransfers von West- nach Ostdeutschland keineswegs negiert werden.
Erosion der Großorganisationen
Die gesellschaftliche Anbindung von Großparteien und -verbänden hat sich gelockert; das Ausmaß, in dem diese die Gesellschaft durchdringen, ist gesunken. Individualisierung, Pluralisierung von Lebensstilen und Wertegemeinschaften, die so genannte Bildungsexpansion mit der Zunahme höherer formaler Bildungsabschlüsse, die Säkularisierung und der Rückgang industrieller Beschäftigung sowie die Stärkung des tertiären Sektors haben zum Zerfall der lange prägenden Strukturen der deutschen Gesellschaft beigetragen und zur Abnahme traditioneller Wertebindungen und Organisationsloyalitäten geführt. Insbesondere auf die Entstehung der Konfliktlinien Arbeit/Kapital und Staat/Kirche zurückgehende Großorganisationen sind vom Zerfall der traditionellen Milieus stark betroffen. Sie müssen sich mit schrumpfenden Mitgliederzahlen und geringerer Identifikation mit ihnen abfinden. Dies betrifft die SPD und die Gewerkschaften wie die CDU und die Kirchen gleichermaßen, wenn auch in unterschiedlicher Intensität und auf verschiedenen Ursachen beruhend.
Der Zerfall des sozialdemokratischen Milieus geht einher mit gravierenden Veränderungen der Arbeitswelt hin zu wissensbasierter Produktion und zu Dienstleistungsberufen, zu Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und zu erhöhter Mobilität der Arbeitnehmer. Die Klammer gemeinsamer Erfahrungen in der Arbeitswelt wird brüchiger, Wertvorstellungen erodieren. Die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen Arbeitnehmervertretungen ha-ben erheblich an Mitgliedern verloren, zwischen 1993 und 2003 allein knapp 24 Prozent. Trotz mittlerweile erreichter Stabilisierung haben sich die Einzelgewerkschaften "von den weltweit stabilsten Gewerkschaften zu denen mit den größten Mitgliederproblemen entwickelt".
Nicht anders sieht es auf Arbeitgeberseite aus, wo geradezu von einer Verbandsflucht gesprochen werden kann.
Nicht anders ist das Bild bei den Großparteien: SPD und CDU verlieren seit Jahren kontinuierlich Mitglieder, hinzu tritt eine Überalterung der Mitgliedschaft.
Während die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt Gewerkschaften und SPD stärker betroffen haben, verlieren Kirchen und CDU/CSU aufgrund der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft an Gewicht. Es ist zwar weder den Kirchen noch der Union verborgen geblieben, dass sich die Altersgruppen der unter 50-Jährigen von den institutionellen, kulturellen und normativen Prägungen des Katholizismus bzw. Protestantismus entfernt haben, doch eine der Entwicklung entgegenwirkende Strategie haben sie bis heute nicht gefunden.
Bei aller Auflösung der traditionellen Milieus soll aber keineswegs behauptet werden, dass sich über viele Jahrzehnte bewährte Kooperationsmuster zwischen Parteien und Verbänden vollständig aufgelöst hätten.
Veränderungen im Parteiensystem
Seit 1990 ist eine "fluide Wettbewerbssituation"
Zunächst ist mit Blick auf den Wandel des Parteiensystems eine zunehmende Fragmentierung zu nennen. Fragmentierung beschreibt die effektive Zahl relevanter Parteien in einem Parteiensystem. Sie ist seit den 1970er Jahren - wenn auch nicht kontinuierlich - angestiegen. Dazu haben wesentlich beigetragen das Aufkommen der Grünen zu Beginn der 1980er Jahre und das Hinzutreten des Nachfolgers der DDR-Staatspartei SED, die PDS, die seit 2007 mit der Fusion mit der Wahlalternative für Soziale Gerechtigkeit (WASG) den Namen Die Linke angenommen hat. Die erhöhte Fragmentierung ist auf die genannten gesellschaftlichen Entwicklungen zurückzuführen. Sie ist Ausdruck einer Repräsentationskrise der Großparteien. Diese Effekte sind verstärkt worden durch eine partielle Erosion der politischen und gesellschaftlichen Mitte: weit verbreitete, subjektive Gefühle der Statusbedrohung in Teilen der Mittelschichten.
