Einleitung
Noch bevor sich die gegenwärtige Krise bemerkbar machte, war Ungarns Wirtschaftspolitik ins Zentrum der internationalen und insbesondere der europäischen Aufmerksamkeit geraten. Diesmal aber nicht im positiven Sinn, wie fast kontinuierlich vor der politischen Wende und über fast zwei Jahrzehnte der Transformation sowie während der Vorbereitung auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU): Was ist mit Ungarn geschehen? Wie ist es möglich, das das frühere "Modell" zum "Schlusslicht" im regionalen Vergleich geworden ist?
In den meisten Berichten musste Ungarn als schlechtes Beispiel für alle Länder Ostmittel- und Südosteuropas herhalten und diente sogar im breiten internationalen Rahmen den Ländern, die sich im Aufholprozess befinden (emerging markets), als Schulbeispiel einer grundsätzlich verfehlten Wirtschaftspolitik. Viele haben den Zusammenbruch der Wirtschaft, den unbegrenzten Tiefflug der Währung oder gar den "Staatsbankrott" vorausgesagt. In Ungarn selbst gab es verantwortungslose politische Kräfte, die nicht nur für alles - einschließlich der Ausbreitung der globalen Krise auf Ungarn - die seit 2002 amtierende und gegenwärtig ihr zweites Mandat ausfüllende Regierung verantwortlich machten, sondern sogar ernsthaft die Vorteile der EU-Mitgliedschaft und die Richtigkeit des zwei Jahrzehnte langen Transformationsprozesses in Zweifel gezogen.
Paradoxer Weise hat die globale Krise, die sich seit dem Herbst 2008 in Europa ausbreitet, alle Fragen relativiert. Natürlich hat die Krise auch Ungarn stark betroffen. Doch es hat sich herausgestellt, dass selbst Länder, die einst als krisenfest galten und zweifellos eine vernünftigere Wirtschaftspolitik verfolgten, mitgerissen werden. Es hat sich herausgestellt, dass das Wirtschaftswachstum überall einbricht, die Exporte und die Industrieproduktion dramatisch fallen und nationale Währungen trotz unterschiedlicher makroökonomischer Indikatoren noch mehr an Wert verlieren als der Forint (etwa der polnische Zloty). Dabei geraten neue und qualitative Merkmale zum Vorschein, etwa die Krisenfestigkeit oder -anfälligkeit der Volkswirtschaften, die Widerstandsfähigkeit der sozialen Gefüge oder die Reformbereitschaft oder -müdigkeit der einzelnen Länder.
Dieser Aufsatz beschränkt sich auf die Auswirkungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf Ungarn. Im Vordergrund steht die Frage nach der Krisenanfälligkeit (vulnerability) der ungarischen Wirtschaft, die einen guten Ausgangspunkt für tiefer gehende wirtschaftspolitische Analysen liefert.
Das wirtschaftliche Umfeld vor der Krise
Internationale Organisationen und Experten können die Falle einer "Modellbildung" häufig nicht vermeiden. Sie brauchen "Modelle", um Prioritäten bewiesen zu sehen oder aber "Modelle" einer Reihe von Ländern anzubieten und ihnen sogar aufzuzwingen, unabhängig von den unterschiedlichen historischen, politischen, wirtschaftlichen, institutionellen und sozialen Faktoren. Jede Modellbildung birgt erhebliche Gefahren. Erstens stellt sie eine riskante Vereinfachung dar, wenn Länder und Wirtschaftspolitiken in eine "gute" und in eine "schlechte" Gruppe eingeteilt werden. Denn in der Tat weisen alle Länder positive wie negative (wachstums- und kohäsionsfördernde wie -hemmende) Elemente in ihrer Wirtschaftspolitik auf. Aufgrund unterschiedlicher Merkmale kann man Ranglisten von Ländern aufstellen. Zweitens birgt die Modellbildung eine Gefahr für das Land, das als "Modell" vorgestellt wird, denn es könnte sich herausstellen, dass die Entwicklung einen anderen Weg nimmt, das internationale Umfeld sich ändert oder aber andere Länder zu besseren Leistungen fähig sind. Drittens verspricht die Übernahme eines "Modells" eine leichte Wahl: Man müsse nur das Modell imitieren, um sich den Schweiß und die Qualen zu ersparen, die für eine nachhaltige Entwicklung unentbehrlich sind.
