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Dinge - Bilder - Denken

Reinhard Brandt

/ 20 Minuten zu lesen

Dinge und Personen lassen sich nicht beliebig zu erkennbaren Bildern machen; auch ist das Denken der Bildgebung entzogen. Dazwischen sind die Bilder als Zwischenwesen und Medien angesiedelt: im Bereich des äußeren Sehsinnes wie der inneren Imagination.

Einleitung

Schon die Natur spielt uns die ersten Bilder zu, das Spiegelbild im Wasser oder die Fata Morgana in der Luft; und in der Flamme des Lagerfeuers sehen wir Kopf und Hörner des Wahrhaftigen. Narziss sieht sich im Quellwasser und ruft erstaunt aus: "Der dort bin ich." Natürlich ist er es nicht, sondern er sieht sich selbst im Bild, wie wir wissen. Sich selbst würde er sehen, wenn er seine Arme und Beine und seinen Leib unmittelbar betrachtete. Der Hund in der Fabel des Äsop lässt die reale Beute fahren, um auch noch nach der zweiten, dem Bild im Wasser, zu schnappen. So sehen wir es; der Hund selbst wird nie erkennen, dass es sich um ein Spiegelbild handelte, weil er zwischen Wirklichkeit und Bild nicht unterscheiden kann, sondern lernt, dass es optische Phänomene gibt, denen nachzujagen sich nicht lohnt. Die Fata Morgana ist das Bild einer fernen Oase, das Nähe vortäuscht. Solange der Mensch Opfer der Täuschung ist, sieht und erkennt er das Luftbild nicht als Bild, erst wenn er sich von der Illusion befreit hat, unterscheidet er zwischen der wirklichen Oase und ihrer Spiegelung. Sind bestimmte Formationen in der Flamme oder in den Wolken Bilder, etwa von Gesichtern, wenn wir sie als solche sehen? Und wie steht es mit den natürlichen Traumbildern in szenischer Abfolge, an die wir uns wie an einen Film erinnern können? Nach allen Indizien sind auch Tiere, etwa Haushunde, befähigt zu träumen. Sehen sie im Traum die Szenen einer Jagd? Wir wissen es nicht; das Tier erkennt seine Träume sicher nicht als solche, weder in der Traumsituation noch in der Retrospektive. Der Mensch dagegen erkennt im Traum gewöhnlich nicht die Bilder als Bilder, sondern nimmt sie innerlich als Realität wahr und urteilt erst post festum, dass es bloß Bilder der Phantasie waren, Schreckens- oder Lockbilder oder gefühlsneutrale.



Die natürlichen Bilder des Sehsinnes lassen sich paradoxerweise künstlich produzieren in Form von Lichtbildern oder Fotografien und Filmaufnahmen, also in statischer oder bewegter Form. Bei ihrer artifiziellen Erzeugung bedient man sich bis hin zur Digitalkamera natürlich-kausaler Prozesse. Wie beim Experiment im Labor arrangieren wir die Ausgangsbedingungen, und mit dem "Klick" nimmt die Natur allein hier und dort ihren vorbestimmten Lauf. Daher war es anfangs schwer, den derart zustande gekommenen Bildern den Titel eines Kunstwerks zuzusprechen; der Produzent ist eigentlich die geschickt arrangierte Natur. Durch Retuschen kann man dieser ein wenig nachhelfen, Altersfalten freundlich zum Verschwinden bringen, die Nase etwas menschlicher gestalten und den Blick entschlossener. Beim Original müssen die Chirurgen helfen. Wenn man das Ölgemälde als Bild akzeptiert, dann ist auch das Foto, das nur übermalt wurde, ein Bild, dann aber auch der Reflex im Wasser; eine Zäsur zwischen diesen verschiedenen Stufen ist nicht möglich und nicht nötig, es sei denn, es wird die Wirklichkeit nach der eigenen Theorie geordnet und nicht, wie es doch sein sollte, die Theorie nach der Wirklichkeit.

