Einleitung
Der populäre ungarische Schriftsteller Sándor Márai schrieb im Jahr 1938: "Zigeuner. Ist es wirklich so übel, am Rande der Landstraße zu leben, in armseligen Katen, (...) außerhalb jeder gesellschaftlichen Verpflichtung und verkrochen in der zwielichtigen, dumpfen Lehmhütte (...) - ein bisschen auch Geige fiedelnd, hühnerklauend, (...) in Rauch und Lehm und sich dabei an Indien erinnernd (...)? Ist es tatsächlich ein so übles Schicksal, abseits der Welt zu stehen, (...)?"
Auf Nationalitätenkarten des 19. und 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Ungarns und der Slowakei
Stereotype
Ein verbreitetes Vorurteil auch in Westeuropa ist die Behauptung, Roma seien heimatlose Nomaden. Ihre Herkunftsregion Nordindien verließen sie im Zuge von Krieg und Verfolgung, unter anderem wegen muslimischer Angriffe, zwischen dem 4. und dem 14. Jahrhundert. Danach wurden sie auf dem europäischen Kontinent sesshaft, doch sie waren Spätankömmlinge: Die Grundstrukturen der späteren Territorialstaaten hatten sich bereits herausgebildet. Die ethnische Gruppe der Roma verfügte über kein historisches Territorium und über kein Mutterland. Damit gehören sie bis heute zu den Streu- oder Diaspora-Ethnien, die zwar starkes ethnisches Bewusstsein, aber kein Nationalbewusstsein entfalten.
Spätestens ab dem 16. Jahrhundert sahen "Zigeuner" Ungarn als ihre Heimat an, und ihre Einwanderung wurde mit Schutzbriefen der Fürsten akzeptiert. Zu jener Zeit geriet ihre Lebensweise, die in manchen Einstellungen und auch in kultureller Hinsicht auf den Hinduismus verweist, mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen noch nicht in Konflikt. Das verdeutlicht einer der ältesten Schutzbriefe von König Sigismund: "(Und) wir verordnen, dass ihr László Vajda und seine Roma Untertanen in jeder Weise beschützt, sie nicht behindert, ihr Leben nicht erschwert, sondern ganz im Gegenteil, ihr sollt sie vor jeder Unannehmlichkeit und jedem Ärger beschützen."
Ein weiteres Klischee spricht von einer homogenen Bevölkerungsgruppe. Doch in Wirklichkeit unterscheiden sich ihre Mitglieder hinsichtlich der Sprache, der Traditionen sowie der Lebensweise beträchtlich voneinander. Allein in Ungarn können vier größere Gruppen unterschieden werden. Die alteingesessenen Roma (Romungrók) stellen rund 70 Prozent. Sie kamen im 15./16. Jahrhundert nach Ungarn und haben eine eigene Kultur des Musizierens entwickelt. Sie wandelten ihre Muttersprache, das Romanes, in eine europäische Sprache um, die viele ungarische Elemente in sich trägt und mit zwei Dialekten die am häufigsten gesprochene Roma-Sprache ist. Der Gebrauch der Muttersprache geht allerdings immer mehr zurück: 1893 gaben noch 30 Prozent der alteingesessenen Roma Romanes als ihre Muttersprache an, 1983 nur noch zehn Prozent.
Die Oláhzigeuner kamen in der zweiten Hälfte des 19. und in der Mitte des 20. Jahrhunderts aus dem Gebiet der Moldau nach Ungarn und bilden heute etwa 21 Prozent der Minderheit. Sie sprechen Romanes und den "Oláhdialekt".
Vor der politischen Transformation
Nicht zuletzt auf Grund ihrer musikalischen Fertigkeiten galten die Roma in Ungarn als integriert - anders als in anderen Teilen Europas. Freilich wurden sie auf diese Rolle reduziert. Schon während der österreichisch-ungarischen Monarchie (1867 - 1918) sind die Roma diskriminiert und zwangsweise umgesiedelt worden. Im Zweiten Weltkrieg verschärfte sich die Abneigung gegenüber den Roma weiter - bis zum Massenmord unter dem Signum der nationalsozialistischen Rassenideologie. Ein von Heinrich Himmler Ende 1938 unterzeichneter Erlass zur "Regelung der Zigeunerfrage" mündete auch in den verbündeten und besetzten Ländern Europas in den Genozid. Zwischen Juli 1944 und März 1945 kam es zur Deportation von bis zu 30 000 ungarischen "Zigeunern", von denen nur etwa 4000 zurückkehrten.