Die gestiegene Fragmentierung und Ausdifferenzierung des Parteiensystems hatte Auswirkungen auf dessen Polarisierung; damit gemeint sind programmatisch-ideologische Differenzen. In der sozioökonomischen Wettbewerbsdimension positionieren sich die Parteien entlang des Kontinuums zwischen Marktliberalismus und Staatsinterventionismus. In der kulturellen Wettbewerbsdimension stehen sich libertäre Werte wie Toleranz, Selbstentfaltung, kollektive Freiheitsrechte, Emanzipation, Pazifismus, kulturelle und politische Inklusion und autoritäre Wertstellungen wie der Vorrang innerer und äußerer Sicherheit, kultureller Mehrheitsidentitäten oder restriktiver Kriminalitätsbekämpfung gegenüber. Deutlich wird, dass die kleineren Parteien jeweils einen Pol für sich beanspruchen: Die FDP tritt für "klare" marktwirtschaftliche Prinzipen ein, die Linke für Staatsinterventionismus in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Grünen für libertäre Werte, insbesondere für die kulturelle Anerkennung aller gesellschaftlichen Gruppen im Sinne partizipatorischer Parität,
Die Großparteien CDU/CSU
Die Amtszeit Gerhard Schröders hat zudem eine wesentliche Positionsverschiebung der SPD in der ökonomischen Konfliktdimension mit sich gebracht: Als Regierungspartei vertritt die SPD spätestens seit 2003 zu weiten Teilen pragmatisch zentristische Positionen, ohne sich vollständig von sozialdemokratischen Traditionsbeständen zu lösen. Die Folgen sind eine Identitätskrise und konzeptionelle Defizite. Das Hamburger Programm von 2007 konnte diese Lücke nicht schließen. Glaubwürdigkeitsprobleme auf Grund nicht gehaltener Wahlversprechen und offen ausgetragene innerparteiliche Kontroversen über den Umgang mit der Linken nach der Landtagswahl in Hessen im Januar 2008 haben zur schwierigen Situation der SPD beigetragen. Diese hat sich aufgrund des selbstbewussten und partiell populistischen Auftretens der Linken und ihrer Wahlerfolge auch in westdeutschen Ländern verstärkt. Immerhin ist es Franz Müntefering nach seiner Rückkehr ins Amt des Parteivorsitzenden im Herbst 2008 gelungen, die SPD in Umfragen und innerparteilich zu stabilisieren sowie genuin sozialdemokratische Themen wieder in den Vordergrund zu rücken, ohne den Modernisierungskurs der Kanzlerjahre Schröders (insbesondere ab 2003) grundsätzlich in Frage zu stellen.
Auf Seiten der Union lässt sich ebenfalls eine Verunsicherung nach der Bundestagswahl 2005 bzw. der bayerischen Landtagswahl 2008 ausmachen. Als Hauptursache des aus Sicht der Union enttäuschenden Wahlergebnisses 2005 wird von vielen Christdemokraten die Vernachlässigung sozialer Themen im Wahlkampf betrachtet; das Image einer "Partei der sozialen Kälte" habe ihnen an der Wahlurne geschadet. Der Kurs in der Regierungspolitik, unabhängig von der Notwendigkeit, mit der SPD Kompromisse anstreben zu müssen, ist entsprechend von Vorsicht in wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen geprägt. Die CDU präsentiert sich nicht mehr als neoliberal orientierte Reformpartei, wie das noch auf dem Leipziger Parteitag 2003 geschah. Die derzeitige Dynamik im linken Parteienspektrum verdeckt ihr Dilemma: Sie kommt ohne einen zielgerichteten Gesamtentwurf aus, steht deshalb aber gleichzeitig unter "Sozialdemokratisierungsverdacht", weil sie sich partiell auch von traditionellen Wertvorstellungen gelöst hat, etwa in der Familienpolitik, ohne ein kohärentes christdemokratisches Werteverständnis neu zu definieren. Sowohl SPD als auch CDU/CSU wollen mit diesem an der "Mitte" orientierten Kurs offenkundig keine möglicherweise wahlentscheidenden Gruppen verprellen.