Zweidimensionale Kunstbilder wie die der Malerei oder auch dreidimensionale Standbilder der Skulptur entstehen traditionell nicht durch eine programmierte Kausalität der Natur, sondern durch eine von einem Menschen gesteuerte Bewegung seines eigenen Körpers unter Zuhilfenahme meist eines statischen Instruments, etwa eines Pinsels, vielleicht auch eines Schwammes oder Meißels, manchmal genügen auch die eigenen Hände. Das gilt auch für die abstrakte Malerei etwa von Gerhard Richter. Aber es gibt auch andere Verfahren: Indianer im Norden Amerikas bildeten den Küstenverlauf durch Einkerbungen in einem Stück Holz ab und hatten dadurch eine erste Landkarte, ein Bild von der Natur. Die ersten Höhlenmaler werden vielleicht keine Pinsel benutzt haben, aber doch etwas Ähnliches; die ersten Idole wurden geschnitzt, aus Lehm mit den Händen geformt oder in Metall gegossen. Masken werden von Maskenbildnern geschnitzt oder geformt. Diese vielfältigen Bilder also entstehen durch die körperlichen Tätigkeiten derjenigen, welche sie herstellen. Die Handlungen der Erzeugung von Kunstbildern sind sozialer Natur; der Produzent will in eine bestimmte Öffentlichkeit der Menschen oder auch Dämonen hineinwirken. Dabei gibt es, so können wir unterscheiden, zwei Richtungen, die eine ist im weitesten Wortsinn magisch, die andere rational. Die magische Richtung beschwört den Betrachter oder Mitakteur etwa in Kulthandlungen, die andere gehört in eine zauberfreie Welt des Erkennens. Sie gibt es nicht erst in der Neuzeit, sondern schon in Frühkulturen, man denke an die witzigen Bilder auf Gegenständen des Alltags. In der Bilderwelt der Magie wohnt, so stellt man es sich vor, in den Bildern eine Kraft, sie sind belebt, sie begehren etwas, sie können Nutzen und Schaden stiften. Hier gibt es die unterschiedlichsten Varianten vom Heiligen- zum Herrscherbild, die teilhaben am Sakralen und deren Herabsetzung geahndet werden kann. Sodann gibt es die erotischen Bilder, die man schon in den Frühkulturen findet; sie dienen weder der bloßen Erkenntnis noch der religiösen Magie, sondern der Stimulierung von Begehren, als ob sie lebendig wären: Pornographie.

Welches Merkmal kommt den Bildern gemeinsam zu?

Nach der kurzen Sammlung von Phänomenen, die umgangssprachlich als Bilder bezeichnet werden, können wir uns umsehen nach Merkmalen, die den Phänomenen jeweils eigen sind; aber auch andere Sachverhalte oder Dinge, die wir nicht erfasst haben, die jedoch über dieselben Merkmale verfügen, sind dazu berechtigt, als Bild bezeichnet zu werden. Eine Vorbemerkung: Wir wollen dabei nicht (wie etwa Umberto Eco) bestimmte Typen der genannten Bilder ausschließen, weil sie nicht in unsere Theorie passen, etwa das Spiegelbild und damit auch die Fotos und die Bilder im Fernsehen. Über das, was zu den Bildern zählt, kann keine Theorie entscheiden (wie dies bei Neuronen und Synapsen oder Quadratwurzeln der Fall ist), sondern nur die Anschauung und der Sprachgebrauch des Alltags.

Den Phänomenen, die als Bilder angeführt wurden, ist folgende Eigentümlichkeit gemeinsam: Sie sind durch den äußeren Sehsinn oder imaginativ visuell (nicht akustisch, nicht durch den Geruchssinn) zugänglich; sie stellen für Menschen etwas sichtbar oder imaginativ dar, ohne das Dargestellte selbst zu sein; so Albrecht Dürers Apostel oder Pablo Picassos Frauenbilder, das Gottes- und das Herrscherbild, die Maske, das Spiegelbild. Der Modus der Gegebenheit ist hier ein durchschautes "Als-ob": als ob also das eine das andere, das Zweite das Erste, wäre. Erst mit der geistigen, den Tieren nicht möglichen Installation dieser Differenz und Beziehung ist es möglich, etwas als Bild zu erzeugen oder zu sehen und vorzustellen. Damit ist alles ein Bild, was wir als eingehegte Darstellung von etwas anderem ansehen, das Gesicht in den Wolken und die monochrome Leinwand in der Ausstellung. Bestimmte Phänomene zwingen uns erwachsene Menschen unweigerlich, sie als Bilder zu sehen und zu erkennen, vom Höhlenbild der Frühzeit zum Passfoto von gestern. Die figurativ gestaltete Oberfläche eines Mosaiks ist als solche kein Bild, aber ich kann ein Stück davon in einer Bilderausstellung aufhängen und es so zum Bild machen.

