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Die türkische AKP als Vorbild für die arabische Welt? | Türkei | bpb.de

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Die türkische AKP als Vorbild für die arabische Welt?

Loay Mudhoon

/ 15 Minuten zu lesen

Hervorgegangen aus einer islamistischen Partei, hat sich die AKP seit ihrem Regierungsantritt 2002 zu einer Partei der "neuen türkischen Mitte" entwickelt. Auf den arabischen Raum lassen sich die türkischen Erfahrungen im Umgang mit dem Islamismus jedoch kaum übertragen.

Einleitung

Im Zuge des epochalen Bewusstseinsschocks nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nahm die internationale Debatte über die Rolle der türkischen Republik als zivilisatorisches Entwicklungsmodell für die Modernisierung der Region des Nahen und Mittleren Ostens und als kulturelle Brücke zwischen dem "Westen" und der "islamischen Welt" sowohl auf akademischer Ebene als auch auf Ebene der Entscheidungseliten und der ihnen nahestehenden Think-Tanks deutlich an Intensität zu.



Der Modellcharakter der Türkei für einen moderaten Islam als potentieller Partner für den Westen in einer "Allianz für Frieden und gegen globale Gefahren" und als Mittelweg zwischen radikalem Islamismus und "offiziellem Staatsislam", auch "Petro-Islam" genannt, wurde immer wieder sowohl von europäischen und amerikanischen Entscheidungseliten als auch von Vertretern eines religiös-demokratischen Konservatismus in der türkischen AKP-Regierung (Adalet ve KalkÝnma Partisi, "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung") hervorgehoben. Auch US-Präsident Barack Obama scheint die weltpolitische Dimension eines funktionierenden und glaubwürdigen "Modellstaats" für die Vereinbarkeit von Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit - allesamt genuine Errungenschaften der westlich geprägten Moderne - mit dem Islam erkannt zu haben. Anscheinend davon angetrieben, hat Obama bei seinem Türkei-Besuch im April 2009 für die Aufnahme des mehrheitlich muslimischen Landes in die Europäische Union (EU) plädiert. Die moderne Türkei sei auf ähnlichen Werten wie die USA errichtet worden - "als säkulares Land mit Respekt für die Religion, den Rechtsstaat und alle Freiheiten".

Im Folgenden soll primär der Frage nachgegangen werden, inwiefern die türkische AKP islamistischen bzw. islamischen Parteien und Bewegungen im arabischen Raum als Vorbild für eine mögliche Integration in die bestehenden politischen Systeme dienen kann. Hieraus ergeben sich weitere, untergeordnete Fragestellungen: Wie kam es zur Reform des türkischen Islamismus und inwiefern unterscheiden sich die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen in der Türkei von denen in den arabischen Staaten? Als Einstieg in das Thema bietet sich eine kurze Einführung in die historischen und politischen Besonderheiten der Türkei und in die Genese der AKP an.

Die Türkei als islamischer Sonderfall

Innerhalb der islamischen Welt stellt die Türkei in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall dar. Neben Indonesien ist sie eine der wenigen funktionierenden muslimisch-säkularen Demokratien - wenn auch mit unleugbaren Defiziten. Sie ist das einzige Land in der muslimischen Staatengemeinschaft, in dem der Islam nicht als Staatsreligion beziehungsweise als erste Quelle der Gesetzgebung institutionalisiert wurde. Gleichzeitig ist der Laizismus als das wichtigste Leitprinzip der Republik in der türkischen Verfassung fest verankert. Hinzu kommt, dass in keinem anderen Staat mit überwiegend muslimischer Bevölkerung die Religion so sehr aus dem öffentlichen und politischen Leben verdrängt worden ist.

