Einleitung
Von Regierungschefs wird viel verlangt; gelegentlich werden sie auch mit Erwartungen überfrachtet. Als ein renommierter Journalist Helmut Kohl einmal fragte, warum er bei der Vermögensabgabe zur Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung nicht die politische Führung ergriffen habe, ging dem Kanzler die Galle über: "Lieber Freund, ich habe mir schon viele Mehrheiten erkämpft. Sie sitzen jetzt schön als Journalist in Ihrem Sessel und sagen: Dann erkämpf mal 'ne Mehrheit, das müssen Sie erst einmal machen."
Damit hatte er das Grundproblem politischer Führung skizziert: Parlamentarische Mehrheiten stellen sich nur in den seltensten Fällen von alleine ein. Zwar ist richtig, dass Mehrheitsfraktionen und Regierung in einem parlamentarischen Regierungssystem eine Funktionseinheit bilden. Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch keineswegs, dass die Koalitionsfraktionen automatisch die gouvernementalen Vorlagen gefügsam unterstützen.
Gesprächsfigur der rationalen Argumentation
Vertrauen wird Bundeskanzlern und -kanzlerinnen entgegengebracht, wenn sie von den Mehrheitsfraktionen für sachkompetent gehalten werden. Je fachorientierter die Gesprächsrunden ausfallen, desto größeres Gewicht erlangt die Fähigkeit, eigene Positionen rational zu begründen und dem Argument des politischen Gegenübers eigene Überlegungen entgegenzusetzen. Im Kabinett und in der Fraktion fällt es eher als in öffentlichen Diskursen auf, wenn der Kanzler nicht ganz auf der Höhe der Informationen ist.
Allerdings ist für die Überzeugungskraft des Bundeskanzlers nicht allein entscheidend, wie viel Wissen er verarbeiten kann, sondern auch, ob er es versteht, die Sachlage pointiert auf den Punkt zu bringen. Ein politischer Wegbegleiter war über Adenauers Fähigkeiten erstaunt: "Unheimlich, wo nahm dieser Mann den Geist zur logischen Begründung der kompliziertesten politischen Vorgänge und die Kraft zur überzeugenden Durchsetzung seiner Argumente her?"
Etikette, Taktgefühl und Höflichkeit
Bundeskanzler sind auf politische Mitspieler angewiesen, mit denen sie nicht nur in einer Situation, sondern dauerhaft zusammenarbeiten können. Je mehr zentrale politische Akteure er oder sie verstimmt, reizt oder gar demütigt, desto kleiner wird langfristig der politische Handlungsspielraum. Auf diesen Umstand haben Kanzler reagiert, indem sie sich nicht zu allen Zeiten, aber oftmals sehr höflich gezeigt haben. Taktgefühl und Empathie stellen jene Ressourcen dar, die den Kanzler befähigen zu erkennen, wie zu kommunizieren ist, um das Selbstverständnis und die Rolle des Gegenübers zu bestätigen und aufzuwerten: "Willy Brandts Charme lag in seiner Fähigkeit zum Zuhören, die andere Menschen zum Sprechen brachte, und in seiner Art, Menschen für seine Sache zu gewinnen, indem er sie von sich überzeugte. Er konnte sich, freundlich und aufmerksam, selbst um Leute bemühen, von denen ich wußte, daß er wenig von ihnen hielt."
Ebenso berichtet ein enger politischer Freund über Adenauer: "Er konnte zuhören, und die langen Jahre der Verantwortung haben ihn nicht zum Dozieren und zum Monolog in der Unterhaltung verleitet. Neues aus der Welt und von den Menschen zu erfahren, war ihm immer wichtig."
Taktgefühl umfasst ferner das Vermögen, Situationen angemessen - das bedeutet in Übereinstimmung mit den Gesprächspartnern - zu definieren. Welche Informationen gegenüber welchem Gesprächspartner in welcher Form zur Sprache gebracht werden können, wird von Situation zu Situation voneinander abweichen. Das Gefühl hierfür bestimmt maßgeblich das Vermögen, die politischen Mitspieler zu beeinflussen. Die Fähigkeit zur Höflichkeit war unter den bisherigen Bundeskanzlern allerdings nicht gleichmäßig verteilt. Eine Wegbegleiterin urteilte über Helmut Schmidt: "Er war damals (viele finden dies auch heute noch) oft sehr rüde im Ton - daher sein Spitzname Schmidt-Schnauze. Als Kanzler hat er sich zwar in dieser Hinsicht gewandelt, geblieben aber ist der Mangel an Leichtigkeit, die Abneigung gegen Small talk, dieses so nützliche Requisit jeder Gesellschaft. Er fand, daß er ohne dieses Zubehör raffinierter Lebensweise sehr gut auskommt und dabei auch noch Zeit spart."