Vorausetzung für das Begreifen einer sichtbaren oder imaginativen Erscheinung als ein Bild ist immer die Annahme einer pragmatischen Wirklichkeit, die kein Bild ist, etwa das Spiegelglas selbst, in dem man sein Abbild sieht, oder die Person, mit der ich rede oder die diese Zeilen liest. Wir können zwar behaupten, sie alle seien Bilder, aber diese Behauptung lässt sich nur in Wörtern zusammenreimen, sie ist weder gedanklich noch in der Praxis nachvollziehbar. Mit derselben Gewissheit unterscheiden wir den Maler von dem Selbstporträt an der Wand. Hierbei interessiert uns keine Ontologie, die sich immer bezweifeln lässt, sondern diese unausweichliche pragmatische Gewissheit, die man nur auf dem Weg nach Bedlam oder schon in Bedlam ernsthaft leugnen kann ("Ich bin aus Glas", "Ich bin ein Bild"). Erst auf der Folie dieser pragmatischen Gewissheit, dass ich selbst und der Stuhl, auf dem ich sitze, wirklich sind, ist die ikonische Differenz in der bildlichen Darstellung und auch das "lebende, begehrende Bild" (William J. Thomas Mitchell) erfassbar. Bilder gibt es nur in einer Umgebung, die wir nicht zum Bild machen.

Kunstbilder sind aus vielerlei Gründen attraktiv. Einer der Gründe liegt in der Möglichkeit, das Motiv auf etwas Wesentliches zu reduzieren oder eben dadurch zu bereichern, und den Blick des Betrachters zu formieren. Das Bild kann mit der Absicht gemalt sein, das Dargestellte möglichst naturgetreu wiederzugeben; es kann sich auch idealisierend oder karikierend zu ihm verhalten und nicht die optische Erscheinung, sondern etwas Wesentliches präsentieren. Das Bild überformt die Wirklichkeit und gibt eine Anleitung, wie diese zu betrachten ist: der antike Herrscher, göttlich schön und stark; Gott als Patriarch; der heutige Präsident, charakteristisch und sogleich erkennbar; das Bildnis von Willy Brandt im Berliner SPD-Gebäude, es möchte wesentlich sein und wird zur Karikatur.

Unsere Kulturbilder benutzen diese Eigentümlichkeiten in unendlichen Variationen des Scheines und der Zurücknahme des Scheins im Schein, um den Ursprung, das Nicht-Bildliche, Vor-Bildliche der Wirklichkeit durch die fingierte Bildwirklichkeit zu offenbaren oder zu übertrumpfen. Viele Werke, die wir in Bildergalerien sehen, stellen sich in die Differenztradition, heben jedoch im Werk selbst diese Differenz wieder auf. Sie sind nur noch sie selbst, glaubt der Betrachter. Auch das abstrakteste monochrome Bild präsentiert sich in der Bildtradition, die es zugleich zu überwinden trachtet.

Das Bilderverbot

Es lässt sich schon ahnen, wie es zu einem generellen Bilderverbot kommen kann und was es mit der ikonischen Wende auf sich hat. Sie sind zwei Seiten einer Medaille, wie wir sehen werden. Das Bilderverbot möchte die Herstellung von Bildern unterbinden, die ikonische Wende - die Wende oder der kulturelle Wandel zum Bild - sieht Bilder als selbständige Kraft- und Lebenszentren, die einen Reichtum unserer Kultur ausmachen. Das Bilderverbot gibt es im Alten Testament, aber auch bei Platon.

"Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen", steht im zweiten und dritten Gebot der Bibel (2. Mose 20,4). Den Fachuntersuchungen ist zu entnehmen, dass mit dem Bild oder Bildnis hier und an anderen Stellen ein vom Menschen gezeichnetes oder gemaltes, reliefartiges oder plastisches Kultobjekt in Menschen- oder Tiergestalt gemeint ist. Es kann als Plastik aus Metall wie das Goldene Kalb (2. Mose 32), aus Lehm oder auch Holz gefertigt sein und ist wertvoll ausgeschmückt. Das Bilderverbot besagt offenbar nicht, dass man sich keine Vorstellung von Gott machen oder auch in Sprachbildern von ihm reden dürfe, sondern zielt nur auf materiale Machwerke, Bilder, über die die Menschen verfügen und so an die Stelle des lebendigen jenseitigen Gottes setzen, der sich nach eigenem Willen offenbart, Bilder, die eine magische, grundsätzlich vervielfältigbare Repräsentation ermöglichen - daher der innere Zusammenhang des Bildverbots mit dem Verbot anderer Götter im Plural. Das Dreieck Gott - Mensch - Bild Gottes wird nicht als lebendiger Austausch wie etwa im Christentum gesehen, sondern als Unmöglichkeit: Gott lässt sich durch kein Bild vermitteln, weil sich das Bild unweigerlich an seine Stelle setzt und zum Götzen wird. Also gibt es nur das Entweder-Oder der dualen Beziehung Gott-Mensch oder Mensch-Götze.