Diese Tatsache liegt vor allem darin begründet, dass die vom Staatsgründer "Atatürk" durchgesetzte Trennung von Staat und Religion im Laufe der Geschichte der türkischen Republik immer wieder sowohl Gegenstand als auch Instrument politischer Auseinandersetzungen gewesen ist - und bis heute einem sehr rigiden, jakobinischen Laizismusverständnis unterliegt, das sich Re-Islamisierungstendenzen, aber auch jeglicher religiöser Sichtbarkeit im öffentlichen Leben vehement entgegenstellt. Denn "der Laizismus jakobinischer Prägung betrachtet religiöse Anschauungen und religiöse Praxis ausschließlich als Gewissensfragen des Einzelnen. Im Gegensatz zu dieser positivistischen Auffassung wird der Laizismus nach angelsächsischem Verständnis lediglich unter rein politischen und juristischen Gesichtspunkten betrachtet, das heißt als institutionelle Trennung von Religion und Staat. Sie wendet sich somit nicht gegen öffentliche oder soziale Äußerungsformen der Religion, solange diese nicht die Belange des Staates berühren". Die mächtigen Institutionen des laizistisch-kemalistischen Staates, insbesondere in Militär und Justiz, fungieren immer noch als Hüter der Republik und starke Bastionen gegen alle Versuche, die bestehende Ordnung zu gefährden.

Der Kampf um die (Neu-)Interpretation des Laizismus ist auch ein Kampf um die "kulturelle Hegemonie" zwischen den Anhängern der kemalistischen Staatsideologie aus dem militärisch-bürokratischen Lager, welche seit Gründung der Republik 1923 die Schlüsselpositionen in Politik, Medien, Bürokratie, Militär und Justiz innehatten, und den neuen islamisch-konservativen Eliten um die AKP. Der Machtkampf hat sich seit dem Frühjahr 2007 verschärft. Hierbei geht es nicht um die Etablierung einer anderen Staatsform, sondern lediglich um die "Deutungshoheit über die Identität der Republik".

Die Zuspitzung des Machtkampfes gipfelte in einer Staatskrise um die Wahl eines neuen Staatspräsidenten im Jahr 2007, als kemalistisch-nationalistische Kräfte die Wahl des damaligen Außenministers Abdullah Gül kategorisch ablehnten und die Regierungspartei sich auch auf keinen Kompromisskandidaten einließ. Im wohl ersten "Internetputsch" der Geschichte drohten die türkischen Generäle am 27. April 2007, gegen alle Kräfte vorzugehen, welche die laizistischen Grundwerte der Republik in Frage stellen. Das Verfassungsgericht ließ sich instrumentalisieren und verhinderte nach Drohungen der kemalistischen Militärelite die Wahl Güls zum Staatspräsidenten.

Nachdem die Präsidentenwahl gescheitert war und die Polarisierung zwischen den weltlichen und islamisch-konservativen Kräften das Land lähmte, entschied sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan für vorgezogene Parlamentswahlen am 22. Juni 2007. Trotz des fulminanten Wahlsiegs der AKP dauerte die politische Polarisierung fort und führte im vergangenen Jahr zur Einleitung eines Verbotsverfahrens gegen die Regierungspartei. Der Generalstaatsanwalt forderte mit der Begründung, dass die AKP ein Zentrum antisäkularer Aktivitäten sei, ihre Auflösung und ein Betätigungsverbot für ihre Spitzenpolitiker. Das Verfahren endete zwar mit einem knappen Freispruch, gleichwohl wurden aber der AKP die staatlichen Finanzzuschüsse erheblich gekürzt.

Diese zunehmende politische und gesellschaftliche Polarisierung verringerten den Handlungsspielraum der regierenden Eliten und hatten insbesondere seit Ende 2005 in erheblichem Ausmaß auch den Reformprozess des Landes verlangsamt.

Zu den wichtigen Besonderheiten der türkischen Republik gehört auch die Tatsache, dass sie als einziges muslimisches Land Mitglied der NATO ist und Beitrittsverhandlungen mit der EU führt, darüber hinaus der Konferenz der Islamischen Staaten angehört. Sie schafft als "einziges Land diesen Dreierspagat zwischen dem Transatlantischen Bündnis, der EU und der islamischen Welt - das sind die Assets der Türkei aus friedenspolitischer Sicht".

