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Über die warenästhetische Erziehung des Menschen

Wolfgang Ullrich

/ 13 Minuten zu lesen

Konsumgüter werden mittlerweile auch über Fiktionswerte definiert. Es wird versucht, sie ähnlich wie etwa Bücher, Filme danach zubeurteilen, welche Emotionen sie wecken, wie sie Welterfahrung konstituieren und inwiefern sie als Mittel der Identitätsbildung fungieren.

Einleitung

Die Konsumgesellschaft hat viele Gegner. Sie werfen dieser vor, die Menschen zu täuschen, auszubeuten, abhängig zu machen, ihnen nur Ersatzbefriedigung zu bieten, sie von sich selbst zu entfremden, auf Fetischisten zu reduzieren und in Schuldenfallen zu treiben. Ein weiterer Vorwurf ist in den letzten Jahren beliebt geworden. Er besteht darin, die Konsumgesellschaft als große Infantilisierungsmaschine zu beschreiben. Prominent vertreten wird diese Auffassung etwa von Benjamin Barber. In seinem Buch " Consumed!" behauptet der amerikanische Politikwissenschaftler, dass die Angebotsfülle an Produkten aus Bürgerinnen und Bürgern Kinder gemacht habe.


Da nur ausschweifender Konsum die Wirtschaft am Laufen halte, müsse man den Menschen nämlich auch Dinge verkaufen, die sie gar nicht benötigten. Aus diesem Grunde habe alles leicht und nicht schwierig, flott und nicht umständlich zu erscheinen. Damit aber werde den Konsumenten fortwährend ein "infantiles Traum-Weltbild (bestätigt), wo man nur zu sagen braucht: Ich will, dass es so ist, und schon ist es so":"Easy listening" statt klassischer Musik, Infotainment statt ernster Nachrichten, der Boom der Computerspiele - all das zeugt für Barber von einer kindlichen, ja kindischen Haltung. Da "Harry Potter" auch von vielen Erwachsenen gelesen wird und die erfolgreichsten Filme noch lieber von den Eltern als von den Kindern angeschaut werden, für die sie produziert werden, und da diese zudem den Genres Fantasy, Zeichentrick und Abenteuer angehören, fühlt sich Barber erst recht dazu veranlasst, eine Infantilisierung zu diagnostizieren.

Skeptisch hinsichtlich dieser Diagnose kann jedoch werden, wer weiß, dass gerade der Infantilisierungsvorwurf eine lange Tradition besitzt, ja offenbar zu jeder Zeit passt. So veröffentlichte etwa im Jahr 1698 der Schweizer Theologe Gotthard Heidegger, Repräsentant der reformierten Kirche, einen Traktat, in dem er sich mit der Romanliteratur auseinandersetzte, damals eine junge, aber boomende Branche. Er lehnte das Lesen von Romanen aus vielerlei Gründen ab, unter anderem, weil "die Roman-Schreiber den Leser zum Narren" machten, ihn also absichtlich verdummen wollten, um ihm immer noch abstrusere und spektakulärere Geschichten zu verkaufen. Wer Romane lese, müsse sich daher "den Titel eines albernen Kinds" gefallen lassen.

Heidegger war keineswegs der einzige Kritiker der Romanliteratur; vielmehr hatten diese ähnlich viele Gegner wie heute der Konsumismus. Und in beiden Fällen trifft man auf dieselben Argumente. Wenn Heidegger der Romanliteratur also etwa vorhält, sie versetze das Gemüt des Lesers mit ihren "freyen Vorstellungen / feurigen Außdruckungen / und andren bunden Händeln in Sehnen / Unruh / Lüsternheit und Brunst", ja sie bringe "den Menschen in ein Schwitzbad der Passionen", dann stößt man bei Barber und anderen Kritikern des Konsumismus auf einen analogen Vorwurf. Auch sie distanzieren sich von einer Aufputschung der Phantasie, wie sie aus ihrer Sicht durch Werbung oder Produktdesign betrieben wird. So beklagt etwa Wolfgang Fritz Haug, die Warenästhetik würde "allgemein lüstern (...) machen", ja, es gehe den Herstellern darum, eine "Triebunruhe" zu erzeugen.