Die Anbetung des Goldenen Kalbes ist der erste "iconic turn" - die erste ikonische Wende zum Bild - in der Geschichte der Menschheit. Aaron kehrt sich ab von dem einen wirklichen Gott und wendet sich dem ikonischen Machwerk zu, das als solches geklont werden kann, weil es keine Identität besitzt. Dieses religiöse Zentrum wird im Bibeltext zum generellen Bilderverbot erweitert, um die Seuche des "schlüpfrigen Nichtseins" nur nicht beginnen zu lassen. Das Gottesbild ist hier kein zu Gott hinleitender Gegenstand, sondern übt gegenüber den Menschen eine diabolische Macht aus, in der Weise, dass es sich an die Stelle dessen stellt, den es repräsentiert. Das Abbild Gottes wird zum Götzen und Widersacher Gottes. Es zerstört die ursprüngliche göttliche Einheit und ihre personale Beziehung zum Menschen und setzt an deren Stelle eine magisch-materiale Potenz, die sich in eine Vielfalt von Götzen erweitern lässt. Das spezielle Gottes-Bild-Verbot hat sich im Judentum und im mohammedanischen Kulturraum erweitert zum allgemeinen Bilderverbot, so dass in der bildenden Kunst nur bildlose Ornamente entstehen konnten.

Platon handelt vom Bilderverbot im 10. Buch der Politeia (Staat; Republik). Er führt teils spielerisch, teils ernsthaft eine Dreierordnung ein; nach dieser gibt es das Wesen oder die Idee von Dingen, etwa eines Bettes, sodann die handwerkliche Nachahmung in Form des wirklichen Bettes, das ein sachkundiger Handwerker herstellt, und schließlich das gemalte Bild der Nachahmung, das ohne jede Kenntnis der Funktion des wirklichen Bettes gemalt werden kann. Nun sind derartige drittrangige Bilder oder auch imitative Dichtungen nicht nur kognitiv irreführend und wertlos, sondern zerstörerisch für die übrigen Seelenteile neben der reinen Erkenntnis. Sie spiegeln nicht nur verantwortungslos etwas vor, was sie nicht sind, sondern schüren falsche Gefühle und falsches Begehren. Deshalb werden die Maler und die Dichter (soweit ihre Werke nicht dem Kult dienen) aus dem Idealentwurf des Staats verbannt. Wir können gemäß der späteren Einteilung der Psychologie festhalten, dass Bilder nach Platon kognitiv falsch und emotional und voluntativ gefährlich sind.

Im 18. Jahrhundert wird Jean-Jacques Rousseau das Schauspiel aus Genf verbannen wollen aus den gleichen, von Platon übernommenen Gründen. Nach Platon und Rousseau wohnt den Bildern oder Schauspielen als solchen unvermeidlich eine zerstörerische Kraft des Konflikts und der Verführung inne. Die Grundlage des Verbots ist der Schein, den die Werke erregen und durch den sie emotional und voluntativ wirksam werden können. Das Fundament entspricht also unserem Merkmal, dass Bilder etwas darstellen, das sie selbst nicht sind. Aus dieser Negation entfalten sie ihre verheerende Wirkung, um verboten zu werden.

Der "pictorial (iconic) turn"

In der so genannten ikonischen Wende wird anders verfahren. Es werden dem Bild inhärente Kräfte zugeschrieben und als das Leben der Bilder vorgestellt, ein Leben, das nicht imitativ ist und sich nicht der Suggestion des Betrachters verdankt, sondern den Bildern selbst eigen ist, so wie die Gestalt und die Farbe. Bilder leben und haben einen eigenen Willen. Ich greife heraus William J. Thomas Mitchell Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur aus dem Jahr 2008, eingeleitet von Hans Belting, einem der führenden gegenwärtigen Kunsthistoriker. Mitchell hat das Wort des "pictorial turn" 1994 lanciert und damit ein weltweites Echo gefunden. Das Buch bringt eine sachkundige und angenehm lesbare Einführung in die Suggestionskräfte der Medien-Bilder oder Bildmedien. Bei unserem speziellen Interesse an Bildern werden wir jedoch enttäuscht.

