Einleitung
Das 20. Jahrhundert in Osteuropa war ein Zeitalter der Totalitarismen, die sich gegenseitig durch den Verweis auf die Gefährlichkeit des ideologischen Gegners legitimierten. Verwüstungen, Massenmorde und Deportationen wurden immer mit dem Hinweis einer Präventivmaßnahme vollzogen.
In dieser Hinsicht bestehen zwischen nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen wechselseitige und enge kausale Verbindungen. Auch in Ungarn sind diese vorhanden und werden auf verschiedene, oft fragwürdige Art und Weise von der Politik und der Gesellschaft reflektiert.
Das "Terrorhaus"
Das Haus an der Andrássy-Straße 60 in Budapest ist geradezu prädestiniert für ein Museum, denn hier hatte bis 1945 die ungarische rechtsradikale Partei der Pfeilkreuzler ihre Parteizentrale, und anschließend diente es als Hauptquartier der kommunistischen politischen Polizei. Die Adresse galt im Gedächtnis der Nation als Synonym für Schrecken. Obwohl ab 1950 nicht mehr von der Staatssicherheit genutzt, wurde "Andrássy 60" als Inbegriff stalinistischer Polizeimethoden bis in die 1980er Jahre hinein verwendet.
Die demokratische Transformation in Ungarn veränderte den Umgang mit dem Gebäude zunächst nicht. Bis 2001 erinnerte nur eine bescheidene Gedenktafel an seine Geschichte; die Räume wurden zur kommerziellen Nutzung vermietet. 1994 gelangte für eine Legislaturperiode eine Koalition aus Postkommunisten und Liberalen an die Regierung. Für die Mehrheit dieser Regierungskoalition war die öffentliche Erinnerung an die kommunistischen Verbrechen unangenehm, da diese nicht in ihr reformkommunistisches Weltbild passte. Viele noch aktive Politiker tragen Verantwortung für die Verbrechen der Diktatur. Da die Beschwörung einer antifaschistischen Staatstradition nach 40 Jahren unglaubwürdig geworden war, konnte die Errichtung einer solchen Gedenkstätte auch nicht als politischer Gewinn verbucht werden. Schweigen stellte in dieser Phase die einzig mehrheitsfähige Konzeption für die Deutung der Geschichte dar.
Mehr als zehn Jahre mussten nach der politischen Wende vergehen, bevor eine museale Darstellung des stalinistischen Totalitarismus verwirklicht werden konnte. Die aus dem liberalen Lager kommende, jedoch nach 1994 konservativ ausgerichtete Partei von Viktor Orbán stellte von 1998 bis 2002 die Regierung. Sie versuchte, die öffentliche Erinnerungskultur in Ungarn radikal zu verändern. Ein Zeichen dafür war im Jahre 2000 die Einführung eines Gedenktages für die Opfer der kommunistischen Verbrechen und die Einführung eines Holocaust-Gedenktages als Beitrag zur transnationalen Erinnerungspolitik.
Im Zeichen des ersten Gedenktages wurde im Jahr 2002 das imposanteste Museum der vergangenen 15 Jahre eröffnet, das "Terrorhaus". Die Kosten beliefen sich auf über 160 Millionen Euro, die Bauzeit betrug mehr als drei Jahre. Das Haus lehnte sich stark an ähnliche Einrichtungen in Osteuropa und in den USA an (die Museen in Vilnius, Tallinn und Riga, ferner das Holocaust-Memorial Museum in Washington und das Jüdische Museum in Berlin). Nach der Eigendefinition ist das "Terrorhaus" ein Mahnmal, "eine Statue im Form eines Hauses". In der Tat operiert die Gedenkstätte überwiegend mit audiovisuellen Mitteln: Die einzelnen Räume vermitteln Geschichte auf höchst emotionale Weise und stehen damit im Gegensatz zu herkömmlichen Ausstellungsmethoden der reinen Information. Das Objekt ist seit 2002 in der kollektiven Erinnerung zum Wallfahrtsort des Gedenkens an die Opfer des Terrors geworden.