In der Nachkriegszeit wurde die Minderheitenpolitik vernachlässigt. Das neue kommunistische System sah über die Deportation der Roma hinweg.
Die Roma hielten weitgehend an ihrer traditionellen Lebensweise fest, die mit der sozialistischen Arbeitsideologie unvereinbar war. Eine Verbesserung ihrer Lebenssituation brachte die "sozialistische Industrialisierung" der 1950er und 1960er Jahre: Als Folge der industriellen Entwicklung entstanden zahlreiche Arbeitsplätze, für die man kaum Qualifikationen, sondern vor allem physische Kraft benötigte. Anfang der 1980er waren 85 Prozent der arbeitsfähigen Roma und ca. 45 Prozent der Romni (weibliche Roma) in den Arbeitsprozess eingegliedert, blieben jedoch auf die unteren Einkommensgruppen beschränkt. Eine Untersuchung in den 1970er Jahren ergab, dass nur 11 Prozent der Romni Facharbeiterinnen waren, jedoch 10 Prozent angelernte, 56 Prozent unqualifizierte und 13 Prozent Landarbeiterinnen.
Von Mitte der 1960er Jahre an erhielten tausende Roma-Familien hygienischere Wohnungen, die aber mit dem Buchstaben "CS" (csökentett komfortfokozatú, geringeres Komfortniveau) versehen waren. Dies führte durch den kontinuierlichen Wegzug der Mehrheitsgesellschaft aus den Wohnblocks zur Marginalisierung und Wohnsegregation. Die offizielle Politik konnte trotz mancher Integrationserfolge wichtige Faktoren der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb der Roma-Bevölkerung nicht erfassen; dieser Umstand erklärt auch die schlechte Ausgangsposition der Roma beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft.
Nach der politischen Transformation
Mit dem Systemwechsel schien sich die allgemeine Situation der Roma zunächst zu verbessern. Die von József Antall geführte Regierung schuf 1990 eine neue Institution mit landesweiter Befugnis: das Amt für nationale und ethnische Minderheiten, zu dessen Aufgabengebiet auch die Lage der Roma zählte. Die neuen Vereinigungs-, Rede- und Pressefreiheiten gaben auch den Roma die Möglichkeit, eigene Organisationen zu gründen. Seit 1993 sind die Roma als ethnische Minderheit in Ungarn gesetzlich anerkannt. Das führte zur Zunahme örtlicher Selbstverwaltungen (von 477 auf 1300), deren Überleben jedoch nach wie vor problematisch erscheint.
Die "Homogenisierung" der Minderheit bringt zahlreiche Probleme, gerade auf kommunaler Ebene. In den Roma-Selbstverwaltungen müssen die Vertreter der vier größten Gruppen zusammenarbeiten. Eine gemeinsame Interessenvertretung nach außen ist erschwert.
Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Großindustrie erfolgte eine rasche Reduzierung der Zahl der Industriebeschäftigten, die besonders stark die unteren Gesellschaftsschichten traf, also jene, die kaum oder nur geringe schulische Bildung und Qualifikation aufweisen konnten. Die wirtschaftliche Umstrukturierung hatte wachsende Arbeitslosigkeit zur Folge. Am Tiefpunkt der Rezession der 1990er Jahre waren nur 29 Prozent der männlichen Roma zwischen 15 und 59 Jahren beschäftigt, während der Beschäftigungsanteil der Männer in der Gesamtbevölkerung 64 Prozent betrug. Vor der Transformation hatten 85 Prozent der männlichen Roma Arbeit. Die Schere klaffte bei Frauen noch weiter auseinander: Nur 15 Prozent der Romni im Gegensatz zu 66 Prozent der Nicht-Roma waren berufstätig.