Entstehung der AKP

Im Laufe der Geschichte der Republik Türkei hat der Islam sehr unterschiedliche Rollen gespielt. Nachdem Staatsgründer "Atatürk" die strikte Trennung von Staat und Religion verfügt hatte, wurde der Islam während der darauffolgenden Einparteienherrschaft weitestgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt - zwischen 1933 und 1948 war nicht einmal ein Studium der Religion möglich.

Doch die Türkei wurde nie völlig entislamisiert, sondern lediglich von oben säkularisiert. Die bereits im Osmanischen Reich bestehende staatliche Unterwerfung des Islams wurde in die neue westliche Staatsräson übernommen und massiv ausgeweitet. Damit wollte "Atatürk" aus der Türkei einen modernen Nationalstaat nach europäischem Vorbild machen, der als religiöser Dienstleister fungiert.

Nach der Einführung des Mehrparteiensystems im Jahr 1946 nahm der Islam als einendes Element im Vielvölkerstaat Türkei zunächst eine integrative Funktion ein. Doch spätestens mit der Gründung der Millî-Görüş-Bewegung 1967 und der ihr zuzuordnenden MNP (Millî Nizam Partisi, "Partei der Nationalen Ordnung") von Necmettin Erbakan 1970 trat eine Strömung in den Vordergrund, die mit eindeutig islamistischem Programm die Hüter des Laizismus in Alarmbereitschaft versetzte.

Mit dem Militärputsch von 1980 wurde eine "staatspolitische Zäsur im Lichte der Türkisch-Islamischen Synthese (TIS) eingeleitet": Die Ausweitung der staatlich-religiösen Dienstleistungen, die Einführung des Religionsunterrichts als Pflichtfach und die Instrumentalisierung der staatlichen Religionsbehörde (Diyanet) zur "Förderung der nationalen Solidarität und Integration" führten nicht nur zu einer Nationalisierung des Islams, sondern auch zur Islamisierung der Nation von oben. Das Militär hat im Zuge seiner Intervention zwar sämtliche politische Parteien verbieten lassen, darunter auch Erbakans MSP (Millî Selamet Partisi, "Nationale Heilspartei"), die zuvor in mehreren Regierungskoalitionen vertreten gewesen war. Zugleich räumte es dem sunnitischen Islam aber eine eigenständige und wichtige Rolle in der gesellschaftspolitischen Entwicklung ein: Er diente dem kemalistischen Staat als "neue" alte Legitimationsressource. Hier kam es zu einer "Politisierung des Islams von oben, also von Staatsseite aus, mit dem Ziel, durch die Propagierung eines republikanisch-laizistischen und ethno-nationalen, sprich türkifizierenden Staatsislam die gesamte türkische Gesellschaft zu säkularisieren, unterschiedliche konfessionelle Gemeinschaften zu homogenisieren (vor allem den alevitischen Glauben zu sunnisieren) und die kurdische Identität zu marginalisieren, damit die territoriale Einheit des Landes (gegen kurdische Nationalisten) gesichert ist".

Im Jahr 1995 gelang es Erbakan, die Parlamentswahlen mit der RP (Refah Partisi, "Wohlfahrtspartei") zu gewinnen und den Auftrag zur Regierungsbildung zu erhalten. Unter dem Druck des vom Militär dominierten Nationalen Sicherheitsrates zerbrach die Regierung allerdings 1997 und die RP, Nachfolgepartei der verbotenen MSP, wurde 1998 vom Verfassungsgericht ebenfalls verboten. Führende Politiker, darunter Erbakan selbst, aber auch der damalige Oberbürgermeister Istanbuls, Recep Tayyip Erdoğan, wurden mit Politikverboten belegt.

Aus der wiederum verbotenen Nachfolgepartei FP (Fazilet Partisi, "Tugendpartei") gingen zwei neue Parteien hervor: Die weiterhin islamistische SP (Saadet Partisi, "Glückseligkeitspartei"), der Erbakan zwischen 2003 und 2004 noch einmal vorsaß, und die moderatere und reformorientierte AKP, die bei den Parlamentswahlen 2002 und 2007 die absolute Mehrheit errang.

