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1939 und wir Essay | Zweiter Weltkrieg | bpb.de

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1939 und wir Essay

Norbert Frei

/ 8 Minuten zu lesen

Unser Bild vom Krieg ist dichter geworden. Das gilt für die Gesellschaftsgeschichte der "Heimatfront" ebenso wie für die Geschichte der Mobilisierung, der "Arisierung" und der Ausplünderung der besetzten Gebiete.

Einleitung

Wer den historischen Ort und die Bedeutung des 1. September 1939 im Gedächtnis der Deutschen zu bestimmen sucht, der kommt an einer Grundtatsache nicht vorbei: Ausgangs- und über Dekaden hinweg auch Fluchtpunkt jener aufklärerischen Zeitgeschichtsforschung, die sich seit den frühen Jahren der Bundesrepublik aus widrigen Anfängen heraus entwickelte, war nicht der Beginn des Zweiten Weltkriegs, sondern der 30. Januar 1933. Hitlers "Machtergreifung", die brutale Umformung der Weimarer Demokratie in die nationalsozialistische Diktatur - das war es, was eine erste Generation empirischer Zeitgeschichtsforscher in den 1950er und 1960er Jahren vor allem bewegte. Der deutsche Überfall auf Polen kam demgegenüber erst in zweiter Linie in den Blick, gewissermaßen als Konsequenz der "Auflösung der Weimarer Republik" (Karl Dietrich Bracher) und ihrer Verwandlung in den "Staat Hitlers" (Martin Broszat).



Obgleich von jeher auch als eine internationale Aufgabe betrachtet und betrieben, stand die Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik stets im Spannungsfeld widerstreitender gesellschaftlicher Erinnerungsinteressen. So erklärt sich, dass die frühen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des "Dritten Reiches" die Kriegsjahre meist nur als eine Art Annex behandelten und dass die Erforschung der zweiten Hälfte der Regimezeit, jedenfalls soweit damit mehr gemeint ist als die Militär- und Diplomatiegeschichte des Zweiten Weltkriegs, erst im Abstand von etwa einer Generation stärker in Gang kam: nämlich in den 1970er Jahren, als es nicht mehr ausschließlich Hitlers Zeitgenossen waren, die den Ton und die Themen setzten. Ablesbar ist dieser Wandel auch an der seit Ende der 1960er Jahre konzipierten und erst kürzlich zum Abschluss gebrachten zehnbändigen Reihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamts.

Im Unterschied zur Situation nach 1918 lagen die Probleme der gesellschaftlichen Vergegenwärtigung des Zweiten Weltkriegs jedoch schon seit 1945 nicht in der fehlenden Anerkennung der deutschen militärischen Niederlage. Und anders als nach dem Ersten Weltkrieg stellte sich auch die Schuldfrage so gut wie nicht, obgleich am unbelehrbaren rechten Rand die These eines von Hitler spätestens seit Sommer 1941 geführten antibolschewistischen "Präventivkriegs" bis heute ihre Verfechter findet. Höhere Hürden lagen - und liegen zum Teil noch immer - vielmehr dort, wo es um die Vorstellung geht, die Deutschen hätten den Krieg bloß auf Befehl ihres "Führers" geführt - und nicht zumindest phasenweise auch aus eigener Überzeugung.

Ironischerweise war es der Nürnberger Prozess, der es einer Mehrheit der Deutschen ermöglichte, sich mit der Tatsache der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg abzufinden; dies allerdings um den Preis der Fixierung auf jene vergleichsweise kleine Gruppe von "Hauptkriegsverbrechern", die dort, soweit man ihrer noch habhaft geworden war, vor Gericht gestanden hatten. In den späten 1940er und den 1950er Jahren halfen dann die verbreiteten totalitarismustheoretisch inspirierten Deutungen des "Dritten Reiches", die Alleinschuld an Krieg und "Zusammenbruch" bei Hitler und dem engsten Kreis der NS-Führung abzuladen. Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz, die der Krieg sehr wohl gefunden hatte, so lange er nichts als schnelle Siege zu produzieren schien, trat dahinter ebenso zurück wie die Verantwortung der Eliten.