Zu solcher Polemik gehört auch eine Verwechslung - und damit Gleichsetzung - von Fiktion und Lüge. Sie findet sich bekanntlich schon bei Platon, der die Dichter und Künstler aus seinem idealen Staat ausschließen wollte, weil ihre Werke fernab der Wahrheit seien. "Wer Romans list / der list Lügen", heißt es bei Gotthard Heidegger; Waren sind "Schein, auf den man hereinfällt", schreibt Wolfgang Fritz Haug. Die Phantasie eines Dichters und Romanciers oder Produktdesigners und Werbegraphikers wird also jeweils dadurch diskreditiert, dass man darin nur Willkür und Maßlosigkeit am Werk sieht. Jede Abweichung von dem, was als Realität gilt, erscheint nicht etwa als Ansporn und Ideal, sondern ausschließlich als Täuschung.

Es stellt sich nun die Frage, ob sich Konsumgüter nicht auch positiv mit Romanen und anderen Gattungen des Fiktionalen vergleichen lassen. Konsumismus ebenso wie die Literatur oder der Film könnten ja ebenso als Teil der Hochkultur beschrieben werden: Sind die Lügen, die der Werbung für Konsumgütern vorgehalten werden, nicht in Wahrheit Fiktionen, die, ähnlich wie das bei den Künsten der Fall ist, wichtige Funktionen erfüllen? Ist das "Schwitzbad der Passionen", die "Triebunruhe" also nicht eine "schöne Kunst der Leidenschaft"? So zumindest formuliert es Friedrich Schiller, der sich in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" (1795) vehement gegen die Verwechslung von Fiktion und Lüge wendet und das "Interesse am Schein (als) eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein(en) entschiedene(n) Schritt zur Kultur" bewertet.

Wer einen Drogeriemarkt betritt, um ein Duschgel zu kaufen, steht vor Regalen, auf denen die Angebote Dutzender von Markenartikeln mit meist mehreren Produktlinien und zahlreichen Varianten versammelt sind. Unterschieden wird zwischen Produkten für Männer, Frauen, Kinder und Senioren; es gibt edel aufgemachte und simpel verpackte Duschgels, einige für den Abend oder das Wochenende, andere für morgens und wochentags; wählen kann man ferner zwischen sportlichen, esoterischen, gesundheitsbewussten, stimulierenden und beruhigenden Artikeln.

Auch wenn es etwas bemüht erscheinen mag, diese Situation mit der in einer Buchhandlung zu vergleichen, in welcher die "Erzeugnisse" diverser Autoren und Verlage ebenfalls nach dem Alter sowie teils auch nach dem Geschlecht der Kunden, ferner nach Aufmachung und Sparten rubriziert werden, so leuchtet die Analogisierung vielleicht dann ein, wenn man wieder einmal vergeblich nach dem Duschgel sucht, das man beim letzten Mal gekauft hatte. Man wird bemerken, dass die Markenfirmen in jeder Saison neue Varianten auf den Markt bringen - und alte nicht wieder auflegen. Sie verhalten sich damit nicht anders als Verleger oder Filmproduzenten, die Bücher und Filme ebenfalls oft nur eine Saison lang vertreiben.

Wer allerdings ernst nimmt und auch schätzt, dass sich Romane ebenso wie andere Konsumprodukte primär über ihren jeweiligen Fiktionswert definieren, fände es unangemessen, würden immer dieselben Varianten angeboten. Zwar kann man gute Bücher auch mehrfach lesen und gerade aus der Wiederholung Gewinn schöpfen, doch häufiger wird man sich darüber freuen, die Neuerscheinung eines geschätzten Autors oder eine anders erzählte Fassung eines an sich bekannten Plots erwerben zu können. Und so macht es auch Freude, einmal ein Duschgel zu benutzen, das mit dem Flair einer Südseereise oder der Aura von Abendsonne umgeben ist, sich beim nächsten Mal hingegen für eines zu entscheiden, das einen vergleichbar hohen Kuschelfaktor wie ein Cashmerepullover verspricht. Insofern sind jene Konsumenten, die es frustriert, wenn sie im Drogeriemarkt mit immer neuen Produktvarianten konfrontiert werden, offenbar allein an dessen Gebrauchswert interessiert: Haben sie ein Duschgel gefunden, mit dem sie sich zu einem vernünftigen Preis reinigen können und das zudem angenehm duftet, sehen sie keinen Grund, ein anderes auszuprobieren. Die durch die Produkte eröffneten Fiktionsräume sind ihnen unwichtig.

