Einleitung
Wer den historischen Ort und die Bedeutung des 1. September 1939 im Gedächtnis der Deutschen zu bestimmen sucht, der kommt an einer Grundtatsache nicht vorbei: Ausgangs- und über Dekaden hinweg auch Fluchtpunkt jener aufklärerischen Zeitgeschichtsforschung, die sich seit den frühen Jahren der Bundesrepublik aus widrigen Anfängen heraus entwickelte, war nicht der Beginn des Zweiten Weltkriegs, sondern der 30. Januar 1933. Hitlers "Machtergreifung", die brutale Umformung der Weimarer Demokratie in die nationalsozialistische Diktatur - das war es, was eine erste Generation empirischer Zeitgeschichtsforscher in den 1950er und 1960er Jahren vor allem bewegte. Der deutsche Überfall auf Polen kam demgegenüber erst in zweiter Linie in den Blick, gewissermaßen als Konsequenz der "Auflösung der Weimarer Republik" (Karl Dietrich Bracher) und ihrer Verwandlung in den "Staat Hitlers" (Martin Broszat).
Obgleich von jeher auch als eine internationale Aufgabe betrachtet und betrieben, stand die Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik stets im Spannungsfeld widerstreitender gesellschaftlicher Erinnerungsinteressen. So erklärt sich, dass die frühen Gesamtdarstellungen zur Geschichte des "Dritten Reiches" die Kriegsjahre meist nur als eine Art Annex behandelten und dass die Erforschung der zweiten Hälfte der Regimezeit, jedenfalls soweit damit mehr gemeint ist als die Militär- und Diplomatiegeschichte des Zweiten Weltkriegs, erst im Abstand von etwa einer Generation stärker in Gang kam: nämlich in den 1970er Jahren, als es nicht mehr ausschließlich Hitlers Zeitgenossen waren, die den Ton und die Themen setzten.
Im Unterschied zur Situation nach 1918 lagen die Probleme der gesellschaftlichen Vergegenwärtigung des Zweiten Weltkriegs jedoch schon seit 1945 nicht in der fehlenden Anerkennung der deutschen militärischen Niederlage. Und anders als nach dem Ersten Weltkrieg stellte sich auch die Schuldfrage so gut wie nicht, obgleich am unbelehrbaren rechten Rand die These eines von Hitler spätestens seit Sommer 1941 geführten antibolschewistischen "Präventivkriegs" bis heute ihre Verfechter findet. Höhere Hürden lagen - und liegen zum Teil noch immer - vielmehr dort, wo es um die Vorstellung geht, die Deutschen hätten den Krieg bloß auf Befehl ihres "Führers" geführt - und nicht zumindest phasenweise auch aus eigener Überzeugung.
Ironischerweise war es der Nürnberger Prozess, der es einer Mehrheit der Deutschen ermöglichte, sich mit der Tatsache der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg abzufinden; dies allerdings um den Preis der Fixierung auf jene vergleichsweise kleine Gruppe von "Hauptkriegsverbrechern", die dort, soweit man ihrer noch habhaft geworden war, vor Gericht gestanden hatten. In den späten 1940er und den 1950er Jahren halfen dann die verbreiteten totalitarismustheoretisch inspirierten Deutungen des "Dritten Reiches", die Alleinschuld an Krieg und "Zusammenbruch" bei Hitler und dem engsten Kreis der NS-Führung abzuladen. Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz, die der Krieg sehr wohl gefunden hatte, so lange er nichts als schnelle Siege zu produzieren schien, trat dahinter ebenso zurück wie die Verantwortung der Eliten.
In das kollektiv entlastende Bild einer zwar von Hitlers bis dahin erzielten Erfolgen begeisterten, den Krieg jedoch ablehnenden "Volksgemeinschaft" passte, was die Sozialdemokraten im Exil, aber auch der Sicherheitsdienst der SS in den ersten Tagen nach dem Einmarsch in Polen registrierten und was sogar ausländische Beobachter zu bestätigen schienen. William Shirer zum Beispiel, der gegenüber den Deutschen nicht eben unkritische amerikanische Rundfunkkorrespondent in Berlin, notierte am 3. September 1939 in sein Tagebuch: "keine Hurras, kein Frohlocken, kein Blumenwerfen, kein Kriegsfieber, keine Kriegshysterie. Noch nicht einmal Haß auf Franzosen und Briten."