Durch ausländische Kapitalinvestitionen, die sich indes hauptsächlich in Budapest und in den westungarischen Städten konzentrierten, stieg der Bedarf nach Büroräumen. Die Umwandlung der inneren Stadtteile und die Privatisierung früherer Sozialwohnungen mobilisierte die Bevölkerung. Wohlhabendere bevorzugten nun größere und komfortablere Wohnungen in den Außenbezirken. Die bauliche Erhaltung der Innenstadtviertel wurde auch nach der Transformation stark vernachlässigt. Die dadurch entstandenen Slums wurden von den niedrigeren sozialen Schichten bewohnt, hauptsächlich von Roma, die wegen ihres Alters, ihrer Ausbildung oder der Situation auf dem Arbeitsmarkt keine Möglichkeit zum gesellschaftlichen Aufstieg hatten. Der größte Teil der Familien lebt bis heute unterhalb des durchschnittlichen Lebensstandards. Die Kaufkraftparität der Roma pro Kopf liegt weit unter dem Landesdurchschnitt, denn Roma verfügen selten über Kapital, und ihre Lebensumstände sind oft ärmlich. Nach wie vor wohnen sie mehrheitlich "unter sich", in kleinen Gemeinden, typisch für sozial Exkludierte.
Aufgrund ihrer schlechten wirtschaftlichen Situation sieht sich die Mehrheit der Roma Perspektiv- und Chancenlosigkeit für den gesellschaftlichen Aufstieg gegenüber. Nostalgisch gegenüber dem alten System, in dem sie über einen (geringen) gesellschaftlichen Status verfügt haben, entwickeln sie häufig Apathie gegenüber dem aktuellen politischen System. Bei der Parlamentswahl 2002 standen erstmals Vertreter der Roma-Partei Lungo Drom auf den Listen. Bei Kommunalwahlen standen häufig Roma - mit der Folge, dass sie zu Gemeindevertretern, in Einzelfällen auch zu Bürgermeistern gewählt werden. Aufgrund des allgemein niedrigen Bildungsstandes der Minderheit können die Roma-Parlamentarier aber bis hin zum Europäischen Parlament ihren Aufgaben, die Interessen der Roma zu vertreten, häufig nur schwer nachkommen. Sie dienen nicht selten als Alibi, um den Parteien Stimmen aus dem Lager der Roma zu sichern. Für die Europawahl 2009 trat die MCF Roma Ö an, was von Roma-Vertretern aus anderen Parteien wegen der Aussichtslosigkeit und der generellen Uneinigkeit scharf kritisiert wurde. Ohne Wahlprogramm bekundete sie, für alle zwölf Millionen Roma in Europa eintreten zu wollen. Als Spitzenkandidat fungierte der 21-jährige Zsolt Kis. Als erste Roma-Partei überhaupt war sie 2006 zur Parlamentswahl angetreten und kam auf 0,08 Prozent der Stimmen; bei der Europawahl erhielt sie 0,46 Prozent.
Die Mehrheit der Roma ist nach wie vor kaum in die Arbeitswelt integriert: So fehlt der Kontakt mit der Mehrheitsbevölkerung. Ein großes Problem für die Etablierung einer politischen Kultur der Roma und für ihr Demokratieverständnis stellt ihr niedriger Bildungsstand dar: Roma-Kinder haben durch die segregierte Schulbildung
Nährboden für Rechtsextremismus
Demokratieschutz bedeutet Minderheitenschutz, doch die Roma sind Parias der ungarischen Gesellschaft
Der Rechtsextremismus entfaltet nach der als abgeschlossenen betrachteten Phase der Transformation neue Attraktivität, sowohl subkulturell wie parteiförmig:
Der Anführer der Bewegung, Gábor Vona, ein aus einer traditionellen Bauernfamilie stammender Akademiker, äußerte in der "Deutsche Stimme", dem Parteiorgan der rechtsextremistischen NPD, dass es der Zweck der Garde sei, Ungarn "physisch, seelisch und auch geistig/geistlich" zu schützen. Das zentrale Problem des ungarischen Volkes ergebe sich "mit den hiesigen Zigeunern - in Bezug auf deren äußerst unverhältnismäßig große Kriminalitätsrate und die bei ihnen ausgeprägte Arbeitsunwilligkeit."
