Einleitung
Der afrikanische Kontinent wird neu geordnet. Einerseits sind neue institutionelle Arrangements zwischen den Staaten Afrikas zu beobachten, andererseits neue Interaktionen, die sich, stärker als jemals zu-vor seit dem Ende der Kolonialzeit, jenseits schwacher Staaten herausbilden und gewohnte Raumzusammenhänge nachhaltig verändern. Durch die Auflösung der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU) und die Gründung der Afrikanischen Union (AU) sind die Beziehungen zwischen den 53 Staaten Afrikas institutionell und im Hinblick auf die der Kooperation zugrunde liegenden Normen mit Beginn dieses Millenniums auf eine neue Grundlage gestellt worden. Gleichzeitig und von außen angestoßen sind die zuvor teilweise einem Tiefschlaf anheim gefallenen Regionalen Wirtschaftsgemeinschaften, die Regional Economic Communities (RECs), wiederbelebt worden.
Unter dem Stichwort "neue Regionalismen" geraten aber ebenfalls neue, grenzüberschreitende sogenannte Mikro-Regionen in den Blick. Sie entwickeln sich ebenso "jenseits des Staates" wie zahlreiche andere Prozesse, deren Dynamik durch die beschleunigte Integration Afrikas in Globalisierungsprozesse, die gesteigerte Nachfrage Chinas und anderer aufstrebender Mächte nach Afrikas Rohstoffen, aber auch durch gewaltsame Konflikte in Zentralafrika und am Horn von Afrika angetrieben wird. Dadurch gerät der schwach institutionalisierte postkoloniale Staat weiter unter Druck; "neue" Akteure - wie zum Beispiel Warlords, Internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs), afrikanische Unternehmer, UN-Flüchtlingslager, illegale Händlernetzwerke - entfalten Souveränitätswirkungen jenseits des Staates. In der Summe tragen diese Veränderungen zu einer neuen Unübersichtlichkeit bei, die ihren Ausdruck in unterschiedlichen, häufig konkurrierenden Raumordnungen findet. Die Ordnung des Kontinents, aber auch Afrikas Einbindung in das internationale System verändert sich tiefgreifend.
Neue Regionalismen zwischen Staaten
Die wichtigste kontinentale Institution, die OAU, wurde 2000 zugunsten einer neu geschaffenen African Union aufgelöst. Dieser Zäsur war eine kritische Evaluierung der 1963 gegründeten OAU durch deren Mitgliedstaaten vorausgegangen. Die OAU stellte im Wesentlichen einen Zusammenschluss der Staaten Afrikas zur Abwicklung der Dekolonisation dar, insbesondere der späten und von zähen Befreiungskämpfen begleiteten Dekolonisation im südlichen Afrika. War der OAU dieses Kapitel zweifellos relativ gut gelungen (im Rahmen einer Harmonisierung von Außenpolitiken und Transmission ihrer politischen Ziele auf andere Ebenen des internationalen Systems), so ist die Bilanz hinsichtlich der Politik der Mitgliedstaaten eher negativ. In zahlreichen Fällen grober Menschenrechtsverletzungen - vom Uganda eines Idi Amin (Regierungszeit 1971 - 1979) bis hin zum Nigeria des Sani Abacha (1993 - 1998) oder dem Genozid in Ruanda (1994), um nur einige prominente Fälle zu nennen - pflegte die OAU das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten ihrer Mitglieder. Aus der Sicht vieler afrikanischer Intellektueller verkam der Staatenbund so zu einem Klub der Diktatoren. Angesichts der prekären Einbindung Afrikas in die internationalen Beziehungen, die auf der Fortführung kolonialer Abhängigkeiten beruhte, vermochte es die OAU auch nicht zu verhindern, dass Afrika während des Kalten Krieges ab Mitte der 1970er Jahre zum Austragungsort von Stellvertreterkriegen zwischen den USA und der UdSSR wurde - insbesondere im südlichen Afrika und am Horn von Afrika.