Trotz der weit verbreiteten Meinung war Ungarn nie ein "Modell" für andere Länder. Es hatte allerdings seine wirtschaftlichen Spielräume im Sozialismus gut genutzt und sich damit nach der politischen Wende vorübergehende, relevante Vorteile verschaffen können: marktgerechte Privatisierung, Öffnung für ausländisches Kapital, bessere juristische und institutionelle Rahmenbedingungen, mikrowirtschaftliche "Reife", Offenheit der Gesellschaft dank Reisefreiheit. Zahlreiche dieser Vorteile haben überlebt, und sie wirken heute noch in der mikrowirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der Qualität der Auslandsinvestitionen oder im Technologieexport nach. Andere Vorteile, die im geteilten Europa ein wichtiges Plus bedeutet hatten (etwa Spielräume für "Unternehmen"), kehrten sich bald ins Negative um und stellen heute große Barrieren für eine nachhaltige und wettbewerbskonzentrierte Entwicklung dar, etwa die hohe Zahl von "Zwangsunternehmern", welche die Regeln der Marktwirtschaft nicht beachten, aber über nicht zu unterschätzende Einflussmöglichkeiten nicht nur auf die Wirtschaftspolitik zu verfügen scheinen.
Der schon vor 1989 erhebliche und immer weiter zunehmende Öffnungsgrad der ungarischen Wirtschaft war ein Gebot der wirtschaftlichen und geographischen Realitäten. Eine kleine Volkswirtschaft kann hohe Wachstumsraten nur dann erzielen, wenn sie sich auf überdurchschnittliche Wachstumsfaktoren, wozu über Jahrzehnte lang der Außenhandel gehörte, stützt. Ohne eine Liberalisierung des Kapitalmarktes ist es für ein mittelmäßig entwickeltes Land im Sog der technologischen Revolution kaum möglich, aus der historisch geerbten Kapitalknappheit eine Tugend zu machen. Schließlich war die Mitgliedschaft in der EU von Anfang an nicht nur ein wirtschaftliches, sondern vor allem ein (sicherheits-)politisches Ziel aller ungarischen Regierungen. Mit unterschiedlicher Akzentuierung und mit Zeitverschiebung haben sich die meisten ostmitteleuropäischen Länder diesen Prioritäten verpflichtet; schon deshalb kann man nicht von einem "ungarischen Modell" sprechen.
Doch bereits als die ererbten (oder früher ausgearbeiteten) Vorteile in zahlreichen Bereichen Früchte trugen, beging man schwer wiegende wirtschaftspolitische Fehler. Während die erste demokratisch gewählte Regierung die wirtschaftspolitischen Entscheidungen entideologisiert hatte, stand die Zerschlagung der leistungsfähigen Landwirtschaft ganz im Zeichen der Ideologie. Auch das Einfrieren der Wirtschaftskontakte mit der Sowjetunion und mit den wichtigsten Nachfolgestaaten, vor allem Russland, kann kaum als Komponente eines erfolgreichen "Modells" bezeichnet werden. Nach der erfolgreichen Stabilisierung der Wirtschaft durch das Sparpaket von Lajos Bokros, 1995 Finanzminister, haben mehrere Regierungen schwer wiegende Fehler begangen. Der größte bestand in der Vernachlässigung von strukturellen Reformen (etwa im Gesundheits- und im Bildungswesen, in der öffentlichen Verwaltung, in der Steuerpolitik, auf dem Arbeitsmarkt); eine Rentenreform wurde 1997 vollzogen, nach 1998 aber wieder revidiert. Das 2006 ausufernde Haushaltsdefizit war bei weitem nicht das Produkt eines Jahres, seine Wurzeln reichen in das Jahr 2000 zurück, als die Regierung angesichts des verlangsamten Wachstums in Westeuropa den Akzent auf die künstliche Belebung des Binnenmarktes legte, mit großzügiger Unterstützung des Wohnungsbaus und von Klein- und Mittelunternehmen, deren Wettbewerbsfähigkeit zumindest fragwürdig war. Beides hat zum Haushaltsdefizit beigetragen. Darüber hinaus verkündete die Nationalbank eine antiinflationäre Politik des harten Forint, die exporthemmend und importfördernd wirkte und nur durch überhöhte Zinsen aufrechtzuerhalten war. Aufgrund wirtschaftlicher Rationalität begannen sowohl Unternehmen als auch Individuen, sich in ausländischen Währungen mit weit besseren Zinsbedingungen zu verschulden.