AKP als erste islamisch-konservativ-demokratische Partei?

Die AKP beschreibt sich selbst als "a ground where the unity and the integrity of the Republic of Turkey, the secular, democratic, social State of law, and the processes of civilianization, democratization, freedom of belief and equality of opportunity are considered essential". Sie bekennt sich zwar offen zu ihren islamisch-konservativen Wertvorstellungen, präsentiert sich jedoch als systemkonform, wertkonservativ und neoliberal. Ihre politische Philosophie der konservativen Demokratie vergleicht sie mit dem Konservatismus der Christlich Demokratischen Union (CDU) in Deutschland.

Gemessen an ihrem politischen Handeln ist die Partei diesem Bekenntnis zu den Grundsätzen der Republik bisher nachgekommen. Seit ihrem Regierungsantritt 2002 hat sie zahlreiche Reformen initiiert, um die Demokratisierung des Landes voranzutreiben und den "Kopenhagener Kriterien" zur Aufnahme in die EU zu entsprechen. Von entscheidender Bedeutung war dabei die faktische Teilentmachtung des Nationalen Sicherheitsrats im Zuge der formalen Zurückdrängung seiner Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten auf zivile Einrichtungen des Staates; im Gegenzug wurden die Kontroll- und Entscheidungskompetenzen des Ministerpräsidenten deutlich gestärkt.

Angesichts dieses pro-europäischen Reformeifers mag es schwer verständlich erscheinen, dass der AKP nach wie vor von Seiten des kemalistischen Establishments großes Misstrauen entgegengebracht wird. Sowohl in der Selbstdarstellung wie auch in ihrer Politik hat sich die AKP bislang nichts zu Schulden kommen lassen, was den neutralen Beobachter hätte argwöhnisch werden lassen können. Dass sich führende Politiker öffentlich zu ihrer Religion bekennen, ist durchaus vereinbar mit der von der AKP vertretenen Position zum Laizismus, zur Demokratie gehöre nicht nur die Trennung von Staat und Religion, sondern ebenso die freie Äußerung von Religiosität. In einem Land mit vorwiegend muslimischer Bevölkerung ist es notwendig, diese kulturelle Identität politisch zu berücksichtigen. Diese sichtbare Religiosität erscheint allerdings in einem anderen Licht, wenn man sich den politischen Werdegang der erwähnten Führungsfiguren vor Augen führt, und lässt die Befürchtungen des laizistischen Lagers zumindest teilweise gerechtfertigt erscheinen. Denn sowohl Premierminister Erdoğan wie auch Staatspräsident Abdullah Gül bedienten sich in der Vergangenheit durchaus islamistischer Rhetorik.

Dass die AKP aber über eine islamistische hidden agenda zur Unterwanderung der Republik verfügt (und takkiye betreibt, sprich die Verschleierung des Glaubens durch Täuschung), die sie zu verwirklichen gedenkt, sobald der national-säkulare Widerstand auf demokratischem Wege aus dem Feld geschlagen sei, wie Teile der Opposition argwöhnten, ist trotz der islamistischen Wurzeln ihrer Vertreter nicht plausibel. So plädiert der Politikwissenschaftler Oliver Roy vorerst für kühnen Positivismus: Seiner Ansicht nach muss man auch Islamisten an ihren Taten und nicht an ihren Absichten messen, denn "Aufrichtigkeit ist kein politisches Konzept".

Hintergründe des Wandels

Im Gegensatz zum "alten" kemalistischen Establishment, das sich in seinem westlichen Selbstverständnis als die fortschrittliche und aufgeklärte Kraft des Landes versteht, seit zwei Jahrzehnten aber in einem ebenso autoritären wie undemokratischen Staatsverständnis verharrt und sich am Status quo festhält, entwickelte sich die AKP zunehmend zu einer Partei der Reform und der "neuen türkischen Mitte". Schließlich hat fast jeder zweite Wähler für sie votiert und mehr als 70 Prozent gaben an, die Partei aus wirtschaftlichen Gründen gewählt zu haben.

