Einleitung
Das Volk der Magyaren trat in die europäische Geschichte mit dem Grundmerkmal der Herkunftsvielfalt ein. Nachdem es sich auf seiner Jahrhunderte langen Wanderung vom Ural aus turko-bulgarischen, kawarischen und finnisch-ugrischen Elementen zu einem Stammesverband formiert hatte und weiter nach Westen gezogen war, wurde es im Donau-Karpatenbecken sesshaft.
Vielsagendes Beispiel für die lateinisch-christliche Westorientierung ist die Übernahme und Einbürgerung der baierisch vermittelten Staatskonzeption zur Zeit des ersten christlichen Königs Ungarns, Stephans I. des Heiligen (1000 - 1038) aus der Dynastie der Árpáden. Lange Zeit wurde sie vor allem von deutschen Historiographen mit der Abhängigkeit des Stephansreichs vom deutschen Reich erklärt. Eine neue Analyse der ungarisch-deutschen Beziehungen während der Herrschaft der Árpádenkönige beziehungsweise der ottonischen und salischen Kaiser weist nach, dass die Eingliederung Ungarns in die westliche Staatenwelt in deutscher Hinsicht vielmehr durch Anlehnung und Emanzipation verlief.
In der östlichen und südöstlichen Nachbarschaft des frühen ungarischen Königreiches ist zum einen die Integration des Raumes von der östlichen Adriaküste bis zur pannonischen Ebene bemerkenswert. Sie brachte ab dem letzten Drittel des 11. Jahrhunderts eine der eigenartigsten und langlebigsten Verbindungen zwischen ostmitteleuropäischen Nationen hervor, die ungarisch-kroatische Staatsgemeinschaft, die mit Unterbrechungen bis 1918 bestand.
In der inneren Dimension der mittelalterlichen Nachbarschaftsverhältnisse ergibt die ethnisch-kulturelle Vielfalt der Bevölkerung bereits seit der Staatsgründung einen eigenen Themenbereich, den drei Schwerpunkte füllen: 1. die Beziehungen des ungarischen Staates und der Staatsnation zu den nichtungarischen und nichtchristlichen Völkern im Reich; 2. die Migrationen und Identitäts- sowie Organisationsformen, Assimilationen und Dissimilationen der Nationalitäten; 3. die verschiedenen interethnischen Kontakte hauptsächlich im politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben.
Eine der verwickeltsten Forschungsfragen bezieht sich auf den Beginn der jeweiligen zweiseitigen Beziehungen. In ungarisch-deutscher Hinsicht fällt die Antwort leicht: Die schon zur Zeit Stephans eingewanderten "Gäste" (hospites), die bekannteren unter ihnen aus dem süddeutschen Raum, trugen nicht nur zur Staatskonzeption bei, sondern sicherten mit ihrer Verschmelzung eine der Voraussetzungen für die Herausbildung der ungarischen Aristokratie.
Im mittelalterlichen Stephansreich bildete sich eine Dualität zwischen Königtum und Adel heraus, die das Wechselspiel von zentralistischen und autonomistischen Richtungen belebte.
Die Woiwodschaft im Karpatenbogen war der Zentralmacht sowohl unter- als auch nebengeordnet. Die Ursprünge dieser Doppelstellung reichen ins 12. Jahrhundert zurück, als der Landesausbau die Teilung von Großverwaltungsräumen nach sich zog. Die Sonderentwicklung der östlichen Region beruhte auf deren Selbstverwaltung, die seit dem frühen 15. Jahrhundert mit vertraglichen Unionen der drei ständischen Nationen - des ungarischen Adels, der Siebenbürger Sachsen und der Szekler
Von den Eigenarten des innersiebenbürgischen Gegenseitigkeitsverhältnisses ruft die Rolle des rumänischen Volkselements die meisten Diskussionen hervor. Zahlreiche Rumänen stiegen ab dem Spätmittelalter durch persönliche Adelungen, die ihre sprachlich-konfessionelle Assimilierung nach sich zog, in die katholische Oberschicht des ungarischen Standes auf, als Gruppe orthodoxen Glaubens fehlten sie aber im Regionalverbund. Gerade mit Blick auf ihre Assimilierung stellt sich die Aufgabe, die Anfänge der ungarisch-rumänischen Begegnungen zu bestimmen. Dabei stehen sich drei Vorstellungen teilweise unversöhnlich gegenüber, die jeweils eine Theorie der Entstehung beziehungsweise siebenbürgischen Ansiedlung des rumänischen Volkes liefern. Somit sind sie im Wettstreit um die frühere Anwesenheit in Siebenbürgen, um das ältere historische Recht auf die Region leicht politisierbar.