Vor diesem Hintergrund diskutierten die Mitgliedstaaten unterschiedliche Modelle einer Neugründung der OAU. Eine von Libyen angeführte Staatengruppe propagierte im Rückgriff auf panafrikanische Traditionen der unmittelbaren postkolonialen Phase eine umfassende Neukonstituierung im Rahmen einer an das Modell der USA angelehnten Vision der "Vereinigten Staaten von Afrika", also einen Staatenbund mit weitestgehender Delegation von Souveränität an das Zentrum. Dagegen sprach sich eine Gruppe um die Wirtschafts- und Militärvormächte Südafrika und Nigeria für einen lockeren Staatenverbund aus, in dem die souveränen Staaten keinerlei Rechte an das Zentrum übertragen würden. (Da Libyen im Vorfeld die ausstehenden Mitgliedsbeiträge einer größeren Gruppe von Mitgliedstaaten beglich, erfreute sich der Vorschlag von Präsident Muammar al-Gaddafi durchaus einer gewissen Popularität.)
Auf einem Gipfeltreffen in Lomé/Togo votierte die Mehrheit der OAU-Staaten im Juli 2000 schließlich dafür, die OAU zugunsten eines Staatenverbundes aufzulösen, in dem zahlreiche neue Institutionen geschaffen und die Quellen von Autorität ausgedehnt, die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten jedoch kaum eingeschränkt würden. Das wichtigste Beschlussorgan der neuen African Union blieb die Versammlung der Staats- und Regierungschefs; das ehemals kleine und lediglich koordinierende Sekretariat wurde durch eine mit Initiativrechten ausgestattete Kommission nach Vorbild der Europäischen Union (EU) ersetzt. Des Weiteren wurden ein Panafrikanisches Parlament und ein Afrikanischer Gerichtshof geschaffen.
Zu den wichtigsten Innovationen der AU zählen deren neue Sicherheitsarchitektur und die ihr zugrunde liegende Philosophie. Zwar hatte schon die alte OAU 1993 einen Mechanismus für Konfliktprävention, -mediation und -bearbeitung installiert; diesem waren aber nur wenige überzeugende Aktionen, vor allem im Bereich der Konfliktdiplomatie, vergönnt - im Fall von massiven Menschenrechtsverletzungen bzw. unmittelbar drohenden Gewaltausbrüchen in den größeren Mitgliedstaaten blieb der Mechanismus ineffizient oder wurde gar nicht erst aktiviert. Er büßte daher an Legitimation ein. Dies änderte sich 2000/2002, als sich die Mitgliedstaaten der OAU internationalen Trends anschlossen und dafür votierten, das Prinzip der Regimesicherheit zugunsten des neuen Prinzips der "menschlichen Sicherheit" und der völkerrechtlichen Norm der responsibility to protect (R2P) aufzugeben.
Bereits wenige Jahre später unternahmen einige Staaten - darunter wieder prominent Libyen - den Versuch, den entscheidenden Artikel des Verfassungsgebenden Gesetzes der AU wieder einzuschränken. In einer Kompromisslösung wurde der Artikel schließlich in einer Art und Weise erweitert, die Zweifel an der eigentlichen Zielrichtung des neuen Interventionsgebots aufkommen ließ: Die AU sollte nunmehr auf der Basis eines Beschlusses der Staats- und Regierungschefs in einem Mitgliedstaat intervenieren dürfen, wenn schwere Gründe wie Kriegsverbrechen, Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorlägen sowie - und dies war die Erweiterung - wenn "eine ernsthafte Bedrohung der legitimen Ordnung" die "Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit" erforderlich mache.
Die Problematik dieser Formulierung zeigte sich in den vergangenen zwölf Monaten unter anderem in Guinea und in Madagaskar: In Guinea übernahmen am Tag nach dem Tod des langjährigen Diktators Lansana Conté, und durchaus mit weitreichender Unterstützung aus der Bevölkerung, am 23. Dezember 2008 jüngere Offiziere die Macht - mit dem Versprechen, in absehbarer Zeit Wahlen zu organsieren. Das Land wurde daraufhin durch die AU mit Sanktionen belegt. In Madagaskar wurde Präsident Marc Ravolomanana am 17. März 2009 durch eine vom Bürgermeister der Hauptstadt angeführte populäre Koalition vom Militär zum Rücktritt gezwungen. Auch in diesem Fall suspendierte die Union die Mitgliedschaft des Landes. In beiden Fällen ist nicht so einfach zu bestimmen, wie es auf den ersten Blick scheint, was denn eigentlich eine "legitime Ordnung" darstellt, die es wiedereinzusetzen gilt.