Ambitioniertere Konsumenten hingegen sind nicht nur gut über neue Produkte etwa auf dem Markt von Duschgels informiert, ihre Badezimmerkonsole erinnert auch an das Regal eines Bücherfreunds. Während in ihm Bücher unterschiedlicher Genres versammelt sind, die wechselnde Vorlieben, Stimmungen und Erwartungen widerspiegeln, stehen auf ihrer Konsole die passenden Gels für jeden Anlass. Fühlen sich deren Besitzer nach einem anstrengenden Arbeitstag frustriert und gestresst, so greifen sie vielleicht zu einem Mittel, dessen Name einen "Beruhigenden Abend" verheißt; sind sie an einem anderen Tag noch abenteuerlustig und wollen sich statt auf dem Sofa lieber in der Disco vom Arbeitstrott erholen, dann stimmen sie sich darauf mit einem Duschgel ein, das vielleicht den Namen "Energy Risk" trägt.

Doch der Name allein führt noch nicht zur Öffnung eines Fiktionsraumes. Vielmehr bedarf es einer raffinierten Inszenierung. Ähnlich wie ein Romantext soll das Produktdesign einen inneren Film in Gang setzen: Es gilt, dem Konsumenten ein ihm sympathisches Rollenangebot zu machen oder ihn zumindest ein wenig aus seinem Alltagserleben herauszuholen. Wie das durch eine Kombination verschiedener Sinnesreize gelingen kann, sei am Beispiel des Duschgels "Beruhigender Abend" von "Dove" erläutert:

Im Unterschied zu vielen anderen Duschgels ist der Name hier auf Deutsch aufgedruckt (obwohl "Dove" eine englische Marke ist). Allein, dass sie in der Muttersprache angesprochen werden, wirkt für viele Menschen schon beruhigend, enthält doch das sonst dominierende Englisch einen Beiklang von Business oder Outdoor-Abenteuer. Ein klassisch ruhiger Schriftzug - ohne dynamisierende Kursivierung - verheißt dagegen Stabilität. Noch wichtiger ist aber, dass sich weiße Schrift von einem dunkelblauen Hintergrund abhebt: Mit keiner anderen Farbe wird so stark Entspannung, Erholung und Vertrauen assoziiert; man kann an die "blaue Stunde" nach Arbeitsschluss, aber auch an Schlaf- und Beruhigungsmittel denken, deren Verpackungen häufig blau sind. Die Form des Produktkörpers verstärkt das Empfinden von Beruhigung und Einkehr zusätzlich. Seine Symmetrie, keineswegs selbstverständlich bei Duschgels, wirkt stabil und harmonisch, die Wölbung der eher flachen Flasche macht einen geschmeidigen Eindruck.

Doch geht es nicht nur um visuelle Reize. Wer sich für ein Duschgel interessiert, will vor einer Kaufentscheidung vielleicht auch wissen, wie dieses duftet. Wird aus diesem Grund die Verschlusskappe geöffnet, ist jedoch - noch bevor ein olfaktorischer Reiz wahrnehmbar ist - das Ohr angesprochen. Zwar achten viele nicht bewusst auf das Sound-Design, es wirkt aber unterschwellig. In diesem Fall assoziiert man mit dem Ton, den das Öffnen des Verschlusses auslöst, ein erleichtertes Seufzen. Damit wird suggeriert, dass in dem Moment, in dem man das Duschgel benutzt, die Entspannung einsetzt: Es ist, als dürfe man befreit ausatmen.