Die Liste der schlechten Prioritäten muss ergänzt werden durch Maßnahmen, mit denen man im Prinzip einverstanden war (etwa die rasche Erhöhung der Gehälter im öffentlichen Dienst, um die Qualität der Verwaltung zu verbessern, ferner übersteigerte Sozialausgaben, um die soziale Kohäsion zu stärken, oder der Autobahnbau, der Ungarns europäische und regionale Wettbewerbsfähigkeit erhöhen sollte). Doch diese Prioritäten haben die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft überfordert, so dass die Verwirklichung der Ziele 2006 zu einem Haushaltsdefizit geführt hat, das durch einheimische Ersparnisse nicht finanziert werden konnte und das die internationale Finanzwelt nicht mehr finanzieren wollte. So entstand die erste, hausgemachte Krise in Ungarn, etwa zwei Jahre, bevor die globale Finanz- und Wirtschaftkrise den europäischen Kontinent erfasste.
Auswirkungen der globalen Krise
Die Haushaltskrise, die sich mit einem Staatsdefizit von 9,2 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) manifestierte, rief im Herbst 2006 einen Sanierungsplan auf die Bühne, der sich auf höhere Einnahmen, aber vor allem auf zurückgehende Staatsausgaben konzentriert. Das durchschnittliche Einkommen der Bevölkerung sank um 1,8 % (2007), die staatlichen Investitionen um 20 bis 30 %; das Wachstum ging auf weniger als 2 % zurück. Demgegenüber stieg die Ausfuhr um 14 %, und die Investitionen im verarbeitenden Gewerbe verzeichneten ein Plus von fast 25 % - Belege für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. In weniger als zwei Jahren, bis zum Vorabend der Krise in Europa, konnte man das Haushaltsdefizit halbieren. Doch einerseits wurde das Defizit von 4,5 % noch immer als zu hoch eingeschätzt (wie üblich, haben internationale "Experten" nur auf Zahlen, nicht auf Prozesse geschaut). Andererseits war es wahrscheinlich wichtiger, dass der allgemeine Liquiditätsengpass alle externen Finanzierungsquellen ausgetrocknet hat. Im Gegensatz zur Krisenbewältigung zwischen 2006 und 2008 wurden dieses Mal alle Sektoren der Wirtschaft, einschließlich des Wachstums, der Investitionen, des Außenhandels und der Kapitalströme, hart getroffen. Diese zweite Krise ist jedoch keine ungarische, sondern eine weltweite, und deshalb wird auch über die Sanierungsmaßnahmen größtenteils nicht von der ungarischen (Wirtschafts-)Politik entschieden. Doch kann der gegenwärtige Stand der Wirtschaft Orientierungspunkte bestimmen, in welchen Bereichen und wie tief die globale Krise Ungarn treffen wird. Dazu dient eine Analyse der Krisenanfälligkeit, die im Folgenden auf vier Ebenen durchgeführt wird.
Zeitfaktor: Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern hat Ungarn seit 2006 zwei Krisen erlebt, eine hausgemachte und eine globale. Diese Tatsache hat erhebliche Folgen sowohl für die reformpolitischen Pläne der Regierung wie für die Erwartungen der Bevölkerung. Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány beteuerte noch am Vorabend der globalen Krise, dank der erfolgreichen Haushaltskonsolidierung befinde sich die ungarische Wirtschaft auf einem bescheidenen, aber spürbaren Wachstumspfad; weitere schmerzhafte Korrekturen bei den Staatsausgaben seien nicht erforderlich. Er hatte sich jedem Gedanken widersetzt, weitere Strukturreformen durchzuführen und Sozialausgaben zu kürzen - politisch verständlich nach dem Debakel des Referendums im März 2008, als die Ungarn mit überwältigender Mehrheit gegen die bereits in Kraft getretenen Gebühren im Gesundheits- und Hochschulwesen votierten, sowie angesichts der labilen innenpolitischen Lage, aber unhaltbar angesichts der wirtschaftlichen Zwänge vor und unabhängig von der globalen Krise. Die Bevölkerung schien der Reformen überdrüssig geworden zu sein, teilweise infolge einer demagogischen Politik der Opposition, die das negative Referendum als "Wertschätzung" der Ungarn bewertet hat, wo es sich doch um eine eindeutige "Selbsttäuschung" handelte.
Dabei hatte ein Großteil der Gesellschaft die "milde Austerität" der Haushaltssanierung von 2006 relativ gut überstanden, sowohl aufgrund früher akkumulierten Vermögens als auch dank einer jahrzehntelangen "innovativen" Praxis der Steuerhinterziehung. Die meisten Ungarn glaubten fest daran, dass die Krise vorüber sei. Diese Selbsttäuschung, der sich sowohl die Regierung als auch die Bevölkerung hingab, wurde vom brutalen Einschlag der globalen Krise in wenigen Tagen im Oktober 2008 zerschlagen. Beide standen nun vor der Herausforderung, ihre Illusionen aufzugeben und eine neue Strategie zu entwickeln, deren Erfolg grundsätzlich von globalen und nicht von einheimischen Entwicklungen bestimmt wurde.