In einer erweiterten Binnenperspektive auf das alte Stephansreich ergibt sich der erstaunliche Befund, dass der größere und ältere Teil des ungarischen buch- und bibliotheksgeschichtlichen Erbes seit dem 15. Jahrhundert nicht aus dem Gebiet des heutigen Ungarn, sondern aus Oberungarn, also der heutigen Slowakei, sowie aus Siebenbürgen überliefert ist. Er enthält eine erhebliche Anzahl von Drucken in slawischer und rumänischer Sprache.
Grenzüberschreitende Integration
In der staatsrechtlichen Verbindung mit Kroatien war Ungarn das Zielland grenzüberschreitender Integration. In einer über 400 Jahre kürzeren Zeitspanne war es hingegen selbst herausgefordert, sich in ein größeres Nachbarreich, in das der Habsburger, einzugliedern. Aus dem Verhältnis zu dieser Dynastie entstand im 16. Jahrhundert eine Staatsgemeinschaft, die bis zu ihrem Untergang am Ende des Ersten Weltkrieges in territorialer Ausbreitung und innerer Struktur mehrfachen Wandlungen unterworfen war.
Während der ersten Phase dieser Großepoche - der Türkenzeit - gehörte Ungarn nur teilweise zur Habsburgermonarchie. Im 16. Jahrhundert wurde es als Ergebnis des türkischen Vordringens dreigeteilt: Mittelungarn kam unter osmanische Verwaltung, die ungarische Staatlichkeit zog sich in das nordwestliche, habsburgisch geführte königliche Ungarn zurück, und die Woiwodschaft im Osten des Reiches wurde im osmanischen Einflussbereich zum Fürstentum Siebenbürgen, das unter Führung ungarischer Fürsten innen- und außenpolitische Autonomie genoss.
Ursprung und Funktion der siebenbürgischen Eigenstaatlichkeit werden von ungarischen und rumänischen Historikern meist gegensätzlich erörtert. Einvernehmen besteht darüber, dass die Sonderentwicklung des östlichen Reichsteils ausgereift ist, als Mitte des 16. Jahrhunderts die bis dahin selbstverwaltete Region ein eigenes Regierungssystem mit ständischer Verfassung erhielt. Die ungarische Forschung knüpft diese Umgestaltung an die unter den Árpáden angelaufene Regionalisierung des Staates und führt sie auf den habsburgisch-osmanischen Machtkampf zurück. Zusätzlich betont sie, dass die zeitgenössischen Führungsschichten den siebenbürgischen Kleinstaat im Zeichen der ungarischen Einheitsidee als ein notgedrungenes, aber vorübergehendes Phänomen, nämlich als Mittel zur staatlichen Wiedervereinigung betrachteten.
Auch die rumänische Forschung leitet die geopolitischen Gründe für die Herausbildung und die Pufferstellung des autonomen Siebenbürgen aus der Rivalität zwischen den beiden Vormächten ab. In den historischen Zielsetzungen der siebenbürgischen Sonderentwicklung meint sie aber einer Ideologie der Selbständigkeit nachspüren zu müssen, die sich aus der Tradition von lokalen rumänischen Verwaltungseinheiten gespeist und im Bewusstsein der geistigen Zusammengehörigkeit aller Rumänen diesseits und jenseits der Karpaten der ungarischen Staatsidee geradezu entgegengewirkt habe. Die Frühe Neuzeit ist ein weiterer Abschnitt der Geschichte Siebenbürgens, dessen wissenschaftliche Auslegung nachvollziehen lässt, warum diese Region für das ungarische und das rumänische Staats- und Nationalbewusstsein einen hohen und zugleich voneinander abgrenzenden Stellenwert besitzt.
Nach der Zurückdrängung der Osmanen aus Ostmitteleuropa, in der Habsburgerzeit, gelangte Ungarn als Teil der Donaumonarchie in ein Beziehungssystem, das sich im Westen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts auf das Alte Reich ausdehnte. Durch die jeweilige staatsrechtliche und personalunionistische Verknüpfung mit dem Haus Habsburg und dessen Kron- und Erbländern wirkten die beiden Doppelstaaten neben-, mit- oder gegeneinander. Aus neuen Untersuchungen der Peregrinationen, der studentischen Bildungsreisen von Ungarnländern an deutsche Hochschulstandorte, sowie der kulturellen Querverbindungen zwischen deutschen Ländern und Ungarn wird der ungemeine Reichtum dieses Themas erhellt.