Kern der neuen Sicherheitsarchitektur ist der am 25. Mai 2004 eröffnete Friedens- und Sicherheitsrat (Peace and Security Council, PSC), der dem Vorbild des UN-Sicherheitsrats nachempfunden ist, sich jedoch in einigen Punkten von diesem abhebt. Es gibt keine Vetomächte und es gilt ein regionales Proporzprinzip, nach welchem die Regionen Nord-, Zentral-, West-, Ost- und das Südliche Afrika insgesamt 15 Vertreter entsenden, die für jeweils zwei bzw. drei Jahre gewählt werden. Entscheidungen werden in der Regel im Konsens getroffen. Die weiteren Pfeiler der neuen Architektur, die bis zum Jahr 2010 in weiten Teilen umgesetzt sein soll, sind ein Kontinentales Frühwarnsystem für gewaltsame Konflikte (Continental Early Warning System, CEWS), eine Schnelle Eingreiftruppe (African Standby Force, ASF), ein Finanzierungspool (African Peace Facility) sowie ein Vermittlungsgremium aus erfahrenen Persönlichkeiten (Panel of the Wise).
Angesichts mangelnder Effizienz der AU - nur ca. zehn Prozent der Beschlüsse wurden umgesetzt, eine interne Überprüfung bemängelte die schlechte Finanzverwaltung und die schwerfälligen Entscheidungsprozesse -, haben die Mitgliedstaaten gerade wieder um eine Reform der Reform gerungen.
Parallel zu dieser über Konsensverhandlungen gesteuerten Neuordnung der kontinentalen Beziehungen zwischen souveränen Staaten erleben die regionalen Zusammenschlüsse der afrikanischen Länder gerade eine von außen gesteuerte Neuordnung. Nachdem die Welthandelsorganisation WTO auf Druck der USA befunden hatte, dass die von der EU einer Gruppe von Staaten aus Afrika, der Karibik und dem Pazifik (AKP) einseitig gewährten Handelspräferenzen (im Rahmen der sogenannten Lomé-Konvention und ihrer Nachfolgeabkommen) die daran nicht beteiligten Staaten diskriminiere, musste die Entwicklungskooperation zwischen der EU und den AKP-Staaten auf eine neue Grundlage gestellt werden. Die Europäer boten den AKP-Ländern nunmehr sogenannte Economic Partnership Agreements (EPAs) an, also Freihandelsabkommen, die nicht mehr mit der Gesamtgruppe der AKP-Staaten, sondern lediglich mit Regionalen Wirtschaftsgemeinschaften (RECs) verhandelt werden sollten - und dies bei gering ausgeprägten Verhandlungskapazitäten auf Seiten der RECs und unter erheblichem Zeitdruck.
Die afrikanischen Staaten mussten sich für die Mitgliedschaft in einer einzigen REC entscheiden; bis dahin waren Mitgliedschaften in mehreren RECs mit unterschiedlichen Integrationszielen und -geschwindigkeiten möglich gewesen. Bis zum Stichtag, dem 31. Dezember 2007, mussten sie sich entscheiden, ob die Handelsvorteile außerhalb der EPAs unter Umständen überwogen (dies gilt tatsächlich für eine ganze Reihe von Staaten, die außerhalb eines EPAs in den Genuss weitreichender Handelszugeständnisse kämen), welcher der sechs EPAs sie angehören und welches regionale Integrationsvorhaben sie gegebenenfalls aufgeben wollten. Im Ergebnis wurden zwei RECs durch Mitgliederzuwachs gestärkt, die East African Community (EAC) und die Indian Ocean Commission (IOC). Die aus 14 Mitgliedstaaten bestehende Southern African Development Community (SADC) hingegen erlebte ein Fiasko: Botsuana, Lesotho, Mosambik, Swaziland und Namibia unterzeichneten im Dezember 2008 ein Abkommen mit der EU. Und während Staaten wie Angola den Verhandlungen ganz fern blieben und andere ihr Glück in einem anderen EPA suchten, weigerte sich die regionale Vormacht Südafrika, das EPA für das südliche Afrika zu unterzeichnen (stattdessen wurden die Beziehungen im Rahmen eines bereits zuvor geschlossenen bilateralen Freihandelsabkommens geregelt).