Auf emotional history trifft man bereits im Vorraum. Auf einem Bildschirm sieht man in einer Endlosschleife drei gequälte alte Menschen, die unter Tränen sagen, dass "es möglich ist zu verzeihen, jedoch nicht möglich, zu vergessen". Wer, wo, wem, warum, erfährt man an dieser Stelle nicht, und zu diesem konkreten Fall auch nichts im Folgenden. Am Eingang stehen zwei gleich große schwarze und rote Marmortafeln mit einer Widmung für die Opfer der Kommunisten bzw. der Pfeilkreuzler. Man hört dazu düstere Musik. Jeder Hinweis auf Dauer, Opferzahlen oder Unterdrückungsmethoden fehlt. Damit wird die Darstellung zur Karikatur der Totalitarismustheorie, die gerade Zusammenhänge zu erklären versucht, ohne Terrormaßnahmen gleichzusetzen. Im Innenhof des Museums stehen sich auf einer Fotoinstallation eine "Wand der Täter" und eine "Wand der Opfer" gegenüber, jedoch ohne Erläuterung, um welche Täter und welche Opfer es sich handelt. Auf drei Etagen erstreckt sich die eigentliche Ausstellung, die in großzügig ausgestatteten Räumen ausgewählte Aspekte beider Diktaturen behandeln.
Politiker der Sozialisten und der Liberalen kritisierten von Anfang an die Idee einer Dokumentationsstätte in diesem Haus und nahmen an den Eröffnungsfeierlichkeiten nicht teil. Außenminister László Kovács forderte im Jahre 2002, anstatt eines "Terrorhauses" solle man ein "Haus der Erinnerung und Versöhnung" an anderem Ort errichten. Hier sind einige grundsätzliche Überlegungen angebracht: Versöhnung setzt angemessene Kenntnisnahme und Anerkennung der Schuld voraus. Doch das ist seitens der Täter praktisch nie erfolgt, viel eher herrschen ihrerseits Verharmlosung und Verleugnung vor, wobei eine Gleichsetzung und Aufrechnung der Regime erfolgt. Weite Teile der ungarischen Gesellschaft übernehmen diese Interpretation gerne, da sie sich damit auch entlasten können. Für diese eigentümliche Sichtweise ist die Parlamentspräsidentin Katalin Szili ein gutes Beispiel. Sie sagte bei einer Pressekonferenz, dass die "Sozialisten um Entschuldigung bitten, unabhängig davon, ob die Verbrechen von uns begangen worden sind oder nicht. Wir bitten die ungarische Nation, die Verbrechen der Vergangenheit zu verzeihen, sowie auch wir denjenigen verzeihen, die gegen uns gesündigt haben."
Die Debatten
Die neue sozialistisch-liberale Regierung beschloss daher, das Museum zu verändern. Alle Versuche schlugen jedoch fehl, weil das Haus politischen Symbolcharakter besaß und ihre Kritiker pauschal als Feinde der Erinnerung, gar als Sympathisanten der Täter verunglimpft wurden. In einer gereizten politischen Atmosphäre wurden Argumente nicht gehört und sachliche Einwände als politische Angriffe gewertet. Die rechte Opposition sah in diesen Versuchen eine direkte Einmischung der Täter, die ihre Spuren verwischen wollen. Dagegen anzutreten war für die postkommunistische Regierung hoffnungslos. Hier erwies sich die Machtlosigkeit einer Geschichtspolitik, die keine anderen Narrative an die Stelle der gültigen setzen konnte.
Die Rede Viktor Orbáns am 23. Februar 2003 zeigte, dass das "Terrorhaus" weit mehr bedeutete als ein bloßes Museum: "Die Konfrontation mit der Vergangenheit ist die Geschichte des andauernden Scheiterns: ungenügende Wiedergutmachung, zurückgewiesene Anklagen wegen Massenerschießungen, verhöhnte Lustrationsversuche. Der einzig wahre Versuch, uns mit der Geschichte zu konfrontieren, besteht in diesem Haus. Vor einem Jahr dachten wir, dieses Haus, die Andrássy-Straße 60 ist ein lebendiges Leiden. Heute fühlen wir immer stärker und immer mehr, dass es auch ein lebendiges Gewissen darstellt."