Erdoğans Triumph im Jahr 2007 beruhte in erster Linie darauf, dass seine Regierung in den vorangegangenen fünf Jahren mehr Reformen angepackt hatte als alle säkularen Vorgängerregierungen in den 50 Jahren zuvor. Seine AKP konnte viele Menschen von ihrem Wandel zu einer modernen Mitte-Rechts-Partei überzeugen und sich für neue Wählerschichten attraktiv machen: Anstelle frommer Islamisten und alter Gefolgsleute Erdoğans sitzen für die AKP nun auch bekannte Liberale und Linke im Parlament.

Wenn wir von der Integrität der politischen Absichten und Programmatik der AKP ausgehen, muss festgestellt werden, dass der türkische Islamismus einen bemerkenswerten Wandel vollzogen hat: Die AKP wandte sich von der traditionellen islamistischen Forderung nach der "Gerechten Ordnung" ("Adil Düzen") ab und bekannte sich zu Laizismus und Demokratie, während die SP in ihrem islamistischen Duktus verharrte und in der politischen Bedeutungslosigkeit versank. Damit war das Scheitern des türkischen Islamismus besiegelt.

Für die Emanzipation des türkischen Islamismus von seiner radikalen Ideologie hin zu einer gemäßigten Reformkraft der Mitte trugen eine Reihe von Faktoren bei: Ein erster, offensichtlicher Faktor war die Erfahrung des Scheiterns vorheriger islamistischer Parteien. Die Konfrontationspolitik hatte die Position des Islamismus im türkischen Machtgefüge nicht gestärkt, sondern letztendlich zum Verbot der Partei geführt. Entgegen der These, die Mehrheit der Muslime wolle den islamischen Staat, fanden die türkischen Islamisten in der Bevölkerung nicht genügend Unterstützung, um gegen den geballten Druck des laizistischen Lagers und der Zivilgesellschaft zu bestehen. Ein möglicher Faktor könnte auch die Einsicht heutiger AKP-Eliten sein, dass die Errichtung eines islamischen Staates weder die Lösung der realen Probleme bringen noch eine Aufwertung des Islam bewirken würde.

Ein großer Anreiz für ein Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten ist sicherlich das Entgegenkommen der EU gewesen. Die Verheißung einer Aufnahme in die EU und die damit verbundene Hoffnung auf eine nachhaltige Stabilisierung und Entwicklung der Wirtschaft dürfte zumindest für die Pragmatiker unter den islamischen Politikern ein überzeugendes Argument gewesen sein.

AKP: kein Modell für arabische Islamisten

Bis zu den großen Reformen der Regierungspartei AKP (2002 bis 2005) war es kaum möglich, die Türkei als einen "echten Modellstaat" für die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam in der arabischen Welt glaubwürdig zu präsentieren. Denn die demokratischen Defizite des Landes waren allzu offensichtlich, insbesondere, was die Rolle der türkischen Streitkräfte im politischen Entscheidungsfindungsprozess anbelangt.

Zwar wird die Rolle des türkischen Militärs vom Großteil der Bevölkerung positiv gesehen, und anders als in nahezu allen arabischen Nachbarstaaten haben die türkischen Streitkräfte nie die dauerhafte Errichtung einer Militärdiktatur angestrebt. Jedoch wurde die Türkei in den arabischen Ländern angesichts der Machtfülle der Generäle und deren Westorientierung in erster Linie als eine vom Westen gesteuerte "Militär-Demokratie" wahrgenommen, die seit der Abschaffung des osmanischen Kalifats und der gewaltsamen Säkularisierung von oben eine schwere Identitätskrise durchlebt.