Finanzpolitische Krisenanfälligkeit: Im Oktober 2008 durchlebte die ungarische Wirtschaft dramatische Tage - nur dank eines raschen Unterstützungspakets des IWF, der Weltbank und der Europäischen Zentralbank in Höhe von 25 Mrd. Dollar hat sie diese überlebt. Die Finanzierung des inzwischen halbierten Haushaltsdefizit wurde eingestellt, ungarische Staatsanleihen konnten nicht mehr auf den internationalen Märkten verkauft werden. Hinzu kam der rasante Abfluss des in Ungarn gehaltenen (und meist auch hier erwirtschafteten) Vermögens ausländischer Banken, die mehr als 80 Prozent des ungarischen Bankenwesens ausmachen. Mehrere ausländische Tochterbanken hatten die Order erhalten, ihr meist in ungarischen Staatsanleihen vorhandenes Vermögen in Euro zu tauschen und an die Mutterbanken zu transferieren - nicht, weil diese Vermögen irgendeinem Risiko in Ungarn ausgesetzt gewesen wären, sondern weil die Mutterbanken ums Überleben rangen.
Wenn die Bevölkerung auch in einheimischer Währung gespart hätte, könnte man die immer noch vorhandene Haushaltslücke durch dieses Geld decken. Dies war jedoch nicht der Fall. Die ungarische Bevölkerung hatte sich in ausländischen Währungen verschuldet, teilweise in dem Bewusstsein, dass die Haushaltskrise bald vorbei sein würde und sich alle früheren Krisen weit milder ausgewirkt hatten als vorausgesagt. Nicht zuletzt gab es Reserven, die immer wieder dem Fiskus entzogen und verborgen blieben. 2007, als die Haushaltssanierung zu einem realen Einkommensverlust von 1,8 % führte, erhöhte sich der ausländische Schuldenstand der Bevölkerung um 30 %. Es bleibt ungewiss, wie viel davon der laxen Kreditpolitik der Banken und wie viel den verborgenen Reserven und den berechtigten oder falschen Erwartungen der Kreditnehmer hinsichtlich der Dauer und Tiefe der hausgemachten Krise zuzuschreiben war. Da aber jede Haushaltsschuld der Deckung durch ausländische Währungen (meist Euro) bedurfte, erhielt Ungarn aufgrund des globalen Liquiditätsengpasses keine Mittel mehr.
Erst jetzt zeigten sich die Folgen einer von Anfang an verfehlten Geldpolitik der Nationalbank, die alle Kreditnehmer (Unternehmer wie Individuen) zur Verschuldung in ausländischen Krediten ermutigt hatte, mit voller Schärfe. Einen Beweis dafür liefert die offizielle Statistik der Nationalbank. Die Auslandsverschuldung betrug Ende 2008 rund 119 Mrd. Euro; die Nettoverschuldung belief sich auf 56 Mrd. Euro. Letztere stellt etwas mehr als die Hälfte des BIP und 75 % des Exportwertes dar; das waren noch weit bessere Werte als zu Beginn der Transformation, als die Verschuldung drei Jahresexporten entsprach. Noch wichtiger ist indes die Struktur der Verschuldung. Im Gegensatz zur schwierigen Lage vor zwei Jahrzehnten, als praktisch die gesamte Außenverschuldung von der Regierung und der Nationalbank verursacht wurde, betrug der Anteil dieser Akteure an der gesamten Nettoverschuldung Ende 2007 nur mehr ein Drittel, Ende 2008 weniger als ein Viertel.
Einen anderen Bereich der finanzpolitischen Krisenanfälligkeit stellt die Entwicklung des ungarischen Haushaltes dar. Um einen nachhaltig ausgeglichenen Haushalt zu erzielen und die Maastricht-Kriterien einzuhalten, wird es nicht genügen, nur die Ausgabenstruktur zu ändern. Wenn die Einnahmeseite nicht in Ordnung gebracht wird, sind weder die Strukturreformen der Ausgaben kurzfristig zu finanzieren noch ist eine wirtschaftlich, sozial und nicht zuletzt moralisch gerechtere Umverteilung der Einkommen und Vermögen zu sichern. Internationale Erfahrungen haben gezeigt, dass fundamentale Strukturreformen in der Anfangsphase mehr und nicht etwa weniger Geld erfordern, denn die vorübergehenden Kosten der Umverteilung, die durch Reformen im Gesundheitswesen, in der öffentlichen Verwaltung und im Bildungswesen entstehen, müssen durch zusätzliche Ausgaben aufgefangen werden. Die positiven Wirkungen der Reformen zeigen sich erst mittel- und langfristig. Nach jahrzehntelangem Nichtstun oder bestenfalls "Zögern" sowie (halbkorrupter) Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen zwischen Politik und Wirtschaft ist es dringend erforderlich, das Steuersystem gerechter und transparenter zu gestalten. Hintertüren müssen geschlossen, Abschreibungsmöglichkeiten begrenzt und Kontrollen verschärft werden.