Der Weg zum Holocaust und die Deportation der ungarischen Juden werden im Museum nur am Rande behandelt, mit der Begründung, dass für dieses Thema ein separates Holocaust-Museum errichtet worden sei; darüber herrschte Konsens zwischen allen Parteien. Dieses Museum befindet sich aber nicht an einem zentralen Platz, sondern in einem Außenbezirk in einer renovierten Synagoge und ist seit 2004 öffentlich zugänglich. Die Botschaft der Trennung des Themas erwies sich aus Sicht des nationalen Gedenkens jedoch als fatal: Mit der Zuordnung zu einem jüdischen, religiös-sakralen Objekt wurde der Holocaust als Thema derjenigen, die sich für die jüdische Religion oder das jüdische Volk interessieren, eingeordnet. Diese Sichtweise ist in Ungarn sowohl aus Sicht der Opfer als auch aus Sicht der Täter falsch: Die Opfer waren in ihrer Mehrheit (im Gegensatz zu allen anderen Juden Osteuropas) assimiliert und zu einem relativ hohen Prozentsatz auch getauft. Ihre Mörder machten sie wieder zu Juden, und die Ausstellungsmacher übernahmen unkritisch diese Zuweisung. Auch aus Sicht der Täter und derjenigen, die Bereitschaft zur Vergangenheitsbewältigung zeigen, ist die Botschaft, die von der Synagoge ausgeht, falsch, weil dieser Ort die Konfrontation mit der Verantwortung der Gesellschaft auf ein einziges Symbol reduziert, obwohl in Ungarn weite Kreise materiell von Antisemitismus, Raub und Deportationen profitiert hatten.
In dem Raum des "Terrorhauses", in dem die politische Transformation mittels des "Wechselns der Uniform" visualisiert wird, versagt die symbolische Darstellung am deutlichsten. Im nationalen Gedächtnis ist die Wandlung der "kleinen" Pfeilkreuzler zu "kleinen" Kommunisten ein festes, und historisch gesehen auch fundiertes Bild, womit auch der Erfolg der KP und ihre massenhafte Mitgliederzahl erklärt wird. Das Museum versucht, dieses Phänomen im Zeichen der Totalitarismustheorie zu deuten: Auf einem sich drehenden Podium sind zwei mit dem Rücken zum Betrachter aufgestellte Figuren zu sehen, die die Uniform der Pfeilkreuzler und der kommunistischen politischen Polizei tragen. Um die Kontinuität zu zeigen, hört man das Schließen von Kleiderschränken, auf einem Bildschirm werden sich umziehende Schatten gezeigt.
Das Konzept der Aussteller, Kontinuität anhand der Mitglieder der politischen Polizei zeigen zu wollen, legt den Verdacht nahe, dass man vor der Thematisierung der nationalen Verantwortung ausweichen wollte. Über die Mitglieder der politischen Polizei der KP ist allein ein Satz zu lesen: "eine Organisation aus linksradikalen Elementen, Kriminellen und ehemaligen Pfeilkreuzler-Henkersknechten". In der Realität gab es in der Führung der politischen Polizei, also unter den Personen, deren Bilder die Porträtsammlung zeigt, keinen einzigen "Pfeilkreuzler-Henkersknecht" und auch keinen gewöhnlichen Kriminellen. Viele Mitglieder waren tatsächlich überzeugte Kommunisten, also "linksradikale Elemente". Bei den Allermeisten könnte aber auch Rache als Motivation zum Eintritt in die Polizei eine Rolle gespielt haben, denn die ersten Mitglieder der politischen Polizei waren überwiegend Juden, die unter der Diktatur als Verfolgte gelitten hatten, nur wenige kamen aus der Emigration. Diese Tatsachen verschweigt die Ausstellung. Die Gründe dafür sind klar: Die Ausstellung will über die Kommunisten nur kompromittierendes Material darstellen. Antifaschismus hat deshalb kaum Platz. Doch hätte eine differenzierte Darstellung selbst dem antikommunistischen Ausstellungskonzept gutgetan; so hätte man erwähnen können, dass die politische Polizei auch gegen Juden, insbesondere gegen "Zionisten", brutal auftrat. Unter den ersten Opfern der Kommunisten befanden sich zudem die jüdischen Mitglieder der kommunistischen, jedoch nicht moskautreuen Weishaus- und Demény-Fraktionen.