Der jordanische Journalist Yousef Alsharif bemerkt hierzu: "Das Türkeibild, das sich vielen Arabern fest eingeprägt hat, besteht aus zwei Komponenten, dem westlichen Säkularismus, der Allianz mit dem Westen und mit Israel. Und viele Araber missverstehen die Bedeutung des Säkularismus, sie setzen ihn gleich mit Atheismus, mit der Verbannung der Religion und der Bekämpfung ihrer Symbole." Die streng laizistische politische Ordnung in der Türkei trägt aus konservativer arabischer Sicht zur Festigung dieser falschen Vorstellungen bei, wie sich beispielsweise am Kopftuchverbot an den Universitäten zeigt. Zur arabisch-türkischen Entfremdung trug ohne Zweifel auch das offenkundige Desinteresse der Republikgründer an einem Engagement in der Region bei, die sie als rückständig betrachteten.

Erst durch den Beschluss des türkischen Parlaments Anfang März 2003, mit dem die Unterstützung der US-amerikanischen Streitkräfte bei der Invasion im Irak abgelehnt wurde, kam es zu einem historischen Wendepunkt für das Türkeibild der Araber. Die US-Regierung musste dieses Votum akzeptieren, denn es "kam von einem echten, aus demokratischen Wahlen hervorgegangenen Parlament". In der arabischen Welt waren sowohl die Massen als auch große Teile der konservativen Eliten voller Bewunderung für diese Haltung. Bemerkenswert waren vor allem die positiven Reaktionen gemäßigter Islamisten im Herzland des Islam auf das gelungene "AKP-Experiment"; viele Kommentatoren sahen darin eine Ermutigung für arabische Islamisten, sich zu reformieren und am politischen Prozess zu partizipieren.

Dennoch: Die türkischen Erfahrungen im Umgang mit dem Islamismus lassen sich auf den arabischen Raum kaum übertragen. Zudem ist eine mögliche Vorbildfunktion der AKP bereits dadurch eingeschränkt, dass sich die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen in der heutigen Türkei von denen in den verschiedenen arabischen Staaten grundlegend unterscheiden: Im Gegensatz zum arabischen Raum hat die türkische Republik bereits eine demokratische Tradition. Diese schließt nicht nur den Respekt vor dem politischen System und seinen Institutionen ein, der von den politischen Akteuren im Laufe der Geschichte der Republik grundsätzlich entgegengebracht wurde, sondern auch den im Vergleich zu den arabischen Staaten liberalen und kritischen öffentlichen Diskurs, der für eine demokratische politische Kultur von essentieller Bedeutung ist. Zudem hat die türkische Demokratie die Entstehung der AKP erst möglich gemacht hat - und damit den (Post-)Islamisten die Chance zu politischer Entfaltung und Reifung eröffnet.

Eine weitere Besonderheit ist, dass sich die politische Militärelite in der Türkei generell tolerant gegenüber den islamistischen Kräften verhalten hat; sie ließen sie ihren Diskurs entfalten, auch wenn ihnen beim vermeintlichen Griff nach der Macht stets ein Riegel vorgeschoben wurde. Derartige Entfaltungsmöglichkeiten hatten arabische Islamisten bis dato nicht.

Heute sind autoritäre arabische Regime das Haupthindernis für die politische und intellektuelle Weiterentwicklung der islamistischen Parteien, die in erster Linie damit beschäftigt sind, ihr Überleben zu sichern. Das bedeutet, dass die Reife dieser Bewegungen einige Bedingungen voraussetzt - vor allem die Notwendigkeit der herrschenden arabischen Machteliten, grundlegende politische Reformen anzustoßen, um ein Minimum an demokratischen Freiheiten und Partizipationsmöglichkeiten zu gewährleisten.