Wirtschaftspolitische Krisenanfälligkeit: Die Debatte um die Offenheit und die Spezialisierung der ungarischen Wirtschaft dauert bereits seit Jahren. Erstens hat sich die ungarische Wirtschaft, wie fast alle anderen, die in der Vergangenheit rasch wuchsen, erfolgreich in die internationale und europäische Arbeitsteilung integriert. Drei Viertel des BIP werden exportiert, ebensoviel wird importiert. Damit erreicht der Öffnungsgrad 150 %, etwas weniger als in Tschechien und der Slowakei, aber auch weniger als in den Niederlanden, Belgien oder Irland. Die gegenwärtige Krise hat nicht nur den Finanzsektor und das Wachstum der entwickelten Länder stark in Mitleidenschaft gezogen, sondern zum ersten Mal seit Jahrzehnten auch den Außenhandel. Es kann nicht verwundern, dass auch die stark außenhandelsabhängige ungarische Wirtschaft unter der Krise leidet. Der Außenhandel, lange Jahre die Stütze des Wachstums, sank um 30 % in den ersten beiden Monaten 2009 (mit ähnlichen Daten für Ausfuhr und Einfuhr). Dieser Rückgang hat nichts mit der ungarischen Wirtschaft, sondern mit der dramatischen Verschlechterung des internationalen Umfelds zu tun.
Kann man deshalb die Öffnung und Offenheit der Wirtschaft und die damit verbundenen Entscheidungen der Politiker für diese Situation verantwortlich machen? Hätte Ungarn eine Alternative gehabt, und wenn ja, mit welchen Folgen? Es gab Länder, die sich aus ideologischen oder anderen Gründen weniger geöffnet hatten und deswegen "geschützter" vor der Krise erscheinen mögen. Manche sind sogar stolz auf ihr bescheidenes "Ausgeliefertsein gegenüber internationalen Entwicklungen". Ohne die Spielräume von kleinen Nationalstaaten im 21. Jahrhundert diskutieren oder die "Souveränität" nationaler Volkswirtschaften hier behandeln zu wollen: Man kann feststellen, dass offene Volkswirtschaften - durch den Außenhandel und das internationale Kapital - zuletzt ein erheblich höheres Wachstum und Einkommen sowie einen besseren Lebensstandard in den vergangenen beiden Jahrzehnten erzielen konnten. Es unterliegt keinem Zweifel, dass - die Entstehung eines weltweiten Protektionismus ausgeschlossen - diese Beziehungen zwischen Wachstum und Außenhandel sowie Auslandskapital nach der Krise wiederhergestellt werden dürften.
Zweitens ist die strukturelle Krisenanfälligkeit der Wirtschaft hervorzuheben. Ungarn hat sich auf moderne und technologieintensive Sektoren konzentriert. In der Ausfuhr stellen Maschinen, Ausrüstungen und Transportmittel einen Anteil von fast zwei Dritteln dar, im Vergleich zu 55 bis 60 % in Tschechien und der Slowakei, 45 % in Slowenien, 40 % in Polen und weniger als ein Drittel in den baltischen Staaten. Die Krise trifft insbesondere die den Export tragenden Sektoren hart, denn sie erfasst langlebige Konsumgüter wie Autos, elektronische Erzeugnisse, Anlagen der Telekommunikation oder Haushaltsmaschinen überdurchschnittlich stark. 2008 entfiel über die Hälfte des Exportabsatzes der verarbeitenden Industrie auf Transportmittel (27 %) und elektronische, optische und rechentechnische Produkte (26 %). Darüber hinaus spielen elektrische Anlagen und metallverarbeitende Produkte (je 7,4 %), Kunststoffprodukte (5,2 %) und Maschinen (4,5 %) eine wichtigere Rolle als die Ausfuhr von Lebensmitteln (4,3 %).