Im nächsten Raum, der sich mit dem antikommunistischen Widerstand befasst, steht folgender Text zu lesen: "Mehrere Zehntausende meldeten sich zur Organisation eines bewaffneten Widerstands (...). Die Namen von vielen sind unbekannt. Von anderen erzählt man immer noch kommunistische Lügen. Obwohl sie richtige Helden sind." Es ist schwer, diese Sätze anders auszulegen, als mit der Interpretation, dass hier einseitig alle antikommunistischen Bewegungen, auch die rechtsradikalen und rassistischen, als heldenhaft beschrieben und verherrlicht werden sollen. Die Motive des Antikommunismus werden nicht hinterfragt und die Bewegungen nicht genügend differenziert.
Der letzte Satz des Ausstellungskatalogs weist auf völlige Begriffsverwirrung hin: "Das ehemalige Haus der Terrors zeigt uns, dass die Opfer für die Freiheit nicht unnötig waren. Im Kampf gegen die beiden tödlichen politischen Systeme siegten schließlich die Freiheit und Unabhängigkeit." Dieser Satz ist typisch, aber er ist falsch. Die Leiden derjenigen, die an der Donau erschossen, im kommunistischen KZ Recsk getötet oder zum Krüppel gemacht wurden, können nur dann als Opfer der Freiheit bezeichnet werden, wenn sie eine Wahl gehabt hätten. Sie mussten jedoch nicht deshalb leiden, weil sie für "Freiheit und Unabhängigkeit" gekämpft hatten, sondern weil sie als "Juden" oder als "Bourgeois" geboren wurden. Hätte das Museum zielbewusst die Konzeption des Totalitarismus vertreten, wäre es zu solchen Fehlgriffen nicht gekommen. So aber entstand eine politisch gut nutzbare Ausstellung, an deren Ende das "Gute", welches identisch mit der eigenen Nation ist, das "Böse", also die "Fremden" besiegt. Diese Sichtweise entstammt einer Version nationaler Identität, welche die Opfer in das Zentrum rückt.
Der Zentralfriedhof
Die Opfer aller wichtigen politischen Prozesse zwischen 1945 und 1962 sind auf dem Zentralfriedhof von Budapest in zwei verschiedenen Parzellen bestattet worden. In Parzelle 298 kamen diejenigen, die bis 1956 von den so genannten Volksgerichten wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet worden sind, aber auch solche, die Opfer von Schauprozessen wurden. Die Urteile der Volksgerichte und die Prozessführung waren von Anfang an umstritten: Da die politische Polizei oft Foltermethoden einsetzte und die Rechtsprechung politischen Erwartungen folgte, sind selbst die Urteile gegen tatsächliche Verbrecher problematisch. Pfeilkreuzler, Kriegsverbrecher, Demokraten, Sozialisten ruhen hier gemeinsam. In der benachbarten Parzelle 301 sind sowohl Opfer von Schauprozessen vor 1956 als auch nach 1956 hingerichtete Revolutionäre bestattet worden. Auch einige Kriminelle fanden hier Platz.
Bis 1989 waren beide Parzellen verwahrlost, die Identifizierung der Bestatteten war unmöglich. Diejenigen, die hier trauern wollten, wurden umgehend von der Geheimpolizei von dem Gelände entfernt. Die erste größere Demonstration für die Rehabilitierung von Imre Nagy und seinen Kameraden fand am 30. Jahrestag ihrer Hinrichtung, am 16. Juni 1988, statt. Die Aktion war das erste sichtbare Zeichen für die Stärke der Opposition, es wurden sowohl im Stadtzentrum als auch auf dem Zentralfriedhof Versammlungen abgehalten. Die Demonstrationen wurden von der Polizei zerschlagen, auf dem Zentralfriedhof jedoch nicht mehr gestört.
Die Frage nach der Rehabilitierung von Nagy und seinen Gefährten bekam während der Jahre 1988/89 eine Schlüsselfunktion. Die Person von Nagy wurde zum Kristallisationspunkt der kollektiven Erinnerung und Identität. Obwohl der Kommunist Nagy die Revolution zunächst nur zögerlich begleitet hatte und erst am 4. November 1956, also am letzten Tag, die totale Konfrontation mit der Sowjetunion auf sich nahm, wurde er durch den Schauprozess zur Symbolfigur für die Idee der Revolution sowie für Freiheit und Unabhängigkeit. Seine Person stand auch für die Negation des Kádár-Systems.