Der deutsche Titel des Buches kündigt schon an, dass zwischen Bildern und anderen sichtbaren Gegenständen nicht ernsthaft unterschieden wird. Auf der ersten Seite heißt es: "Unter einem ,Bild` verstehe ich jedes Abbild, jede Darstellung, jedes Motiv und jegliche Gestalt, die in bzw. auf irgendeinem Medium erscheint. Unter einem ,Objekt` verstehe ich die materielle Grundlage, in bzw. auf der ein Bild in Erscheinung tritt, oder den materiellen Gegenstand, auf den sich ein Bild bezieht bzw. den es zur Erscheinung bringt. Ich möchte hier natürlich auch die Begriffe der Dinghaftigkeit und Gegenständlichkeit evozieren, d.h. die Idee dessen, was einem Subjekt gegenübertritt. Unter einem ,Medium` verstehe ich das Zusammenspiel der Verfahren, die ein Bildobjekt mit einem Bildträger zusammenbringen, um ein Bild entstehen zu lassen." Dass zu den Bildern auch Abbilder gehören, wollen wir unbesehen glauben. Jede Darstellung? Auch die Darstellung Weimars bei Thomas Mann? Jedes Motiv? Auch die Motive aus der "Zauberflöte"? Jegliche Gestalt? Auch die geometrischen Figuren eines Ornaments? Objekt - ist der Stuhl vor mir kein Objekt, auch wenn er mit Bildern nichts zu tun hat? Nehmen wir das Objekt, an das Mitchell offenbar denkt, etwa die Leinwand, die in einen Rahmen gespannt ist. Aber wie ist dann gleich der Sprung zu dem "materiellen Gegenstand, auf den sich ein Bild bezieht bzw. den es zur Erscheinung bringt", möglich? Bezieht sich das Bild auf die Leinwand? Und: Ist der perspektivisch gemalte Raum ein materieller Gegenstand? Kaum; so wenig wie die Zeit im Film.

Mitchell schreibt den Bildern einen Willen zu, gesehen zu werden - und wie steht es mit einer bunten, aber bilderlosen Barockfassade, dem handwerklich höchst gelungenen Lauf einer geschwungenen Treppe und dem Moasaikfußboden? Aber auch umgekehrt: Was wollen die Bilder wirklich, nicht metaphorisch? Was macht ihr Wille in der nächtlichen Ausstellungshalle? Der "iconic turn" macht alles objektiv zum lebendigen Bild; und in dieser Tendenz dokumentiert er tatsächlich eine Tendenz unserer Wirklichkeit und macht sich zu einem Teil von ihr. Der "iconic turn" wird zu einem "iconic return", zur Rückkehr der Idole. Wir werden Höhlenbewohner, kritiklose Troglodyten.

Martin Heidegger weiß darüber hinaus, "... dass überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus." Heidegger kennt das Wesen der Dinge, auch das Wesen der Neuzeit, und er weiht den Leser ein in eine Einsicht, die sich diesem bislang nicht offenbarte. Aber da der Leser als Zeitgenosse am Wesen der Neuzeit notwendig teilhat, muss er gemäß dem Diktum des Philosophen zum Bild werden, auch der Philosoph selbst ist nur ein Bild. Dies zeichnet die Neuzeit aus, wie Heidegger und nun auch sein Leser weiß; bis hin zur Renaissance gab es die Welt also wirklich, jetzt aber ist sie mitsamt aller Wesen in ihr zu einem Bild mutiert, unsichtbar, denn gesehen hat sicher niemand dieses wunderbare Bild. Zu Ende gedacht führt der Ungedanke wieder ins Tollhaus.

Dinge, Bilder, Denken

"Verraten hast du Gott an die Götter, den Gedanken an die Bilder."

Rein pragmatisch sind wir gezwungen, Weltgegenstände anzunehmen, die keine Bilder sind. Wer spricht, kann sich selbst und seine Sprechhandlung nicht als Bild begreifen, auch sein Gegenüber nicht und nicht die Dinge seiner Umgebung. Wenn Jan van Eyck das Porträt seiner Frau malt, dann ist das Porträt kognitiv nicht identisch mit der gemalten Person selbst. Im Selbstporträt steht sich van Eyck nicht selbst gegenüber, sondern seinem Bild, wie immer er sich auch bemüht, dem Bild ein Selbstsein für den lesenden und sehenden Betrachter zu indizieren. Hierüber zu streiten, wäre abwegig. Anders ist die Frage in der emotionalen und voluntativen Ebene; in ihr mögen beide Bilder ein eigenes Leben gewinnen und mit einer gewissen Selbstenergie im Betrachter die Überzeugung evozieren, das Bild sei belebt.