Zweifellos war die enorme Popularität, die Hitler an seinem 50. Geburtstag genoss, nicht dem Nimbus des prospektiven Kriegsherrn geschuldet, sondern dem Faktum, dass er alle Erfolge, die als Revision der "Schmach von Versailles" verstanden werden konnten, bis dahin ohne Blutvergießen errungen hatte. Nicht dem kriegslüsternen Diktator, sondern dem "General Unblutig" galt die Bewunderung der Deutschen und seiner "heim ins Reich" geholten österreichischen Landsleute am 20. April 1939. In der Stilisierung des "Führers" zum Vollender der deutschen Geschichte, wie sie jetzt nicht nur im nationalprotestantischen Bürgertum anzutreffen war, schwang unüberhörbar die Furcht vor einem Krieg mit, der alles Erreichte zunichte machen könnte. Implizit ist damit aber auch gesagt, dass es keine prinzipielle Ablehnung weiterer Revisionen und Annexionen, sondern die Frage des damit verbundenen Risikos war, die viele "Volksgenossen" im Sommer 1939 um den Erhalt des Friedens bangen ließen.
Das erklärt den schnellen abermaligen Stimmungsschwenk nach dem unerwartet raschen Abschluss des Polenfeldzugs - und die grassierende Empörung über den Anschlag des Johann Georg Elser im Münchner Bürgerbräukeller am 8. November 1939, dem Hitler nur knapp entging. "Die Liebe zum Führer ist noch mehr gewachsen, und auch die Einstellung zum Krieg ist infolge des Attentats noch positiver geworden", registrierte der Sicherheitsdienst ein paar Tage später.
Die kollektiven Begeisterungsstürme über die Niederringung des linksrheinischen "Erbfeindes" waren nach 1945 so wenig erörterungsfähig wie die Umstände und Folgen des Überfalls auf Polen. Wurde gegenüber Frankreich im Zeichen der von oben dekretierten Aussöhnung vor allem die Rücksichtslosigkeit und Systematik der ökonomischen Ausplünderung in den Jahren der Besatzung beschwiegen, so verschwanden die in Polen bereits seit September 1939 "hinter der Front" in großer Zahl verübten Verbrechen - mehr noch und länger als jene des Krieges gegen die Sowjetunion - im Zeichen des nun vorwaltenden Antikommunismus in einem ominösen Niemandsland des "Ostens". Nur so erklärt sich, dass der von Wehrmacht und SS-Einsatzgruppen in Gestalt von Erschießungen Tausender polnischer "Freischärler", Kriegsgefangener, Zivilisten und Juden exerzierte "Auftakt zum Vernichtungskrieg" (Jochen Böhler) hierzulande über Jahrzehnte hinweg kaum wahrgenommen wurde.
Nicht nur sind diese Verbrechen unterhalb der Schwelle zur systematischen Vernichtung der europäischen Juden in der deutschen Öffentlichkeit lange Zeit praktisch unbekannt geblieben; auch die zeitgeschichtliche Spezialforschung hat sich damit schwer getan.
Gemessen am Forschungsstand von vor zwei Jahrzehnten, zum 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs,
Es wäre viel erreicht, wenn es gelänge, die Erfahrungen und Reflexionen dieser jüngsten "Teilnehmer" und Betroffenen des Krieges, die nun nicht nur in Deutschland an die Öffentlichkeit treten - man denke an das Vorhaben eines Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig, das gerade Kontur gewinnt -, mit aufgeklärtem geschichtlichem Wissen und einer daraus erwachsenden historischen Urteilskraft zu verbinden. Womöglich böte das in Zeiten, in denen manche Erwartungen an ein gemeinsames europäisches Gedächtnis enttäuscht worden sind, auch eine neue und günstigere Chance für eine integrative Erinnerung an den Beginn des Zweiten Weltkriegs und seine Folgen.