Eine Folge der Konkurrenz beider Großparteien um ähnliche Wählergruppen und der Notwendigkeit des Zusammenwirkens bei der Problemlösung sowie der zunehmenden Unberechenbarkeit des Wählerverhaltens ist eine inhaltlich nur in einzelnen Issues abweichende Haltung der Parteien mit einem erheblichen Ausmaß an Pragmatismus, der eher auf Annäherung denn auf hohe Polarisierung schließen lässt. Dies schließt nicht aus, dass es aufgrund der Konkurrenzsituation gerade bei von den Parteien als wahlentscheidend wahrgenommenen Themen symbolische und möglicherweise auch substanzielle Differenzen gibt, wie sie etwa bei der Reform des Gesundheitswesens zu Tage treten. Die Große Koalition hat zwei Gesichter: Eins ist auf Nichtöffentlichkeit, Kompromisse und kollektive Zielerreichung gerichtet, das andere wird durch Publizität, Konflikt- und Wettbewerbsorientierung sowie personalisiertes Streben nach Gewinn charakterisiert. Die angesichts durchaus vorhandener programmatischer Gemeinsamkeiten nicht nur als reines Zweckbündnis zu verstehende Große Koalition könnte angesichts der Tatsache, dass Erprobungsphasen anderer Koalitionskonstellationen einen längerfristigen Zeithorizont erfordern, mehr als nur ein kurzes Intermezzo im Parteiensystem bedeuten.
Damit sind wir beim letzten Aspekt: der Koalitionsbildung. Segmentierung eines Parteiensystems misst den Anteil der politisch machbaren gegenüber den rechnerisch möglichen Koalitionsformationen. Für die vergangenen 30 Jahre lässt sich ein Anstieg der Segmentierung konstatieren. Von der Vereinigung Deutschlands bis zum Jahre 2005 hatte die Lagerbildung Hochkonjunktur, nachdem Koalitionen auf Bundesebene ausschließlich in den jeweiligen Lagern gebildet worden sind. Dem "bürgerlichen Lager" (CDU/CSU, FDP) standen die in der sozioökonomischen Konfliktdimension "links" davon angesiedelten Parteien SPD und Bündnis 90/Grüne gegenüber. Diese politische Verortung hat sich seit der Bildung der Großen Koalition 2005 zu Teilen aufgelöst, mit folgenden Konsequenzen: 1. Die beiden großen Parteien haben sich inhaltlich trotz rhetorisch-medialer Kontroversen aufeinander zu bewegt; 2. Den etablierten Kleinparteien eröffnen sich neue strategische Optionen der Koalitionsbildung, die aber pfadabhängig anhand bisheriger Wettbewerbsstrukturen strategisch zu planen sind; 3. Koalitionskonstellationen erscheinen unübersichtlicher, was erhebliche Spielräume mit sich bringt, gleichzeitig aber vermehrt innerparteiliche Kontroversen hervorruft.