Im Äußeren also sind wir genötigt, Weltgegenstände anzunehmen, die keine Bilder sind, sondern die deren eingegrenzte Erscheinung möglich machen und gewissermaßen flankieren. Im Inneren ist das Gegenstück unser Denken. Es kann nicht in einem bildgebenden Verfahren zur Erscheinung gebracht werden. Wer spricht, kann seine Denkoperationen nicht als Bilder begreifen. Dinge und Denken sind als solche keine Bilder. Die Gegebenheit von äußeren Dingen, die keine Bilder sind, ist unmittelbar einsichtig. Es soll im Folgenden kurz gezeigt werden, dass auch das Denken tatsächlich bildresistent ist.

W. J. T. Mitchell schreibt in dem oben zitierten Buch: "Wir denken bisweilen laut, wir denken an der Tastatur, wir denken in bzw. mithilfe von Werkzeugen, Bildern und Klängen. Es ist ein durch und durch wechselseitiger Prozeß. Der Künstler Saul Steinberg bezeichnete das Malen und Zeichnen einst als ´Denken auf Papier`. Aber das Denken kann auch eine Art des Malens und Zeichnens sein, ein geistiges Skizzieren, Entwerfen, Umreißen und (in meinem eigenen Fall) zielloses Kritzeln." Wir halten hier ein und fixieren, was Mitchell meint, indem wir es auf den zitierten Text selbst anwenden. Wir möchten wissen, ob Mitchell diesen seinen Gedanken in einem ziellosen Kritzeln darstellen und uns übermitteln könnte. Machen wir keine Umstände: Es ist völlig unmöglich, die Überlegung in Form von Bildern darzustellen und anderen Menschen kund zu tun. Über Kritzeleien freuen sich Kinder, aber sie sind noch Egomanen. Wir Erwachsenen sind wie Mitchell selbst auf die Sprache angewiesen und gehen entsprechend zum Denken und Reden über, um etwas über den "iconic turn" mitteilen zu können und nicht nur infantil oder erwachsen Kritzeleien oder sonstige akzessorische Tätigkeiten zu vollziehen, die nur von privatem Interesse sind. Wir sind auf Sprache angewiesen und streifen in unserer Mitteilung die Bagatellbegleitungen bildlicher Art möglichst ab. Wir sind jedoch durch den Text von Mitchell selbst gezwungen, vom "iconic turn" über den "linguistic turn" bis in die vorrevolutionäre Zeit vor allen Wenden zurückzukehren. Man bedenke nur Folgendes: Wir haben aus einer vom Autor autorisierten Übersetzung zitiert; Mitchell findet also seinen Gedanken in der deutschen Sprache wieder. Das heißt, dass der Gedanke gegenüber der speziellen Sprache, in der er psychologisch gedacht und ursprünglich mitgeteilt wurde, irgendwie indifferent ist, sonst könnte derselbe Gedanke nicht in vielen Sprachen ausgedrückt und mitgeteilt werden. Auf dieser Ebene kann Mitchell weder die Bilder- noch die Sprachwende vollziehen. Wir behaupten nicht, dass das Denken ohne begleitende, es umspielende Imaginationen psychologisch möglich ist, wohl aber, dass es eine Ebene geben muss, die in verschiedenen Sprachen mitteilbar und daher "vorrevolutionär" ist. In ihr können wir uns über die Thesen und Grenzen der beiden "turns" verständigen, ohne sie würden wir nicht nur den Gedanken an die Bilder verraten, sondern kritzelnde Kleinkinder bleiben.

Immmanuel Kant schreibt in der Kritik der reinen Vernunft: "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen)." (A 51) Das klingt sehr suggestiv, und die Einlösung dieses Lehrsatzes ist eines der Beweisziele der Kritik der reinen Vernunft; nur ist der Satz, isoliert man ihn, handgreiflich falsch und widerlegt sich selbst, denn außer den Kategorien lässt sich den Begriffen der Vernunfterkenntnis, welche die Kritik der reinen Vernunft gewinnen will, kein "Gegenstand in der Anschauung" beifügen, schon die Begriffe "Kritik", "rein", "Vernunft" können nicht versinnlicht werden. Und wie könnte der kategorische Imperativ mit seinen expliziten und impliziten Begriffen in einem bildgebenden Verfahren dargestellt werden? Man kann nicht in Bildern die Gesetzestauglichkeit von Maximen prüfen oder das Sollen darstellen.