In das kollektiv entlastende Bild einer zwar von Hitlers bis dahin erzielten Erfolgen begeisterten, den Krieg jedoch ablehnenden "Volksgemeinschaft" passte, was die Sozialdemokraten im Exil, aber auch der Sicherheitsdienst der SS in den ersten Tagen nach dem Einmarsch in Polen registrierten und was sogar ausländische Beobachter zu bestätigen schienen. William Shirer zum Beispiel, der gegenüber den Deutschen nicht eben unkritische amerikanische Rundfunkkorrespondent in Berlin, notierte am 3. September 1939 in sein Tagebuch: "keine Hurras, kein Frohlocken, kein Blumenwerfen, kein Kriegsfieber, keine Kriegshysterie. Noch nicht einmal Haß auf Franzosen und Briten." Der in diesen Zeilen angelegte und in den Jahrzehnten danach vielfach aufgerufene kontrastierende Vergleich mit dem "Augusterlebnis" 1914 ist mittlerweile allerdings von beiden Seiten her ins Wanken geraten: sowohl hinsichtlich der postulierten Skepsis 1939 als auch in Bezug auf die angenommene Kriegsbegeisterung ein Vierteljahrhundert zuvor. Nicht, dass es für das eine wie für das andere keine Belege gäbe. Aber im Lichte neuerer, auch medienwissenschaftlich informierter Untersuchungen stellen sich Fragen nach Aussagekraft und Tragweite der Quellen schärfer denn je.

Zweifellos war die enorme Popularität, die Hitler an seinem 50. Geburtstag genoss, nicht dem Nimbus des prospektiven Kriegsherrn geschuldet, sondern dem Faktum, dass er alle Erfolge, die als Revision der "Schmach von Versailles" verstanden werden konnten, bis dahin ohne Blutvergießen errungen hatte. Nicht dem kriegslüsternen Diktator, sondern dem "General Unblutig" galt die Bewunderung der Deutschen und seiner "heim ins Reich" geholten österreichischen Landsleute am 20. April 1939. In der Stilisierung des "Führers" zum Vollender der deutschen Geschichte, wie sie jetzt nicht nur im nationalprotestantischen Bürgertum anzutreffen war, schwang unüberhörbar die Furcht vor einem Krieg mit, der alles Erreichte zunichte machen könnte. Implizit ist damit aber auch gesagt, dass es keine prinzipielle Ablehnung weiterer Revisionen und Annexionen, sondern die Frage des damit verbundenen Risikos war, die viele "Volksgenossen" im Sommer 1939 um den Erhalt des Friedens bangen ließen.

Das erklärt den schnellen abermaligen Stimmungsschwenk nach dem unerwartet raschen Abschluss des Polenfeldzugs - und die grassierende Empörung über den Anschlag des Johann Georg Elser im Münchner Bürgerbräukeller am 8. November 1939, dem Hitler nur knapp entging. "Die Liebe zum Führer ist noch mehr gewachsen, und auch die Einstellung zum Krieg ist infolge des Attentats noch positiver geworden", registrierte der Sicherheitsdienst ein paar Tage später. Eine solche Formulierung ließ einerseits erkennen, dass der Krieg, über dessen Fortgang im Westen Ungewissheit herrschte, noch immer auf gewisse Vorbehalte stieß; andererseits deutete sie aber auch an, dass es keine unüberwindlichen politisch-moralischen Bedenken waren, die die Deutschen bewegten. Das zeigte sich höchst eindrucksvoll im Frühsommer 1940, als nach dem triumphalen Frankreichfeldzug die letzten Skrupel zugunsten einer weithin geteilten Siegermoral wichen.

Die kollektiven Begeisterungsstürme über die Niederringung des linksrheinischen "Erbfeindes" waren nach 1945 so wenig erörterungsfähig wie die Umstände und Folgen des Überfalls auf Polen. Wurde gegenüber Frankreich im Zeichen der von oben dekretierten Aussöhnung vor allem die Rücksichtslosigkeit und Systematik der ökonomischen Ausplünderung in den Jahren der Besatzung beschwiegen, so verschwanden die in Polen bereits seit September 1939 "hinter der Front" in großer Zahl verübten Verbrechen - mehr noch und länger als jene des Krieges gegen die Sowjetunion - im Zeichen des nun vorwaltenden Antikommunismus in einem ominösen Niemandsland des "Ostens". Nur so erklärt sich, dass der von Wehrmacht und SS-Einsatzgruppen in Gestalt von Erschießungen Tausender polnischer "Freischärler", Kriegsgefangener, Zivilisten und Juden exerzierte "Auftakt zum Vernichtungskrieg" (Jochen Böhler) hierzulande über Jahrzehnte hinweg kaum wahrgenommen wurde. Und nur so erklärt sich, dass zum Beispiel die Taten und Karrieren der nach Kriegsende in die Bürgerlichkeit der Bundesrepublik zurückgekehrten einstigen Kreishauptleute im Generalgouvernement bis in unsere Tage hinein als Verwaltungsroutine verharmlost werden konnten.

Nicht nur sind diese Verbrechen unterhalb der Schwelle zur systematischen Vernichtung der europäischen Juden in der deutschen Öffentlichkeit lange Zeit praktisch unbekannt geblieben; auch die zeitgeschichtliche Spezialforschung hat sich damit schwer getan. Welche Anstrengungen es kostete und welche gesellschaftlichen Spannungen damit verbunden waren, ein ungeschminktes Bild von der Kriegführung der Wehrmacht - längst vor dem "Kommissarbefehl" und dem "Unternehmen Barbarossa" - durchzusetzen, zu schweigen von ihrer Beteiligung am Holocaust, das hat die harte Debatte um die so genannte Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung noch in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre demonstriert. Die seit damals deutlich intensiver gewordene Forschung hat das Bild, wie man schon seinerzeit vermuten konnte, nur noch dunkler werden lassen.