Anlässlich der Wiederbestattungsfeierlichkeiten am 16. Juni 1989 zogen Hunderttausende in die Stadt auf den Heldenplatz, wo die Särge der Hingerichteten zur öffentlichen Ehrung aufgereiht standen; weitere Hunderttausende gingen am Nachmittag zur Wiederbestattung auf den Zentralfriedhof. Das sozialistische System erlebte mit diesem feierlichen Akt seine eigene, symbolische Bestattung. János Kádár, der Verantwortliche für die Hinrichtung Nagys, starb am 6. Juli 1989 in geistiger Umnachtung, während das Oberste Gericht die vollständige Rehabilitierung der Nagy-Regierung verkündete. In wenigen Wochen verlor die kommunistische Partei Ungarns (USAP) mehrere hunderttausend Mitglieder. Die Lenkung der politischen Transformation entglitt der Staatspartei. Nach der politischen Wende wurde dieser Teil des Zentralfriedhofs zur Gedenkstätte erklärt. 1992 ist in der benachbarten Parzelle 300 die von György Jovánovics entworfene, zentrale Gedenkstätte für die Opfer von 1956 eingeweiht worden.
Das Gelände erwies sich bald als geeignetes Schlachtfeld der geschichtspolitischen Interpretationen. Die alternative Gruppe "Inconnu" setzte noch 1989 in der Parzelle 298 etliche kopjafa (Holzbalken im Stil des vorchristlichen Bestattungsbrauchs der Magyaren) als Stilmittel des Gedenkens und der Betonung der Nationalität ein. Als Reaktion auf die Modernität der drei Jahre später eingeweihten Gedenkstätte entstand anschließend ein stilisierter Eingang eines magyarischen Bauerngehöfts mit der Inschrift: "Wanderer, der Du hier ankommst, kannst über dieses Tor nur mit ungarischer Seele eintreten." Dahinter stehen drei Marmortafeln mit den Namen der hier Bestatteten: "Sie fanden den Märtyrertod für das Vaterland."
Bei diesen Sätzen lohnt es sich, die dahinter stehende geschichtspolitische Absicht zu entschlüsseln. Die Bestatteten werden als Opfer einer speziellen, gegen Magyaren gerichteten Verfolgung definiert. Nach dieser Auffassung ist "das Gute" identisch mit "magyarisch", die Täter dagegen waren in dieser Logik zwangsläufig keine Magyaren. Dass auch die Täter (Richter, Polizisten, Offiziere, Politiker) sich als Magyaren definierten, störte das Konzept nicht, denn offensichtlich nutzten sie ein anderes Kriterium als das eigene Bekenntnis zur Nation.
Dieser Gedankengang ist in der ungarischen Politik nicht ohne Tradition. Die ungenügende Assimilation bzw. "nichtmagyarische" Abstammung wurde spätestens seit der Räterepublik 1919 zu einem der meistverwendeten politischen Vorwürfe. Die ethnizistische Logik der Zeit war so stark, dass sogar Antifaschisten betroffen waren: Sie verwendeten dieselben Vorwürfe
Stellvertretend für alle diese Opfer steht der Zentralfriedhof, denn bis 2006 existierte in der Hauptstadt keine zentrale Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und auch keine Gedenkstätte für den Aufstand von 1956.
Im Jahre 1994 legte der sozialistische Ministerpräsident Gyula Horn gemeinsam mit der Tochter von Imre Nagy einen Kranz in der Gedenkstätte nieder. Er und andere sozialistische Politiker versuchten, die Ereignisse als "tragischen Bürgerkrieg" umzudeuten - diese Version war zwar neu, wissenschaftlich jedoch völlig aus der Luft gegriffen, denn außer einigen Tausend Stasi- und Parteikadern stand während der Revolution niemand auf der Seite der Stalinisten. Darauf antwortete die Opposition, dass sie nicht bereit sei, sich "historische Lügen" zu identitätsstiftenden Feierlichkeiten anzuhören. Seitdem gedenken Opposition und Regierung getrennt der Revolution von 1956. Die nationale Gedenkstätte Zentralfriedhof war seit 2002 schon häufig Schauplatz politischer Protestaktionen. Opferverbände, Rechtsradikale und Antikommunisten demonstrierten gemeinsam wiederholt gegen die Regierung, während die sozialistischen Regierungsmitglieder (und ihre Koalitionspartner) die Opfer von 1956 ehren wollten.