Das Wort "Denken" wird umgangssprachlich vielschichtig gebraucht; man sagt, unser Hund denke, dass das Kind gleich nach Hause komme, oder es heißt, unser Denkprozess werde in neuronalen Prozessen realisiert. Wir wollen das Wort so verwenden, dass das jeweilige Denken auch zu Urteilsakten befähigt sein soll. Das Urteilen ist kein mentales Lallen und kein kognitiver Prozess, zu dem auch andere Tiere als der Mensch befähigt sind, sondern eine psychische oder geistige Handlung mit diskreten künstlichen Urteilselementen. Diese Urteilshandlung mag eingebettet sein in ein kognitives Kontinuum vielfältiger mentaler, gewissermaßen multimedialer Leistungen des animalischen oder exklusiv menschlichen Fühlens, Erinnerns, Imaginierens, aber es ist isolierbar, etwa so: "Überlege: A sei die notwendige und hinreichende Bedingung von B; ist dann auch B die notwendige und hinreichende Bedingung von A?" Wir vollziehen bei dem Überlegen oder Denken, zu dem wir hier aufgefordert werden, mentale Operationen, die im genannten Fall vielleicht durch Phantasiebilder begleitet werden, sie haben jedoch keinen mitteilbaren Erkenntniswert. Denken qua Urteilen ist somit eine geistige oder mentale Tätigkeit, eine zielgerichtete Handlung, nicht darstellbar im Raum, sondern verlaufend in der Zeit, nicht nur prozesshaft, sondern mit diskreten Elementen. Die sprachlichen Elemente sind künstliche Symbole, die - im Gegensatz zu Bildern und bloßen Zeichen - in andere Symbolsysteme transferierbar sind.

Zum Denken wird man also etwa die Tätigkeit zählen, die jemand vollbringen muss, wenn er/sie das hier Gesagte bestätigt oder widerlegt. Zum Denken gehört damit die Gedankenoperation des Fragens und Antwortens. Alles dies ist bildresistent. Wenn wir eine Schriftzeile als Bild auffassen, verschwindet der eigentümliche Charakter der Lesbarkeit eines Gedankens und es wird ein nichtssagendes Ornament.

Die Summe gezogen: In der äußeren Welt lassen sich Dinge und Personen nicht beliebig zu erkennbaren, öffentlichen Bildern machen, in der inneren Welt ist das Denken der Bildgebung entzogen. Zwischen diesen beiden Bastionen sind die Bilder als Zwischenwesen und Medien angesiedelt, sowohl im Bereich des äußeren Sehsinnes wie auch der inneren Imagination.

Und die abstrakte Malerei? Blicken wir in den wolkenlosen Himmel, dann werden wir ihn nicht als abstraktes Bild bezeichnen. Damit etwas als Bild gesehen und erkannt wird, bedarf es einer räumlichen oder imaginativen Begrenzung. Und unweigerlich thematisiert das so eingehegte und einheitliche Raumstück irgendetwas, häufig - wie etwa bei Gerhard Richter - seine eigene Genese, häufig das Sehen des Betrachters. Beides ist mehr als die bloße physische Gegebenheit, und dieses Mehr ermöglicht es, von Bildern und sogar Kunstwerken zu sprechen.

Den Autoren der "ikonischen Wende" kommt das Verdienst zu, die Bilder aus einer gewissen Erstarrung zwischen zwei Betrachtungsformen herausgelöst zu haben. Die eine ist die Betonung des Repräsentationscharakters der Bilder, die andere die der Rezeptionsleistung durch den Betrachter. Die erste lässt das Kunstbild tendenziell zu einer Wiederholung dessen werden, was das Bild abbildet, also zur bloßen Nachahmung der Wirklichkeit; die andere legt alle Energie der Bilder in die psychische oder geistige Leistung des Betrachters. Dazwischen droht das Bild sein Eigenleben zu verlieren, das nun mit Emphase in den Vordergrund gestellt wurde. Das Bild, so könnte man den "pictorial turn" im Hinblick auf seine Anschlussfähigkeit alter Bildreflexion fassen, ist immer schon Repräsentation und Rezeption selbst, es ist identitätstheoretisch beides, es bedeutet nicht den Leib Christi, sondern ist dieser Leib in Realpräsenz. Daran glauben die Enthusiasten der Bildwende, während andere Betrachter skeptisch sind. Die christliche Bildkultur selbst, die sich dem Verbot des Alten Testaments entgegenstellte, musste sorgfältig an der ikonischen Differenz festhalten. Die Darstellung etwa der Passion Christi soll den Betrachter zum Mit-Leiden führen, aber sich nicht anmaßen, die Passion selbst zu sein.