Der zweite Aspekt kann insbesondere mit Blick auf Bündnis 90/Grüne veranschaulicht werden. Seinen expliziten Ausdruck findet er im Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz unmittelbar nach der Bundestagswahl 2005, nach dem die Partei sich für alle Koalitionsoptionen öffnen will. Hatte das Sondierungsgespräch mit der Union nach der Bundestagswahl 2005 noch einen primär symbolischen Charakter, zeugt die Bildung der ersten Koalition mit der CDU auf Länderebene in Hamburg im Jahr 2008 von ernstem Bemühen, den Parteitagsbeschluss umzusetzen. Da auch ihre Anhängerschaft bürgerlicher geworden und das Bürgertum breiter gefächert ist,
Problematischer erscheint eine Koalitionsbildung zwischen den Bündnisgrünen und der FDP, da sich zum einen beide Parteien als Hauptkonkurrenten im Parteiensystem sehen und sich zum anderen im Selbstverständnis kulturelle Differenzen offenbaren. Während Mitglieder der Grünen einer Stärkung öffentlicher Aufgaben in der Daseinsvorsorge den Vorrang geben, hegen FDP-Mitglieder Grundskepsis gegenüber staatlicher Daseinsvorsorge. Zudem lässt das Primat der Ökonomie, das die FDP programmatisch in den Vordergrund rückt, die ökologisch orientierte und sozialstaatsaffine Mehrheit bei den Grünen vor einer engen Kooperation mit der FDP zurückschrecken. Die FDP wiederum hat nach dem Experiment der "Äquidistanz" zu beiden Großparteien ihre Nähe zur Union wieder hervorgehoben und durch Regierungsbildungen mit CDU und CSU in den Bundesländern untermauert, will jedoch keinesfalls in Abhängigkeit von der CDU geraten. Sowohl bei Bündnisgrünen wie bei Liberalen ist die koalitionsstrategische Absicht erkennbar, mittelfristig die abnehmende Attraktivität der Großparteien zu nutzen und über die Rolle der Funktionspartei hinaus für Regierungsbildungen den Ausschlag geben zu können. Dabei müssen die Parteiführungen zwischen strategischen Überlegungen einerseits und den Werten und Meinungen ihrer Mitglieder und (Stamm-) Wähler andererseits abwägen und sind gebunden an ihre bisherige Position im Wettbewerb.
Veränderungen im Verbändesystem
Die Veränderungen im Verbändesystem können an drei zentralen Prozessen verortet werden: zunehmende Fragmentierung, Professionalisierung und Europäisierung.
In den vergangenen Jahrzehnten war eine Expansion des Verbändewesens zu beobachten. Konstatiert wird eine "ständig zunehmende Zahl der Verbände, vertikal in Form zunehmender Differenzierung und Spezialisierung von gesellschaftlichen Interessen, horizontal in Form einer Ausdehnung verbandlicher Organisierung auf immer mehr gesellschaftliche Bereiche".
Überdies ist eine Professionalisierung der Verbände in Deutschland "unverkennbar".
Der Zwang zur Professionalisierung der Verbände ist des Weiteren durch Prozesse der Medialisierung der Politik
Damit sind die Auswirkungen der Professionalisierung anzusprechen: Zuwächse an professionellen Ressourcen können Mitgliederverluste relativieren, Dienstleistungs- und Vermittlungsangebote verstärken, zweckrationalere Formen der Mitgliedschaft begünstigen und letztlich eine veränderte Austarierung in der Wahrnehmung von Verbänden als Lobbyorganisationen, gesellschaftliche Interessenvertreter und Dienstleistungsorganisationen bewirken. Der Kompetenzgewinn der Europäischen Union (EU) hat zur Folge, dass sich die Verbände unmittelbar Einfluss auf den Entscheidungsprozess in Brüssel sichern wollen. Die EU hat für Verbände erheblich an Bedeutung gewonnen, ohne dass von einem Bedeutungsverlust der nationalstaatlichen oder regionalen Ebene gesprochen werden kann. Entstanden ist vielmehr ein "lobbyistisches Mehrebenensystem"
Europäisierung der Verbandsarbeit bedeutet eine verstärkte Orientierung der Verbände auf die Institutionen der EU, deren formale und informale Regeln, Verfahren, Paradigmen, Handlungen, Werte und Normen in Inhalte, Strukturen und Instrumente der verbandlichen Arbeit einfließen. Hauptansprechpartner ist die Kommission, weil sie über das Initiativrecht zur Gesetzgebung verfügt und die Verbände frühzeitig Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess nehmen wollen. Etablierte, ressourcenstarke und hoch spezialisierte Interessenorganisationen genießen dabei Vorteile bei der Einflussnahme, weil sie in Brüssel deutlich präsenter und engagierter sind.