Hätte Ungarn eine andere Wirtschaftsstruktur entwickeln sollen? Und wenn ja, welche, und mit welchen Unternehmern und Partnern? Ähnlich wie Tschechien und die verspätete, aber erfolgreiche Slowakei hat Ungarn in zwei Jahrzehnten eine industrielle Produktionsstruktur entwickelt, die kein anderes Transformationsland vorweisen kann und von der einige noch immer träumen (Südosteuropa, aber auch das Baltikum, mit der vorsichtigen Ausnahme von Estland). Die Konzentration auf ausländisches Kapital, das neue Strukturen, kaufkräftige Absatzmärkte und nicht zuletzt führende Technologien nach Ungarn brachte (zusammen mit einer Reihe von Forschungs- und Entwicklungszentren, die in den meisten Transformationsländern weiterhin fehlen), war keine Sackgasse, selbst wenn die gegenwärtige Krise eben diese Sektoren überdurchschnittlich trifft.
Drittens ist die vermögensbedingte Krisenanfälligkeit der ungarischen Wirtschaft in den Mittelpunkt mancher (populistischen) Diskussionen geraten. Die ungarische Wirtschaft weist einerseits hoch moderne und leistungsfähige transnationale Unternehmen auf, andererseits eine Vielzahl von kaum wettbewerbsfähigen und vom internationalen Markt abgekoppelten kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU). Manche sind global wettbewerbsfähig, während andere sich erfolgreich in das internationale Zulieferernetz der multinationalen Unternehmen integrieren konnten. Wieder andere bieten nur lokale Dienstleistungen an. Darüber hinaus gibt es einen hohen Anteil von überlebenden Alt-"Unternehmen", die allen Transformations- und Integrationszwängen getrotzt haben, doch in der globalen Krise kaum werden überleben können. Man sollte bedenken, dass die ungarischen KMU nicht dem Erfolgsweg österreichischer, bayerischer oder norditalienischer Firmen folgen können, denn zum einen hatten sie eine allzu kurze Entwicklungszeit, um sich zu einem größeren, wettbewerbsfähigen Unternehmen zu wandeln. Zum zweiten wurde der Entwicklungspfad von Anfang an durch eine allgemeine Handels- und Kapitalliberalisierung begleitet, und verheißungsvoll wachsende Firmen mussten sich sehr bald internationaler Konkurrenz stellen. Zum dritten haben die meisten ungarischen "Unternehmer" keine Mentalität einer langfristigen Firmenentwicklung: Steuerminimierung (oder gar -hinterziehung) ging einher mit persönlicher Verschwendung, anstatt den erwirtschafteten Gewinn vollständig oder zum großen Teil wieder in das Unternehmen zu investieren.
Viertens soll die Wirtschaftspolitik erwähnt werden. Aus Kreisen der Opposition hört man seit langem, dass der Ausweg aus der Krise die (willkürliche bzw. künstliche) Belebung des Wachstums sei. Nur durch höheres Wachstum und entsprechend zunehmende Beschäftigung könne man finanzielle Engpässe begrenzen oder gar beseitigen. Die von der Regierung gewählte Stabilitätspolitik sei eine Sackgasse. Diese mit demagogischen Parolen verkündete "Strategie" entbehrt jedoch jeder Realität. Abgesehen davon, dass Wachstum nicht immer automatisch mit mehr Beschäftigung einhergeht, befindet sich die ungarische Wirtschaft im Augenblick nicht in einer Lage, in der man Spielräume gestalten und ausnutzen könnte. Jedes zusätzliche Loch im Haushalt, das eine künstliche Belebung sofort mit sich brächte, würde die delikate Abhängigkeit von ausländischem Kapital erneut ins Rampenlicht stellen. Infolge der hohen Auslandsverschuldung, dem Mangel an einheimischen Ersparnissen und der globalen finanziellen Unsicherheiten kann sich die ungarische Wirtschaft jene Versuche nicht leisten, die sich zahlreiche europäische Länder - mit unsicheren Konsequenzen - erlauben. Selbstverständlich kann man Spielräume erweitern, wenn entweder die Haushaltsausgaben noch drastischer zurückgeschraubt werden oder die Bevölkerung bereit wäre, mehr zu sparen und dementsprechend ihren Lebensstandard zu reduzieren. Als weiteren Faktor ist der Zugang zu zusätzlichen externen Ressourcen zu erwähnen, etwa die Beschleunigung der EU-Transfers.