Das Gel selbst riecht dezent, ist nicht stark parfümiert, und wer mag, kann den auf der Packung angekündigten "Sandelholzduft" erahnen, der ein Flair von Wärme verheißt. Neben dem Geruch ist schließlich die Substanz des Gels bedeutsam. Es fließt milchig weiß und cremig wie Sahne aus der Flasche. Das wird als Verwöhnung empfunden. Das Weiß verheißt nicht nur Reinheit, sondern erinnert gar an Muttermilch. "Beruhigender Abend" suggeriert also, man dürfe zu den eigenen Ursprüngen zurückkehren, in eine warme Welt ohne Entfremdung, in ein behütetes Zuhause.

Eine solche Produktinszenierung könnte als weiteres Beispiel für eine Infantilisierung der Konsumwelt dienen, werden doch von der Sprache bis zur Farbe Assoziationen an die Mutter-Kind-Beziehung geweckt. Allerdings würde dann übersehen, dass es hier weniger um eine naive Kuscheligkeit als darum geht, Defizite zu kompensieren. So spricht der Begleittext auf der Rückseite der Flasche den "Stress und die Belastungen des Tages" an, denen es entgegenwirke. Das Duschgel wird somit als eine Art Psychotherapie verstanden: Es soll dabei helfen, den Alltagsfrust hinter sich zu lassen und sich zu regenerieren.

Schon im Laden wird "Beruhigender Abend" seine therapeutisch-entspannende Kraft entfalten. Dank der gut aufeinander abgestimmten Sinnesreize kann man sich in eine bessere Welt hineinträumen. Vor dem inneren Auge entsteht das Bild eines langen Abends ganz ohne Verpflichtung. Man denkt an das gemütliche Sofa, eine Kanne mit Tee, an eine Duftkerze und Musik - und dazu an ein feines Buch. Dieses mag für das Gelingen eines solchen Abends letztlich wichtiger sein als der Tee oder das Duschgel, weil man mehr Zeit damit verbringt und es die Aufmerksamkeit stärker an sich binden kann. Doch leistet ein gut gestaltetes Duschgel im Rahmen seiner Möglichkeiten - immerhin muss es neben einem Fiktionswert auch noch seinen Gebrauchswert beweisen - nicht dasselbe wie ein Buch? Es erzeugt eine Stimmung, es überhöht den Alltag, es stiftet Bedeutungen und damit auch Sinn.

Eine gänzlich andere Inszenierung wird mit einem Duschgel wie "Sport Massage" von "Adidas" verfolgt. Der hier in grellem Rot vertikal gesetzte, nach oben gerichtete Produktname stößt die Augen des Käufers oder der Käuferin auf den Markennamen, dessen Image Sport-Kompetenz verheißt. Das Rot taucht in Form von Körnchen im Gel selbst wieder auf, das durch die durchsichtige Flasche hindurch grün schimmert (was zum versprochenen Menthol und Arnika passt). Soll das Granulat die Massageleistung vollbringen, so wird dieser Effekt noch überzeugender mit haptischen Reizen in Szene gesetzt. Wer nach der Flasche greift, um sie genauer zu prüfen, wird auf der Handinnenfläche nämlich von Noppen gekitzelt, die an den Seiten des Duschgels aufgebracht sind. Sie mögen auch funktional begründet sein, da sie verhindern, dass die Flasche unter der Dusche durch die Hände rutscht, machen das Produkt aber zugleich zu einem stimulierenden Handschmeichler.

Wer es festhält, fühlt sich zudem an einen angespannten Muskel erinnert, bekommt also ein Gefühl von Vitalität und Leistungsstärke vermittelt. Das wird durch das Sound-Design eindrucksvoll bestätigt: Es besteht in einem lauten - energischen - Klacken. Dass dadurch, ähnlich wie bei einem technischen Gerät, vermeintlich eine Funktion ausgelöst wird, passt wiederum zur Form des Duschgels, die eine gewisse Verwandtschaft zu einer Flasche mit Motoröl aufweist. Insgesamt weckt das Produkt daher die Vorstellung, man werde mit Energie aufgetankt und sportlich trainiert, um maximal fit zu sein.