Die Tatsache, dass in Parzelle 298 sowohl unschuldige Opfer als auch Schwerverbrecher ruhen und dass selbst Massenmörder nicht für ihre Taten, sondern für erfundene Delikte hingerichtet worden sind, wurde mehr als 15 Jahre lang nicht thematisiert. Bis heute werden alle Staatsgäste am 23. Oktober zu Parzelle 301 geführt, und nichtsahnend legen sie auch an Parzelle 298 einen Kranz nieder. Erst 2006 wurden Stimmen laut, dass die unterschiedslose Ehrung an der Gedenkstätte nicht korrekt sei, was jedoch keine weiteren Folgen hatte.
Im Jahre 2007 wurde in der Presse darauf aufmerksam gemacht, dass eine kleine Gruppe von Rechtsextremisten am Hinrichtungstag des "Nationsführers" am Grabstein, unter dem sie Ferenc Szálasi vermuten, in Parzelle 298 eine Gedenkfeier plane. Obwohl es nicht nachgewiesen werden konnte, dass Szálasi überhaupt an dieser Stelle, etwa unter Pseudonym, bestattet wurde, kam es zum Skandal. Die 1999 eingerichtete Regierungskommission "für nationale Gedenkstätten und Pietätsangelegenheiten" ließ die Inschriften beider Parzellen untersuchen und gab Empfehlungen zur Neugestaltung. Nach der Untersuchung waren 30 bis 40 Prozent der in den Parzellen bestatteten Opfer tatsächlich Kriegsverbrecher oder sonstige Kriminelle. Die Kommission ließ im Mai 2007 die drei Marmortafeln entfernen und empfahl, dass die zukünftige zentrale Betafelung keine Namen von Opfern mehr enthalten solle (diese sind auf den Grabstätten vermerkt).
Die Situation auf dem Zentralfriedhof wird dadurch erschwert, dass eine Opfergruppe fehlt: Kommunisten, die von ihren Genossen ermordet worden sind. Sie wurden noch 1956 exhumiert und knapp drei Wochen vor der Revolution 1989 feierlich in der Parzelle für die Märtyrer der Arbeiterbewegung wieder bestattet.
Nationale Symbole: Árpád-Fahne und Turul-Vogel
Die Probleme der Erinnerungskultur werden anhand zweier in Ungarn häufig verwendeter Symbole besonders deutlich. Beide haben mehrere Deutungsebenen, die beim Gebrauch jedoch kaum berücksichtigt werden.
Die Árpád-Fahne mit ihren rot-weißen Streifen ist eine uralte Kriegerfahne des Árpád-Geschlechts, die bis ins 13. Jahrhundert im Gebrauch war. Sie steht heute auch im Parlament unter den zwölf historischen Fahnen Ungarns. Die Partei der Pfeilkreuzler wählte nach 1933 diese Fahne, weil man in ihr die "echten Wurzeln des wahren Magyarentums" gegen den dekadenten kapitalistischen Westen erblickte - alle späteren ungarischen Herrscher und ihre Fahnen kamen nämlich aus Westeuropa, nur das Geschlecht der Árpáden galt als "urmagyarisch". Die Árpád-Streifen wurden jedoch nach 1944 auch zum Symbol für die Massenmorde der Pfeilkreuzler, weil deren Parteimiliz Armbinden mit Árpád-Streifen trug.
Seit 2002 kommt die Fahne immer mehr in Gebrauch. Die Träger gehören ausschließlich dem rechten bzw. ultrarechten Lager an. Sie berufen sich darauf, dass die Fahne nur ein halbes Jahr lang von den Pfeilkreuzlern "missbraucht" worden sei, deshalb sei es Hysterie, wenn die Fahne ausschließlich mit dieser Epoche in Verbindung gebracht werde. Allerdings reflektieren sie die Tatsache nicht, dass die meisten Veranstaltungen, bei denen die Fahne erblickt wird, EU-feindliche, nationalistische, rassistische und antisemitische Züge tragen und damit von der Botschaft der Pfeilkreuzler nicht mehr weit entfernt sind.