Dank, Lob und Anteilnahme
Manche Kanzler interpretierten ihre Rolle sehr formal, wollten auch in kleinen Kreisen mit "Herr Bundeskanzler" angesprochen werden und stellten private Bezüge ganz in den Hintergrund. Die Autorität des Amtes wird hierbei auch kommunikativ in den Vordergrund gestellt und genutzt. Andere Kanzler konnten insbesondere dadurch Ressourcen mobilisieren, indem sie ein vertrauliches und freundschaftliches Verhältnis zu einem großen Personenkreis aufbauten. Eine ehemalige Bundesministerin berichtet, wie Kohl dieses praktizierte: "Zu seiner täglichen Routine gehörte die Politik per Telefon. Vor seinen Rufrunden bei Ortsvorsitzenden oder anderen Funktionsträgern ließ er sich genau über deren persönliche und parteiinterne Situation berichten. Was für eine Sensation für einen Regionalpolitiker, dass der Kanzler morgens um acht bei ihm zu Hause anrief, um sich für die Wahlkampfhilfe zu bedanken und beispielsweise zu fragen, was die Kinder treiben, was sie studieren. Das Gefühl, von ihm persönlich gekannt zu werden, motivierte die Auserwählten unglaublich. Es verstärkte darüber hinaus ihre Bezogenheit auf den Kanzler, für den es zu arbeiten galt."
Eine ähnliche Funktion wird durch die Kommunikationsformen des Lobes und des Dankes ausgeübt.
Nicht allen Kanzlern war die rhetorische Form des Lobes sofort zugänglich: Helmut Schmidt bekannte, dass er sich diese Kommunikationstechnik erst nach und nach aneignen musste, da sie seinem Naturell widersprach:"Ich habe im Laufe des Lebens gelernt, dass es notwendig ist, andere Leute auch zu loben. Ich selber bin kaum jemals von einem Vorgesetzten gelobt worden; aber ich habe das Lob auch nicht vermisst."
Um Konflikte auf der Beziehungsebene zu glätten, eignet sich das Lob insbesondere, wie der persönliche Referent von Konrad Adenauer, Günther Bachmann, illustriert: "Und es war auch so, dass es bei Adenauer im Kabinett zu durchaus heftigen Kontroversen kam. (...) Aber auch wenn es einige Verärgerung gab, beim Kanzler hielt dies in der Regel nicht lange vor. Er hat es immer wieder verstanden, wenig später in der gleichen Sitzung noch ein Extra-Lob für den Kontrahenten auszusprechen und so eine versöhnliche Atmosphäre zu schaffen."
Das Lob und den Dank haben Kanzler auch mit taktischen und strategischen Gesichtspunkten eingesetzt. Nicht zu verkennen ist, dass die rhetorische Form des Lobes auf ganz subtile Art Über- und Unterordnungen markiert. Denn ein Mitarbeiter lobt in der Regel nicht seinen Chef, sondern wird vom Chef gelobt. So zeigt auch der Kanzler, indem er Dank und Lob verteilt, dass er derjenige ist, der bestimmt, welche Handlungen und Verhaltensweisen "lobenswert" sind. Auch im Lob offenbaren sich damit die Machtverhältnisse.
Humor und Anekdoten
Während der Humor einiger Bundeskanzler in der öffentlichen Wahrnehmung große Bekanntheit erreicht hat - Konrad Adenauers rheinischer Witz war legendär, und Willy Brandt hat sogar eine eigene Witzesammlung herausgegeben -, hat sich die politikwissenschaftliche Forschung bisher kaum der Frage angenommen, wie Regierungschefs diese Kommunikationsform eingesetzt haben.
Mit humorvollen Einlagen kann der Kanzler auf spielerische Weise Konflikte thematisieren und signalisiert damit, dass er Einwände oder Sorgen als berechtigt empfindet. Beispielhaft für diese Form des Humors ist der historische Vergleich, mit dem Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger die Mitglieder der CDU/CSU ansprach, die sich mit der Konstellation der Großen Koalition nicht abfinden wollten und ausgeprägte Feindseligkeit gegenüber der SPD hegten. Ihren Groll thematisierte der Kanzler folgendermaßen: "Ich kann mir denken, (...) daß mancher unserer alten politischen Haudegen in Rückerinnerung an die knisternde Kampfatmosphäre früherer Jahre sich so verhält wie jener bayerische Bauer nach 1871, der mit stiller Wehmut sagte: Das waren noch Zeiten, als man auf die Preußen noch schießen durfte!"