Der "pictorial turn" profitierte von einer gleichzeitigen technischen Perfektionierung der bildgebenden Verfahren und einer Durchdringung allen Lebens durch die Bildmedien. Die neuen Bildtechniken und -aufmerksamkeiten kennzeichnen die empirische Forschung, sei es der Wahrnehmungspsychologie, der Anthropologie, Kunstgeschichte, Ethnologie, Medienwissenschaft und all der Wissenschaften, die von den so genannten bildgebenden Verfahren profitieren. Wir dringen in das unsichtbare Innere der Materie und der Organismen und des Weltraums durch verschiedene Formen von Wellen ein: Schallwellen, Röntgenwellen, magnetische Wellen, Lichtwellen und können die Wellenberichte aus Gründen der Bequemlichkeit in optische Phänomene verwandeln, die dann Bilder genannt werden. Fledermäuse würden ihre Forschung anders gestalten, aber nur äußerlich, nicht in der Sache. Hier dienen die Bilder der Erkenntnis und sind leicht zu domestizieren. Wichtig, dass das Denken dieser Bildgebung entzogen bleibt und sie umgekehrt erst ermöglicht.

In den Medien kämpfen die Bilder mit harten Bandagen um gewinnversprechende Aufmerksamkeit. Über diese Umflutung des Alltags mit Bildern braucht hier nicht näher gesprochen zu werden, weil sie jeder täglich beobachtet. Die Bilder drängen wortwörtlich auf allen Kanälen zur Herrschaft, ihr Triumph ist grandios. Die naiven Konsumenten werden in eine fiktionale Welt von Zeichen geführt, die leicht verständlich sind und die Welt marktgerecht präsentieren. Die passiv erlebte Bilderfolge tritt an die Stelle der eigenen kritischen Denktätigkeit und schafft mit diesem "iconic turn" ikonische Untertanen. Das wäre das Ende der Aufklärung, die dazu aufrief, nicht suggestiven Bildern zu erliegen, sondern sich des eigenen Verstandes zu bedienen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Reinhard Brandt, Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen - Vom Spiegel zum Kunstbild, München 1999.

  2. Bedlam: Bethlem Royal Hospital - ein berühmt-berüchtigtes Londoner Irrenhaus im 17./18. Jahrhundert. Der Begriff steht auch für Verwirrung.

  3. Vgl. u.a. Christoph Dohmen, Das Bilderverbot: seine Entstehung und Entwicklung im Alten Testament, Königstein/Ts.-Bonn 1985; s. a. William J. Thomas Mitchell, Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008, S. 32, 49; 113 - 116.

  4. Vgl. Platon, Politeia 10, 596 - 598.

  5. "Brief an d'Alembert über das Schauspiel" von 1758.

  6. W.J.T. Mitchell (Anm. 3).

  7. Eine gelungene Rezension der Originalausgabe schrieb Christiane Kruse in: ArtHist, April 2007.

  8. Der englische Titel lautet "What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images". Die deutsche Fassung entspricht jedoch genau dem Inhalt des Buches. Der Ambivalenz des Titels korrespondiert wiederum das permanente Changieren zwischen metaphorischer und realer Redeweise, gerade wenn die zentrale These des Buches erörtert wird.

  9. W. J. T. Mitchell (Anm. 3), S. 1.

  10. Vgl. ebd., S. 98 - 99.

  11. Arnold Schönberg in seiner unvollendeten Oper "Moses und Aron", Dritter Akt.

  12. W. J. T. Mitchell (Anm. 3), S. 181.

  13. Siehe außer an vielen anderen Stellen ausdrücklich Immanuel Kant, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Berlin 1900 ff., Bd. VI, S. 375, 4-5: Philosophie ist ein "System reiner, von aller Anschauungsbedingung unabhängiger Vernunftbegriffe".

  14. Vgl. Reinhard Brandt, Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie, Frankfurt/M. 2009.

Dr. phil., geb.1937; Professor für Philosophie an der Universität Marburg, Augustinergasse 2, 35037 Marburg.
E-Mail: E-Mail Link: brandt2@staff.uni-marburg.de