Neue Regionalismen jenseits der Staaten
Die genannten institutionellen Neuordnungen mit ihren Folgen in den Bereichen Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik betreffen die Beziehungen zwischen souveränen Staaten. Die Schwäche zahlreicher dieser Staaten, denen deshalb zuweilen auch lediglich eine juristische oder punktuelle Staatlichkeit attestiert wird,
Vielmehr gilt die Aufmerksamkeit einer Vielzahl informeller grenzüberschreitender Aktivitäten, durch die Menschen, Güter und Regionen jenseits von Staaten integriert werden. Auf diese Phänomene hatte der bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris angesiedelte Club du Sahel mit seinen Studien zu Westafrika zwar schon vor etlichen Jahren aufmerksam gemacht, aber erst im Zuge der Wiederbelebung der sogenannten Borderland Studies haben die Afrikawissenschaften begonnen, dies auf breiterer Basis zur Kenntnis zu nehmen.
Zudem stehen hier Beobachtungen im Mittelpunkt, die an die gewaltsamen Konflikte in Afrika seit dem Ende des Kalten Krieges anknüpfen. Infolge der Kriege in Sierra Leone und Liberia in Westafrika, in Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo im Gebiet der Großen Seen sowie dem Konfliktkomplex um das Horn von Afrika, der sich über den Sudan in den Tschad und die Zentralafrikanische Republik einerseits sowie nach Somalia andererseits erstreckt, haben Staaten als soziale Organisationseinheit an Bedeutung verloren und transnationale Räume unterschiedlicher Größenordnung mit ihren neuen Machtnetzwerken an Bedeutung gewonnen.
Daneben gilt es aber auch neuartige Netzwerke von "Helfern", die im Rahmen von groß, aber meist nur temporär angelegten transnationalen Interventionen agieren: Angehörige des Roten Kreuzes ebenso wie UN-Friedenstruppen.
Souveränität im Wandel
Die aktuellen Entwicklungen in Afrika sind hoch dynamisch und widersprüchlich: Auf der einen Seite entstehen - im Widerstreit der außenpolitischen Visionen einzelner Staaten, aber auch unter Druck des internationalen Umfeldes - neue Formen der Kooperation zwischen den afrikanischen Staaten. Auf der anderen Seite sind zahlreiche Formen intensiver Interaktionen zu beobachten, die sich jenseits juristischer Staatlichkeit herausbilden und diese prinzipiell auch unterminieren. Letzteres nimmt vielfältige institutionelle Formen an und ist von sehr unterschiedlicher Dauer. In Afrika treten neue Quellen von Macht hervor, die de facto eine Souveränität jenseits des schwachen Staates ausüben. Ebenso wie übrigens auch an den Grenzräumen der früheren UdSSR treffen im Zeitalter nach dem Ende des Kalten Krieges in Afrika konkurrierende Muster der Verräumlichung sozialen und kulturellen Handelns aufeinander. Dabei gerät die im Globalen Norden als so unerschütterlich geltende Hierarchie zwischen dem Lokalen und dem Globalen, die um einen stabilen, souveränen Nationalstaat angeordnet ist, ins Wanken. Entsprechend gibt es zahlreiche bewaffnete oder juristische Versuche, die Bedeutung der kolonialen Grenzen wieder zu stärken.
Wie dauerhaft die neuen Ordnungen sind, ist noch vollkommen offen. Die Herausbildung international nicht anerkannter de facto-Staaten im ehemaligen Somalia, wie Somaliland oder Puntland (seit nunmehr fast 18 Jahren), lässt allerdings erahnen, dass wir es hier nicht mit einer vorübergehenden Randerscheinung zu tun haben. Es gilt daher festzuhalten, dass der Staat als ausschließliche, alleinige oder gar relevante Bezugsgröße sozialen Handelns in substantiellen Teilen Afrikas ersetzt wird. Die traditionelle, in der europäischen Erfahrung begründete Art, Souveränität zu denken und zu praktizieren, nämlich in den Grenzen eines Nationalstaats, wird zunehmend von dieser territorialen Bindung entkoppelt.