Genauso wie Humor liebenswerte Konturen einer Persönlichkeit darstellen und fragile Beziehungen punktuell entlasten kann, können Witze eine zwischenmenschliche Beziehung vergiften. Adenauer, aber auch Schröder waren zum Beispiel bekannt dafür, dass sie beizeiten Witze von oben herab machten und Asymmetrien herstellten.
Anekdoten stellen im Vergleich zu Witzen längere Erzählfiguren dar, die Kanzler taktisch eingesetzt haben, wie sich ein ehemaliger Kanzleramtsmitarbeiter erinnert: "Wenn Konrad Adenauer etwa vor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu einem bestimmten Sachverhalt nichts Konkretes sagen wollte, weil die Regierung ihre Entscheidung noch nicht getroffen hatte oder weil außenpolitische Rücksichten es nahelegten, eine Sache nicht allzu deutlich darzustellen, dann verfiel er aufs Erzählen. Er schilderte dann zum Beispiel minutenlang, wie er in Washington empfangen worden war oder wie sein Freund Charles de Gaulle sich in Paris um ihn bemüht hatte. Oft gab Adenauer auch Geschichten (oder Dönekes, wie man im Rheinland sagt) aus seiner Zeit als Kölner Oberbürgermeister zum besten, um eine angespannte Atmosphäre aufzulockern - dasselbe machte auch Kohl, indem er von seinen politischen Anfängen im Ludwigshafener Stadtrat oder aus seinen ersten Jahren als Ministerpräsident erzählte."
Allerdings können Anekdoten nicht zu allen Zeiten und beliebig oft eingesetzt werden. Je mehr von den Teilnehmern eine sachorientierte, rationale Gesprächsleitung durch den Kanzler erwartet wird, desto enger werden die Grenzen für umfangreichere narrative Figuren ausfallen. Erkennt ein Bundeskanzler die Limitierungen nicht, kann es mitunter auch zu Unmutsbekundungen kommen. So ist zum Beispiel ein Kommentar von Franz Josef Strauß überliefert, dass er sich "das nächste Mal eine Hängematte mit ins Kabinett bringen" werde, "wenn der Kanzler [Kiesinger] wieder zu einem seiner schöngeistigen Höhenflüge ansetze".
Inszenierung von Stärke: Machtworte
Machtworte spielen in den politischen Arenen zwar eine viel geringere Rolle, als allgemein angenommen wird, dennoch sind sie nicht bedeutungslos. Mit dieser Kommunikationsform sollen harte, direkte Zurechtweisungen erfasst werden, die eine Über- und Unterordnung und damit Machtverhältnisse markieren. Die öffentlichen Erwartungen an die Rolle "Bundeskanzler" fordern die Amtsinhaber geradezu auf, sich beizeiten als führungsstarke Akteure zu inszenieren. Mit der Rolle korreliert die Erwartung (vor allem der Öffentlichkeit), dass Bundeskanzler Einfluss auf die Richtung des politischen Kurses nehmen und sich im Konfliktfall auch durchsetzen. Diese Rollenerwartung legt es nahe, dass der Führungsanspruch gelegentlich durch ein symbolisches Machtwort untermauert wird, wie es zum Beispiel Kurt Georg Kiesinger zu tun pflegte: "Wer mit meinen Richtlinien nicht einverstanden ist, der soll es sagen und gehen, man kann sich durch opponierende Kabinettsmitglieder nicht an der Arbeit hindern lassen."
Das Prekäre an Machtworten ist allerdings, dass sie auch schwere menschliche Belastungen mit sich bringen können. Ein sozialdemokratischer Abgeordneter schildert einen Vorgang mit einem solchen Ausgang, bei dem Helmut Schmidt einen Kabinettskollegen zurechtwies: "Ich denke, der Kanzler schätzte es nicht, wenn sich Minister häufig zu Fragen äußerten, die nicht ihr Ressort betrafen. Ein wenige Zeit zuvor ernannter Minister sprach zu einer Steuerrechtsfrage, die mit seinem Arbeitsgebiet nichts zu tun hatte. Der Kanzler meinte, er möge an das Schicksal seines Vorgängers denken und nur noch zu Angelegenheiten seines Ressorts sprechen. (Der Vorgänger war entlassen worden)."
Eine solche Art, jemanden zu maßregeln, wird nicht nur sensible Persönlichkeiten kränken, sondern bei vielen Mitarbeitern zu Verstimmungen führen. Auch wenn sie sich in der Situation nicht sofort wehren, wird diese Erfahrung ihr zukünftiges Verhalten gegenüber dem Bundeskanzler mitbestimmen - und sicher nicht im positiven Sinne. Die negativen Auswirkungen von Machtworten werden daher vor allem in der langfristigen Perspektive zum Tragen kommen.