Die Lage der Roma spielte im Rahmen des EU-Beitritts lediglich eine Nebenrolle, obwohl sie als neue EU-Bürger mit allen Rechten und Pflichten die wirtschaftlich ärmste Minderheit in Europa sind. Im Zuge des Beitritts der Visegrád-Staaten gab die Europäische Kommission einen Bericht über die Situation der Roma in der erweiterten EU heraus. Darin wird offen von Versagen bei der Verringerung der Diskriminierung gesprochen. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Für Ungarn wurde die schulische Segregation kritisiert: Ungefähr in 700 Schulen würden Roma-Kinder getrennt unterrichtet.
Aufgrund des mangelhaften Befundes ließ die EU im Jahr 2008 ausführlich die Situation der Roma und Sinti in Bulgarien, Tschechien, Griechenland, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei untersuchen. In jedem Land äußerten sich 500 Roma. Die "große Heterogenität" der Bevölkerungsgruppe wird in den methodischen Ausführungen zwar problematisiert, konnte aber in der Umfrage selbst nicht berücksichtigt werden. Alle befragten Roma in Ungarn gaben an, Ungarisch sei ihre Muttersprache (zum Vergleich: in Bulgarien gaben nur 25 Prozent an, Bulgarisch sei Muttersprache); 90 Prozent teilten die Auffassung, dass ihre Diskriminierung weit verbreitet und im Vergleich zu den anderen Ländern am stärksten ausgeprägt sei. 62 Prozent fühlten sich in den vergangenen zwölf Monaten persönlich als Opfer von Diskriminierung - nach Tschechien (64 %) der höchste Wert.
Doch Monitoring und Konferenzen wirken eher als zahnlose Tiger denn als effiziente Steuerungsinstrumente für die Implementierung von Minderheitenschutz. So mutet die Forderung, zur Förderung und Durchführung von Projekten müssten die Roma entsprechende Organisationsstrukturen bilden, inhaltsleer an, da sie die Heterogenität der Bevölkerungsgruppe nicht in Rechnung stellt.
Perspektiven
Seit den 1990er Jahren ist die Diskriminierung der ungarischen Roma aufgrund schlechter oder versäumter sozialpolitischer Maßnahmen auf allen Ebenen spürbar: sozial, kulturell, institutionell und politisch. Die Transformationsforschung übersieht diese Problematik, da sie für Ungarn in der Regel äußerst positive Zahlen übermittelt und eine staatliche Konsolidierung diagnostiziert hat. Doch Stereotype gegenüber Roma sind in Ungarn omnipräsent. Die Roma, nach wie vor "Fremde in Europa", sind tatsächlich "anders" und scheinen sich häufig mit ihren Gewohnheiten der Mehrheitsgesellschaft zu verschließen.
Die Zuspitzung negativer Eigenschaften führt zu irrationalem Verhalten seitens der Mehrheitsbevölkerung. "Zigeunerbilder in den Köpfen" sind besonders langlebig und hartnäckig: "Ein häufig anzutreffendes Muster ist die Verwendung idealtypischer Gegensatzpaare: auf der einen Seite die zivilisierte Mehrheitsbevölkerung, die durch die Werte Arbeit, Ehrlichkeit, Ordnung, Ruhe und Friedfertigkeit charakterisiert wird, auf der anderen Seite die Roma als unzivilisierte Minderheit, die aufgrund ihres asozialen Verhaltens diese Werte nicht akzeptiert und in Frage stellt."
Erst wenn Vorurteile auf dem Weg des Miteinanders ausgeräumt werden, wenn alle Bevölkerungsgruppen an breiter Bildung partizipieren können, könnte der Teufelskreis durchbrochen werden. Sonst dürfte sich an der schlimmen gesellschaftlichen Situation der Roma in Ungarn und im restlichen Europa auch im 21. Jahrhundert nichts ändern.
Im Gegenteil: Die Situation könnte eskalieren. In den vergangenen Monaten stieg die Gewalt gegen Roma weiter an. Im Februar 2009 wurden bei einem Brandanschlag in Tatárszentgyörgy, rund 50 Kilometer südwestlich von Budapest, ein Vater und sein fünfjähriger Sohn getötet. Viele der 54 erfassten Angriffe auf Roma in den vergangenen eineinhalb Jahren sind unaufgeklärt. Mittlerweile hilft die US-Bundespolizei FBI nach der drastischen Häufung von Gewalt den ungarischen Behörden bei den Ermittlungen.