Die Entwickler so sorgfältig konzipierter Produktdesigns zielen auf einen Effekt, den Neurobiologen als "multisensory enhancement" bezeichnen. Darin drückt sich die Erkenntnis aus, dass Reize durch Impulse verstärkt werden, die an andere Sinne adressiert sind. So gewinnt ein einzelnes Produkt enorm an Präsenz, wenn visuelle, akustische, haptische und olfaktorische Reize aufeinander abgestimmt werden. Als historisches Vorbild lässt sich auch an die katholische Kirche denken, die vom Glockengeläut über den Weihrauch bis hin zu den Farben der Messgewänder alle Sinne anzusprechen und einheitlich zu stimulieren gelernt hat.

Statt Produkte nur nach ihrem jeweiligen Gebrauchswert einzuteilen, liegt es nahe, sie hinsichtlich ihres emotionalen und lebensweltbildenden Potenzials zu klassifizieren. Dabei kann man sich auch an Begriffen orientieren, die zuerst für Kunstwerke und ihre Wirkung gefunden wurden. Friedrich Schiller bietet hier mit seinen Texten gute Anhaltspunkte. So unterscheidet er "eine auflösende und eine anspannende Wirkung" des ästhetischen Scheins und benennt "sowohl eine schmelzende als (eine) energische Eigenschaft". Wie die Kunst den Rezipienten von seiner Welt mit ihren Zwängen abzulenken und damit entlastende Distanz zu bereiten vermag, kann sie ihn zugleich frei machen für neue Herausforderungen, sie kann stimulieren und Sinn stiften.

Wenn Schiller das Besondere einer Theateraufführung oder einer Skulptur so charakterisiert, dass sie "in dem angespannten Menschen die Harmonie, in dem abgespannten die Energie wieder herstellt", dann fällt die Übertragung auf einen Produkttyp wie Duschgels nicht schwer. Und so, wie ein Theaterbesuch eine Zäsur darstellt und den Alltag des Menschen unterbricht, kann man auch im Duschen einen Zwischenzustand - mehr als nur einen profanen Vorgang - erkennen. Geduscht wird morgens zwischen dem Erwachen und dem Gang zur Arbeit; die abendliche Dusche markiert den Übergang vom Beruf zur Freizeit. Geduscht wird also jeweils zwischen zwei klar unterschiedenen Tagesphasen. Dieser Übergang ist zugleich ein Moment, in dem man für sich ist, durch das Wasser abgetrennt von der Umwelt. Das Theater und die Duschkabine sind damit vergleichbare Orte, die dem Individuum Spielraum zur Selbstbestimmung geben, und wie der eine erfrischt und inspiriert aus der Oper oder dem Schauspielhaus kommt, schwärmt der andere davon, seine besten Ideen unter der Dusche zu haben.

Bezogen auf die Kunst spricht Schiller von einer "mittlere(n) Stimmung", in die der Rezipient versetzt werde. Sie markiert einen Übergang, weil in ihr die bestehende Prägung momentan aufgehoben und zugleich eine neue Prägung möglich ist - weil es dem Betreffenden, seiner sonstigen Geschäfte für kurze Zeit enthoben, frei steht, "aus sich selbst zu machen, was er will". Ein Skeptiker wie Benjamin Barber könnte hier natürlich einmal mehr den Vorwurf der Infantilisierung erheben: Stellt ein Kunstwerk alles wieder auf Null, bewirkt es einen Neuanfang und verjüngt den Rezipienten - genau wie ein Produkt, das verheißt, Optionen zu vermehren, sofern es von Stress befreit oder fitter macht. Doch für Schiller besteht gerade darin die "ästhetische Erziehung des Menschen": Dieser bekommt durch die Kunst die Chance, sich über sich selbst klarer zu werden und sich neu zu definieren. Statt auf eine bestimmte Weltsicht verpflichtet zu werden, kann er im Gegenteil Festlegungen überwinden; und statt eine Regression zu erleiden, wird ihm Selbstbildung ermöglicht. Erziehung meint also nicht Drill, Formatierung, Kanonvermittlung; ihr Ziel ist vielmehr das autonome Individuum.