Memoiren politischer Akteure zeigen, dass nicht nur Schmidt die Fähigkeit hatte, andere Menschen "zur Minna zu machen"; auch Adenauer hatte hierin seine Techniken stetig weiterentwickelt, wie sich ein Abgeordneter erinnert: "Er kanzelte gelegentlich widersprechende Abgeordnete derart ab, machte sie lächerlich oder stellte sie bloß, daß jedes Fraktionsmitglied es sich sehr genau überlegte, ob es einen größeren Konflikt mit dem Alten riskieren wollte."
Solche Angriffe können Furcht auslösen und damit interne Gegner zur Unterordnung zwingen. Allerdings wird ein Kanzler mit diesem Mechanismus langfristig nicht die Gefolgschaft ersetzen können, die sich aus innerer, freiwilliger Zustimmung ergibt.
Nonverbale Selbstdarstellung
Zur Kommunikation eines Bundeskanzlers gehört neben seiner verbalen auch seine nonverbale Darstellung. Gleichwohl dieser Faktor in der Memoirenliteratur durchaus Erwähnung findet, hat sich die politikwissenschaftliche Forschung diesem Aspekt noch nicht umfassender angenommen. Die folgende Schilderung der ehemaligen CDU-Bundesministerin Rita Süssmuth zeigt, dass nonverbale Gesten im Führungsprozess eine große Rolle einnehmen: "Helmut Kohl betritt einen Sitzungsraum. Er legt einem Gesprächspartner die Hand auf den Arm, oder kameradschaftlich den Arm um die Schulter. Er vergewissert sich seiner körperlichen Wirkung, er sendet dem anderen Zeichen der Zustimmung und Nähe oder der Distanz. Lohn, Lob, Strafe, alles nonverbal ausgedrückt: Dieser Einsatz von Leiblichkeit im Spiel der Macht ist in der Tat väterlich. Er berechnet das Wecken früherer Erwartungen und verfehlt bei den meisten seine Wirkung nicht."
Körperliche Gesten enthalten Informationen, die anzeigen, wie Beziehungen definiert werden. Eine positive Grundstimmung haben Kanzler hergestellt, indem sie ausgewählte Personen hofiert haben - etwa durch anerkennende Blicke, eine zugewandte Körpersprache oder ein freundliches Lächeln. Allerdings haben Kanzler nonverbale Gesten ebenso benutzt, um Personen, die sie als leidig und störend empfunden haben, Geringschätzung spüren zu lassen. Über Helmut Kohl wird berichtet, dass er allein durch Gesten bestimmte, "wen es um ihn herum gibt - wen er wahrnimmt und grüßt, ob er grüßt und wie. Es kann ein kurzes Nicken sein oder eine nachlässig hingehaltene Hand, während er dem Begrüßten nicht einmal in die Augen sieht, sondern mit seitwärts weggewandtem Kopf bereits beim Nächsten ist."
Und Helmut Schmidt pflegte Diskussionen gelegentlich auch nonverbal zu steuern: Wenn etwa sein Innenminister Werner Maihofer in Kabinettssitzungen zu sehr ins Grundsätzliche geriet, nahm der Kanzler - so wird berichtet - nur die Brille ab und massierte "erkennbar geschmerzt seine Schläfen".
Führung durch Kommunikation
Die rationale Argumentation, das Taktgefühl, das Lob und beizeiten auch das Machtwort stellen zentrale kommunikative Führungskategorien dar. Die Rolle "Bundeskanzler" bzw. "Bundeskanzlerin" ist allerdings so weitmaschig definiert, dass unterschiedliche Interpretationen möglich sind. Die Amtsinhaber von Konrad Adenauer bis Angela Merkel haben sich unter anderem darin unterschieden, wie sie ihre kommunikativen Ressourcen eingesetzt haben. Durch ihre politischen Erfahrungen scheinen sie ein Gespür dafür entwickelt zu haben, welche Kommunikationsformen situationsadäquat und wie Situationen zu lesen waren. Politische Mehrheiten sind für Bundeskanzler nur dann zu erreichen, wenn sie einerseits - auch machtbewusst - einfordern, dass ihnen der nötige Respekt gezollt wird, sie aber andererseits auch verstehen, mit den politischen Mitspielern ein kooperatives Verhältnis zu pflegen. "Ohne seine parlamentarische Mehrheit ist ein Bundeskanzler nur dann und dort etwas, wo er sie nicht braucht. Wenn es zum Schwur kommt, ist er ohne sie ein verlorener Mann."