Die im vergangenen halben Jahr erfahrene Forint-Abwertung (parallel zu den Währungen Tschechiens, Polens und Rumäniens) könnte die Stütze einer exportorientierten Wirtschaftsstrategie bilden. Es ist kaum vorstellbar, dass eine Abwertung von 25 Prozent nicht zusätzliche Absatzchancen in drei Bereichen öffnet: erstens in allen Euro-Mitgliedstaaten gegenüber Anbietern der Eurozone, zweitens auf Drittmärkten, wo man mit Exporteuren der Eurozone konkurriert, und drittens auf dem Binnenmarkt, wo sich die Absatzposition der einheimischen Produzenten gegenüber importierten Waren und Dienstleistungen verbessert. Ob diese währungsbedingten Vorteile nur auf dem Papier stehen oder aber die Wirtschaftskrise im stark exportabhängigen Ungarn dämpfen können, hängt sowohl vom Verhalten und der Vorbereitung der Unternehmen als auch von der Ausarbeitung und Implementierung einer entsprechenden Wirtschaftsstrategie ab.
In den vergangenen fünf Jahren der EU-Mitgliedschaft hat Ungarn seine Wettbewerbsfähigkeit trotz binnenwirtschaftlicher Schwierigkeiten wahren können. Sein Marktanteil auf den EU-Märkten ist gestiegen (wenn auch nicht so dynamisch wie der von Tschechien, Polen oder der Slowakei). Noch wichtiger ist, dass das erste halbe Jahrzehnt der Mitgliedschaft eine zunehmende Orientierung auf Märkte außerhalb der EU mit sich brachte, so dass dieser Anteil von 18 auf 22 Prozent stieg. Dahinter steht die (Wieder-)Entdeckung wichtiger Märkte wie Russland, China und des westlichen Balkans. Während der Anteil der EU-15 am ungarischen Gesamtexport von 74 auf 57 Prozent sank, verdreifachte sich der Anteil der neuen Mitgliedstaaten an der Ausfuhr (von 7,5 auf 21 Prozent zwischen 2003 und 2008). Vielleicht das wichtigste Merkmal der Wettbewerbsfähigkeit besteht darin, dass das (früher traditionelle) Außenhandelsdefizit mit den neuen Mitgliedstaaten (etwa 500 Mio. Euro im Jahr 2003) zu einem Überschuss von 4,5 Mrd. Euro 2008 wurde. Darüber hinaus hat Ungarn - als einer der wenigen neuen Mitgliedstaaten - auch gegenüber den EU-15 einen erheblichen Überschuss (2,8 Mrd. Euro 2008) erwirtschaften können. Die Tatsache, dass in den Krisenjahren das früher auf mehrere Milliarden Euro aufgelaufene Handelsdefizit im Jahre 2008 vollständig beseitigt und ein Gleichgewicht zwischen Export und Import erzielt werden konnte, bleibt in allen Analysen unbeachtet.
Mentale Krisenanfälligkeit: Neben den notwendigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen spielt auch der mentale Zustand der Gesellschaft eine zentrale Rolle bei der Überwindung der Krise und der Gestaltung der Nach-Krise-Periode. Bedauerlicherweise zeugten die vergangenen Jahre von einer zunehmenden mentalen Krisenanfälligkeit der Gesellschaft.
Erstens muss das mangelnde Krisenbewusstsein hervorgehoben werden. Ungarn hat mehrere Krisen durch- und überlebt und sie entweder mit niedrigen Kosten oder innerhalb einer kurzen Periode gemeistert. Auch das Notstandsprogramm vom Oktober 2006 wurde in diese Kategorie eingereiht. Erst als klar wurde, dass sich die Situation infolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise fundamental verändern würde, war eine bescheidene Erhöhung des Krisenbewusstseins zu verzeichnen.
Zweitens bewies die Gesellschaft zuletzt einen recht niedrigen Grad von Reformwilligkeit. Alle sprachen zwar über die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit von Reformen, doch alle wollten damit bei den gesellschaftlichen Gruppen beginnen, denen sie nicht selbst angehören. Vom Anfang an hat die innenpolitische Rivalität jeder ernsthaften Reformdiskussion den Boden entzogen. Sowohl Politiker der Regierungskoalition als auch die Opposition haben die Meinung vertreten, dass Ungarn keine Reformen brauche, und wenn doch, dann seien sie eine Gräueltat von Abenteurern gegen die gesamte Bevölkerung. Es überrascht nicht, dass alle Reformen schon in der ersten Phase gestoppt, oder, wie im März 2008, infolge eines Referendums zum Scheitern verurteilt wurden. Die globale Krise mit ihrem beispiellosen Reformzwang könnte an dieser Situation etwas ändern.