Die bedeutendste und in der Fachwelt bekannteste ungarische Antwort auf die Anforderung der Integration innerhalb der Donaumonarchie war die Hungarus-Konzeption. Demnach gehörten alle Bevölkerungsgruppen Ungarns mit ihren ethnisch-kulturellen Sondermerkmalen der Natio hungarica an. Diesen ständischen Patriotismus überlagerte die Vorstellung eines unteilbaren Habsburgerreiches, in dem Ungarn Selbständigkeit genießt. Dynastie und ungarische Stände hatten sich auf diese beiden Prinzipien in einem der wichtigsten österreichischen Staatsgesetze, der "Pragmatischen Sanktion" von 1722/1723, geeinigt und sie bis zum Anbruch des bürgerlichen Zeitalters mehr oder minder einvernehmlich aufrechterhalten.
Die Suche nach der Einheit in der Vielfalt erlebte ihre letzte Phase im österreichisch-ungarischen Dualismus von 1867 bis 1918. Ungarn bildete nun mit Siebenbürgen und Kroatien einen der beiden Teilstaaten der Habsburgermonarchie. Dabei vertrat es auf der oberen Integrationsebene eine übernationale Großstaatlichkeit, während es auf der unteren die Hungarus-Konzeption zu verbürgerlichen suchte, um die Theorie des einheitlichen Nationalstaates praktisch umzusetzen. Diese Doppelstrategie schlug sich auch in der Politik gegenüber den Nationalitäten nieder, die wissenschaftlich kontrovers diskutiert wird. Deutsche Historiker beurteilen sie heute auch gemäß der Auffassung der ungarischen Forschung, wenn sie im Spiegel der Schul- und Sprachpolitik sowie der Mehrsprachigkeit den Vergleich zwischen einer erheblich durch den wirtschaftlichen Fortschritt geförderten freiwilligen und einer staatlich gesteuerten Magyarisierung ziehen.
Auffälligerweise erscheint die Ethnisierung, der Nationalismus der Epoche, in den differenzierenden oder verallgemeinernden Zugriffen als Eigenschaft vor allem - oder sogar nur - der staatstragenden ungarischen Seite. Dabei war es in der Doppelmonarchie weit verbreiteter Brauch, politisch-rechtliche Programme auf ethnisch-kultureller Grundlage zu betreiben.
Der Umschwung in den Machtverhältnissen zugunsten der Nationalitätenbewegungen trat schließlich in der letzten Phase des Ersten Weltkriegs unter diplomatischem und militärischem Druck ein. Er beendete die großstaatliche Integration Ungarns, das aufgrund des 1920 im Pariser Vorort Trianon unterzeichneten Friedensvertrags 71 Prozent seines Gebiets und 62 Prozent seiner Bevölkerung mehrheitlich an die Nachfolgestaaten Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien verlor.
Innere Vereinheitlichung, äußere Bevölkerungsaufteilung
Der letzte Abschnitt der ungarischen Beziehungsgeschichten reicht bis in die Gegenwart. Er sei hier unter dem problematischen Aspekt des doppelten Blickwinkels skizziert.
Ungarn hat mit der 1947 völkerrechtlich wieder besiegelten Aufteilung seines historischen Staatsgebiets
Die deutsche Zeitgeschichtsforschung führt diese zweipolige Sichtweise bisweilen auf einen Ethnozentrismus der ungarischen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Eliten zurück, der sich seit 1918 kontinuierlich im "Vorrang der nationalen, über die Staatsgrenzen hinausweisenden Bedürfnisse vor den staatlichen und damit innerungarischen" Anliegen äußere.
Die ungarischen Beziehungsgeschichten haben sich nach dem Ersten Weltkrieg um einen gewichtigen inneren Bezug vermehrt.
Recht breit erforscht ist der ungarische Revisionismus der Zwischenkriegszeit - vor allem seine gewaltbereite Art, die an der Seite des "Dritten Reiches" auf eine möglichst vollständige Wiederherstellung Altungarns abzielte und territorialpolitische Teilerfolge erreichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Ungarn auf seinen vormaligen Gebietsstand verkleinert und von der zuvor selbst angenommenen westlichen Zwangsbahn schrittweise in den aus Moskau verordneten und gelenkten sowjetischen Hegemonialblock geleitet. Diese östliche Zwangsintegration ordnete die Problematik der nationalen Minderheiten der internationalistisch-sozialistischen Brüderlichkeit unter. Sie dauerte bis zu den politischen Um- und Zusammenbrüchen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, die 1991 zur Auflösung des Warschauer Paktes führten.