Hier zeigt sich aber auch ein wichtiger Unterschied zwischen idealistischer Kunsttheorie und der Praxis des heutigen Konsumismus. Besteht der Grundgedanke von Schillers Konzept darin, dass schmelzende und energische Wirkung des ästhetischen Scheins idealerweise in Balance gelangen, um maximale Befreiung zu bewirken, verläuft die "warenästhetische Erziehung" von vornherein einseitiger. In ihr geht es, wie auch das Beispiel der Duschgels zeigt, entweder nur um eine "Freiheit von" oder um eine "Freiheit zu".

Dass die meisten Konsumprodukte jeweils nur eine emotionale Qualität bedienen, lässt sie zu "Erziehern" werden, die sehr wohl formatieren: Sie lenken die Gefühlswelt der Konsumenten in eine bestimmte Richtung und verstärken die Codierung einer Situation. Kann man Konsumgüter also einerseits zur Ausprägung oder Umgestaltung der eigenen Identität nutzen - dies ist die Idee "warenästhetischer Erziehung"! -, so konsumiert man andererseits häufig nur mit Rücksicht auf einzelne Stimmungen, die man intensiver erleben oder denen man entgehen will. Während man in der Vergangenheit weitgehend nur durch die Wahl der Lektüre auf den eigenen Gefühlshaushalt Einfluss nehmen konnte, so ist dies heute anders: Mittlerweile ist die Choreographie der Emotionen zum alltäglichen Programm geworden, das selbst schon beim Kauf einer Zahnbürste, eines Joghurts oder eben eines Duschgels stattfindet. Mehr als je zuvor modellieren nahezu alle Gebrauchsgüter die jeweilige Lebenswelt.

Allerdings scheinen die Potenziale warenästhetischen Scheins noch längst nicht ausgeschöpft zu sein. Die Konsumkultur hat gerade ein paar Schritte unternommen, sich von der Gebrauchswertbindung zu emanzipieren und, als Folge gewachsenen Wohlstands, über rein materiell bestimmte Bedürfnisse hinauszugehen. Wenn Schiller mutmaßte, dass die Einbildungskraft "ihr ungebundenes Vermögen" erst entwickle, "wenn das Bedürfnis gestillt ist", weckt das die Hoffnung auf Produkte, die noch raffinierter fiktionalisieren als heutzutage. Dann werden sich die Konsumkritiker auch nicht länger auf eine Gleichsetzung von Fiktion und Lüge zurückziehen können. Wie die Kritik an der Romanliteratur verstummte, nachdem im 19. Jahrhundert die Blütezeit des Romans begann, so wird auch die Konsumkritik verschwinden, sobald das große Zeitalter des Produktdesigns erst einmal angefangen hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Benjamin Barber, Consumed! Wie der Markt Kinder verführt, Erwachsene infantilisiert und die Demokratie untergräbt, München 2008.

  2. Ebd, S. 93.

  3. Gotthard Heidegger, Mythoscopia Romantica oder Discours von den Romanen, Zürich 1698, repr. Bad Homburg 1969, S. 81, S. 76.

  4. Ebd., S. 70.

  5. Wolfgang Fritz Haug, Kritik der Warenästhetik, Frankfurt/M. 1971, S. 111, S. 120.

  6. G. Heidegger (Anm. 3), S. 81.

  7. W. F. Haug (Anm. 4), S. 62.

  8. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), in: Nationalausgabe, Bd. 20, hrsg. von Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 382.

  9. Vgl. Eva Heller, Wie Farben auf Gefühl und Verstand wirken, München 2000, S. 48.

  10. Vgl. Martin Lindstrom, Making Sense: Die Multisensorik von Produkten und Marken, in: Hans-Georg Häusel (Hrsg.), Neuromarketing. Erkenntnisse der Hirnforschung für Markenführung, Werbung und Verkauf, Planegg 2007, S. 157 - 169, hier S. 161.

  11. F. Schiller (Anm. 8), S. 360f.

  12. Ebd., S. 364.

  13. Ebd., S. 375, S. 377f.

  14. Ebd., S. 399.

Dr. phil., geb. 1967; Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, Lorenzstraße 15, 76135 Karlsruhe.
E-Mail: E-Mail Link: ullrich@ideenfreiheit.de Internet: Externer Link: http://solaris.hfg-karlsruhe.de/hfg/ inhalt/de/Lehrende/8461