Drittens leidet ein Großteil der Bevölkerung am Fehlen einer mehr oder weniger klaren Zukunftsvision. Die Enttäuschung über die versprochenen, erhofften (und auch erreichten) positiven Ergebnisse des Systemwandels und über sofortige, positive Folgen des EU-Beitritts - möglichst ohne eigene, vom Markt anerkannte Leistung - hat sich zuletzt rasch verbreitet, wieder einmal mit Unterstützung demagogischer Politiker. Die Desillusionierung ist umso gefährlicher, weil sie kein Vakuum schafft, sondern Erwartungen hervorruft, die dieses Vakuum mit einer Rückkehr in die "glorreiche" Vergangenheit verknüpfen wollen. Von der Bühne zweifelhafter Persönlichkeiten bis zu eindeutigen Kriegsverbrechern führt ein direkter Weg zu Nationalismus, Antisemitismus, Xenophobie, Extremismus und Ausländerfeindlichkeit, ganz zu schweigen von der Verurteilung der Marktwirtschaft, der Bankiers, der transnationalen Unternehmen und aller Elemente, die das "arme ungarische Volk ausbeuten".
Viertens besteht zwei Jahrzehnte nach der politischen Wende noch immer ein klarer Gegensatz zwischen demokratischen Rechten und individueller Verantwortung. Die Wende hat den auf zwei Pfeilern ruhenden und der Gesellschaft Ende der 1940er Jahre mit der kommunistischen Machterlangung aufgezwungenen Kompromiss beseitigt. Dieser bestand aus einem Mangel an demokratischen Rechten der Gesellschaft im Tausch für ausgedehnte staatliche Vormundschaft (von kostenlosen Dienstleistungen im Gesundheits- und Bildungswesen über eine großzügige Wohnungspolitik bis zu subventionierten Preisen). In den "wunderbaren Jahren" der Wende sind die demokratischen Rechte wiederhergestellt worden. Niemand hat jedoch erwähnt, dass Demokratie mit größerer individueller (bürgerlicher) Verantwortung einhergehen muss, anstatt weiterhin alle persönlichen Probleme oder die Konsequenzen schlechter und unverantwortlicher Entscheidungen automatisch an den Staat weiterzuleiten.
Der Ruf nach dem Staat ist sogar stärker geworden. Mehrere Maßnahmen, die angesichts der Krise in den entwickelten Ländern, nicht zuletzt in manchen EU-Staaten ergriffen oder vorgeschlagen wurden, geben den Populisten Rückhalt und entkräften die Argumente der Experten. Es ist fast aussichtslos, wirksame Argumente zu finden, wenn man von der Verstaatlichung von Banken in den USA und in Westeuropa hört, und Parallelen zieht zu der uneingeschränkten Liberalisierung der Banken in den Transformationsländern (die, nach Meinung der Demagogen, zum Ausgeliefertsein und zur "nicht tolerierbaren" Verletzbarkeit der letzteren geführt hatten). Auch die Bevorzugung einheimischer Industrien, um Arbeitsplätze zu erhalten, die nicht wettbewerbsfähige sind, auf Kosten wettbewerbsfähiger Standorte in mehreren ostmitteleuropäischen Ländern birgt die Gefahr eines ideologischen Rückschlags. Schließlich muss die Auswirkung der Krise auf Arbeitnehmer erwähnt werden, die aus den neuen Mitgliedstaaten nach Westeuropa gegangen sind und jetzt - mangels Arbeit oder infolge weiterhin bestehender begrenzenden Regelungen - zurückkehren müssen.
Ungarn war in den vergangenen Jahren durch einen Mangel an Solidarität geprägt. In Krisenzeiten könnte man hoffen, dass sich das Solidaritätsgefühl der Gesellschaft verstärkt. Doch davon war bisher nur sehr wenig zu spüren - ganz im Gegenteil: Auf der politischen Bühne herrscht eine beispiellose Polarisierung. Manche Politiker verwechseln kleinkarierte Machtambitionen mit den grundlegenden Interessen der Wirtschaft und Gesellschaft. Einen Mangel an Solidarität kann man auch auf Seiten der Steuerzahler beobachten, denn jede "innovative" Aktion, wie man Steuern umgeht, ist ein Ausdruck mangelnden Solidaritätsgefühls. Dasselbe gilt aber auch für die andere Seite, wo 43 Prozent der Bevölkerung am Sozialtropf hängen und keinen Beitrag zur Wirtschaftsleistung erbringen.
Vom Ausgang der Krise, nicht zuletzt von der Höhe und Verteilung der Kosten, hängt es ab, inwieweit in der gegenwärtigen Lage das Solidaritätsgefühl in der Gesellschaft gestärkt werden kann. Es stehen zwei Jahrzehnte der Transformation, die zweifellos erreichte Tiefe und Struktur der Modernisierung und die Demokratie insgesamt auf dem Prüfstand.