Über die Nutzung der Árpád-Fahne findet keine Diskussion zwischen den politischen Strömungen statt. Die Sozialisten und die Liberalen lehnen die Fahne natürlich ab. Die konservative Partei Fidesz versucht einerseits die Fahne von eigenen Veranstaltungen fernzuhalten, unterlässt jedoch in auffallender Weise jede Kritik an der Nutzung der Fahne, weil sie ihrer rechten Wählerklientel kritische Fragen ersparen will. Mit der stillschweigenden Duldung der Fahne werden jedoch auch solche Ideen in der ungarischen Politik hoffähig, die mit der demokratischen Ordnung nicht kompatibel sind. Um dieses Problem zu lösen, wird versucht, der Fahne eine doppelte Bedeutung zu geben bzw. sich nur an bestimmte Teile der Symbolik zu erinnern.
Ein ähnlicher Prozess ist auch bezüglich des Turul-Vogels festzustellen. Der heilige Vogel der ungarischen Genealogie wurde mit dem erwachenden ungarischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufen und verkörperte die militärischen Tugenden der Nation. Dementsprechend wurde er während des Ersten Weltkriegs und danach als Krönung der Heldenfriedhöfe und als Militärsymbol genutzt. Das Stadtbild in Budapest ist von vielen Gedenkstätten mit dem Zeichen des Turul-Vogels geprägt, und auch auf dem Lande findet man verschiedene Turul-Installationen, die teils vor, teils nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Allerdings kam nach 1933 eine neue Nutzung dazu, weil mehrere nationalsozialistische Parteien, darunter auch die Pfeilkreuzler, den Vogel zum Symbol erwählten. Auch ein Verband benannte sich nach 1920 nach dem Turul-Vogel: Der Turul-Verband war eine Organisation der durch antisemitische Schlägereien berüchtigten "christlichen" Universitätsstudenten.
Im Jahr 2005 ist im Budapester XII. Bezirk eine neue Turul-Gedenkstätte für die im Zweiten Weltkrieg verstorbenen Bürger des Bezirks (ca. 400 Personen, davon um die 80 Prozent Ziviltote) eingeweiht worden. Die Gedenkstätte wurde zum Brennpunkt politischer Kundgebungen: Die Befürworter argumentierten, dass es seit 1945 nicht möglich gewesen sei, an die Gefallenen öffentlich zu erinnern und sie zu ehren. Diese Argumentation übersah jedoch, dass der Turul-Vogel dafür ein fragwürdiges Symbol ist. Wenn es um die zivilen Opfer geht, dann stimmt die Botschaft nicht, denn diese fielen nicht für Volk und Vaterland, sondern wurden unschuldige Kriegsopfer. Falls die Installation für die militärischen Opfer stehen sollte, dann stellt sich die Frage, inwieweit der Kampf an der Seite der deutschen Wehrmacht und der ungarischen Nazis als "Verteidigung des Vaterlandes" interpretiert werden kann. Die Situation wird dadurch weiter verkompliziert, dass die meisten Kriegsopfer des Bezirks wegen ihrer jüdischen Abstammung von ungarischen Nazis im Januar 1945 ermordet wurden - von Personen also, die den Turul-Vogel als Symbol gerne genutzt haben. Der sinnlose Tod der Zivilopfer und der politisch Verfolgten wird dadurch geradezu verhöhnt.
Zusammenfassung
Der Turul-Vogel ist wie die Árpád-Fahne und das "Terrorhaus" ein Symbol für einander ausschließende Erinnerungen. Diese Symbole dienen als Kulissen für die selektive Wahrnehmung der nationalen Geschichte. Die Erinnerungskultur in Ungarn ringt seit der Transformation von 1989 um eine mehrheitsfähige, gültige Geschichtsinterpretation und kreist im Wesentlichen um die Aufrechnung der Verbrechen der ungarischen Nazis mit denen der Kommunisten. Dabei spielt die Verherrlichung und Entlastung der eigenen Nation eine wichtige Rolle.
Solange die politischen Parteien nicht bereit sind, die nationale Geschichtsschreibung kritisch zu hinterfragen, dienen die nationalen Gedenkstätten lediglich als Wallfahrtsorte der jeweils eigenen Anhängerschaft. Somit verkörpern Gedenkstätten und Symbole gerade die verkehrte, trennende Funktion in der nationalen Erinnerung, anstatt zu Objekten einer kollektiven Erinnerung zu werden.