Gemessen am Forschungsstand von vor zwei Jahrzehnten, zum 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, ist unser Bild aber nicht nur düsterer, sondern auch dichter geworden. Das gilt für die Gesellschaftsgeschichte der "Heimatfront", für die Geschichte der Kriegsmobilisierung, der "Arisierung" und der Ausplünderung der besetzten Gebiete ebenso wie für die Erfahrungsgeschichte des Krieges. Dies alles ist seit 1989 ins Zentrum eines gesteigerten, hauptsächlich wohl dem Generationenwandel geschuldeten Interesses gerückt, das längst nicht mehr allein die Zeitgeschichtsforschung bedient. Der Aufmerksamkeit für den Krieg des - zunächst vor allem: soldatischen - "kleinen Mannes" folgten die Erinnerungsberichte der "Zeitzeugen" und die Familienromane der Nachgeborenen. Neuerdings sind es Bücher über die Kinder des Krieges, die Aufmerksamkeit finden: verfasst nicht selten von diesen selbst unter Rückgriff auf eine zunehmend kultur-, gedächtnis- und tradierungsgeschichtlich fokussierte Fachwissenschaft.

Es wäre viel erreicht, wenn es gelänge, die Erfahrungen und Reflexionen dieser jüngsten "Teilnehmer" und Betroffenen des Krieges, die nun nicht nur in Deutschland an die Öffentlichkeit treten - man denke an das Vorhaben eines Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig, das gerade Kontur gewinnt -, mit aufgeklärtem geschichtlichem Wissen und einer daraus erwachsenden historischen Urteilskraft zu verbinden. Womöglich böte das in Zeiten, in denen manche Erwartungen an ein gemeinsames europäisches Gedächtnis enttäuscht worden sind, auch eine neue und günstigere Chance für eine integrative Erinnerung an den Beginn des Zweiten Weltkriegs und seine Folgen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dazu Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, erweiterte Taschenbuchausgabe, München 2009.

  2. Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bde. 1-10, Stuttgart 1979-2008.

  3. William L. Shirer, Berliner Tagebuch. Aufzeichnungen 1934-1941, Leipzig 1991, S. 192.

  4. Vgl. vor allem Jeffrey Verhey, Der "Geist von 1914" und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.

  5. Heinz Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich 1938-1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Herrsching 1984, S. 449 (13.11. 1939).

  6. Vgl. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen, Frankfurt/M. 2006.

  7. Dazu jetzt Markus Roth, Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen - Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte, Göttingen 2009. Ähnliches gilt etwa auch für die in das annektierte Gebiet um Auschwitz übergesiedelten Reichsdeutschen; vgl. Sybille Steinbacher, "Musterstadt" Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000.

  8. Vgl. zum Beispiel die von Helmut Krausnick, dem ehemaligen Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, betriebene Untersuchung über die Tätigkeit der Einsatzgruppen "hinter der Front", deren lange erwartete Publikation noch Anfang der 1980er Jahre von lebhaften Protesten "soldatischer Kreise" begleitet wurde, weil darin die Kooperation von Wehrmacht und SS erstmals deutlich zum Ausdruck kam; Helmut Krausnick/Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981, hier bes.S. 278.

  9. Norbert Frei, Faktor 1000. Wehrmacht und Wahrheit in Zeiten der Krawallkommunikation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.11. 1999, S. 49.

  10. Vgl. vor allem Johannes Hürter, Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42, München 2006; Felix Römer, Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42, Paderborn 2008.

  11. Hier soll der Hinweis auf einen Sammelband des Militärgeschichtlichen Forschungsamts und das Protokoll einer internationalen Konferenz des Instituts für Zeitgeschichte genügen: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, München 1989; Norbert Frei/Hermann Kling (Hrsg.), Der nationalsozialistische Krieg, Frankfurt/M. 1990.

  12. Vgl. Wolfram Wette (Hrsg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992.

  13. Kritisch dazu Harald Welzer, Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane, in: Mittelweg 36, 13 (2004), S. 53-64.

  14. Vgl. vor allem Nicholas Stargardt, Kinder in Hitlers Krieg, München 2008.

  15. Siehe Elisabeth von Thadden, Die Kriegskinder sind unter uns, in: Die Zeit vom 7.5. 2009, S. 50.

Dr. phil., geb. 1955; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich- Schiller-Universität Jena und Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Fürstengraben 13, 07743 Jena.
E-Mail: E-Mail Link: sekretariat.frei@uni-jena.de