So öffnete sich der Weg für eine im 20. Jahrhundert erstmals uneingeschränkt demokratische Außenpolitik Budapests,
Die ungarischen Regierungen sind seit 1989 durch die novellierte Staatsverfassung von 1949 verpflichtet, für "das Schicksal der außerhalb der Grenzen" der Republik Ungarn lebenden Magyaren Verantwortung zu tragen und "zur Pflege von deren Beziehungen zu Ungarn" beizutragen.
Die heutigen gesamtungarischen Integrationsbemühungen zielen im Gegensatz zur Zwischenkriegs- und Weltkriegszeit nicht auf territorialpolitische und völkerrechtliche Umwälzungen ab. Ihre Wortführer wünschen für die Gemeinschaften jenseits der Landesgrenzen, an europäische Beispiele angelehnt, den Lösungsansatz der innerstaatlichen Autonomie. Einhellig vertreten sie den politisch maßgeblichen Standpunkt, dass Selbstverwaltungsrechte nicht die Assimilation, sehr wohl aber die Integration der Minderheitsmagyaren in ihre Heimatstaaten zu fördern haben. Zudem sollen sie die grenzüberschreitenden Kontakte in Wirtschaft, Kultur und Verwaltung auch zwischen territorialen Untereinheiten begünstigen. Welche Chancen letztere Art der Kooperation verheißt und auf welche Hindernisse sie stößt, zeigt exemplarisch das ungarisch-rumänisch-serbische Netzwerk im Rahmen der Euroregion Donau-Kreisch-Marosch-Theiß.
Der ungarisch-ungarischen Kontaktebene lässt sich das internationale Feld der europäischen Bündnisse und Gegenbündnisse sowie der verschiedenen Gestalten der europäischen Idee hinzugesellen: im außenpolitisch-diplomatischen Rahmen sowie unterhalb der staatlichen Sphäre, im Bereich der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Kooperationen oder Konflikte. Eine Schlüsselfrage ist in beiden Fällen, ob es Denkgebilde gab und gibt, welche die Möglichkeiten einer Integration von Nationen beziehungsweise Nationsteilen nicht - oder nicht ausschließlich - aus dem Dogma des zentralisierten und homogenisierten Einheitsstaates aufwerfen, und wie sich die ungarischen sowie nichtungarischen Träger der Beziehungssysteme diesen gegenüber verhalten.
Von den Phasen des immer länger werdenden 20. Jahrhunderts bietet der Postkommunismus das reichste Material für diesen Forschungsansatz. In europapolitischer Reichweite schlägt er ein neues Kapitel insbesondere in den ungarisch-deutschen Beziehungsgeschichten auf. Eine übliche Lesart erschließt deren abstoßenden Tiefpunkt, weil sie ihren historischen Horizont auf die Waffenbruderschaft im Zweiten Weltkrieg eingrenzt.
Die heutige Partnerschaft Ungarns und Deutschlands tragen zwei Verlierer der beiden Weltkriege. Der jüngste Systemwandel hat der deutschen Seite die Einheit in der Freiheit von Staat und Nation, Ungarn hingegen nur die Freiheit in der - weiter bestehenden - Zergliederung der Nation gebracht. Ungarische Führungsgruppen haben die volle Selbstbestimmung weder eingefordert noch an ihrem Verzicht auf Grenzveränderungen zu eigenen Gunsten je gerüttelt.
Diese Selbstbeschränkung weckt gerade angesichts ihrer Tragweite und Beständigkeit, aber auch wegen der beigesellten Ausgleichsoption bisweilen Misstrauen. Die wohlmeinende Öffentlichkeit wird nachvollziehen, welche Bürde auf der ungarischen Suche nach Alternativen zur Allmacht der Nationalstaaten lastet, wenn die Kritik am Ethnozentrismus anderer Nationen bei gleichzeitiger Betonung der grenzübergreifenden Zusammengehörigkeit aller Magyaren auf Redlichkeit und Glaubwürdigkeit hin geprüft wird. Die Nachbarschafts- und Europapolitik Budapests und der ungarischen Minderheitsparteien darf sich auch zukünftig nicht damit begnügen, dass sie die gesamtungarische Integrationsstrategie mit demokratischen und pluralistischen Prinzipien in Einklang bringt und notfalls vor nationalistischen Missbräuchen schützt. Sie muss diese Harmonie den nahen und entfernteren Nachbarn in Europa auch nachweisen.