Ein weiterer zentraler Gesichtspunkt ist der ökonomische Vorsprung, den die Türkei gegenüber den meisten arabischen Staaten genießt, aber auch die Entstehung einer neuen großstädtischen Elite. Denn in der Türkei gewinnt ein neuer religiöser, aber pragmatischer Mittelstand zusehends an Gewicht. Er bezieht sich in seinem Handeln explizit auf den Islam; gleichzeitig plädiert er für den freien Markt und das Einhalten der good governance-Standards und gegen staatliche Einflussnahme; nicht selten ist auch von "islamischen Calvinisten" die Rede. Im Gegensatz dazu halten arabische islamistische Parteien nach wie vor an überkommenen ideologischen Konzepten und historischen Narrativen fest.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Konstruktion und Gegenüberstellung von Begriffen wie dem "Islam" und dem "Westen" ist häufig anzutreffen und dennoch unzulässig, denn eine Weltreligion wie der Islam lässt sich mit einer geo-kulturellen und politischen Formation wie dem Westen nicht vergleichen; vgl. hierzu Ghassan Salame, Al-Islam laisa la'aiban siyasian (Der Islam ist kein politischer Akteur), in: Al-hayat vom 20.5. 2002, S. 4.

  2. Zur Rolle der Türkei als Vorbild für muslimische Staaten vgl. Vali Nasr, The Rise of Muslim Democracy, in: Journal of Democracy, 16 (2005) 2, S. 13 - 27; Nilüfer Göle, "Die Türkei kann ein Modell für Europa sein", in: Die Tageszeitung (taz) vom 15.10. 2008.

  3. Amitai Etzioni, Die Türkei - Nagelprobe für den Westen, in: Internationale Politik und Gesellschaft, (2008) 4, S. 11.

  4. Zit. nach Boris Kálnoky, Barack Obama sieht Türkei als "Modell für die Welt", in: Die Welt vom 6. 4. 2009, S. 12.

  5. Der Islamismus (bzw. islamistisch) wird hier als eine auf absoluten Systemwechsel gerichtete revolutionäre politische Massenideologie verstanden, während islamisch-konservative Parteien sich in den demokratischen Parametern der bestehenden politischen Systeme bewegen und die Subordination des Islam unter der Politik akzeptieren. Vgl. Nathan J. Brown/Amr Hamzawy/Marina Ottaway, Islamist movements and the democratic process in the Arab world, Carnegie Endowment for International Peace, Paper Nr. 67, Washington DC 2006.

  6. Indonesien ist der Bevölkerung nach das viertgrößte Land der Welt und nach den USA und Indien die drittgrößte Demokratie.

  7. Ergun Özbudun, Ein Grundgesetz nach deutschem Vorbild, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.1. 2009, S. 12.

  8. Heinz Kramer, Türkische Turbulenzen: der andauernde Kulturkampf um die "richtige Republik", SWP-Studie, Berlin 2009, S. 5.

  9. Vgl. Asiye Öztürk, Der innenpolitische Kontext des außenpolitischen Wandels der Türkei, Bonn 2009, S. 6.

  10. Cemal Karakas, Türkei: Islam und Laizismus zwischen Staats-, Politik- und Gesellschaftsinteressen, HSFK-Report, (2007) 1, S. 4; in: www.hsfk.de/ fileadmin/downloads/report0107. pdf (20.7. 2009).

  11. Vgl. Bekim Agai, Islam und Kemalismus in der Türkei, in: APuZ, (2004) 33 - 34, S. 18 - 24.

  12. Vgl. C. Karakas (Anm. 10), S. I.

  13. Ebd., S. II.

  14. Ebd. S. 8.

  15. Laut Internetseite der AKP: http://eng.akparti.org. tr/english/partyprogramme.html (11.6. 2009).

  16. Vgl. Heinz Kramer, Die Türkei im Prozess der "Europäisierung", in: APuZ, (2004) 33 - 34, S. 9 - 17; siehe hierzu auch den Artikel von Mehtap Söyler in dieser Ausgabe.

  17. Zit. nach Sonja Zekri, Gottes Gegenkultur, 18.12. 2008, in: http://de.qantara.de/webcom/show_ article. php/_c-638/_nr-33/_p-1/i.html (28.5. 2009).

  18. Vgl. Ioannis N. Grigoriadis, Die erste "muslimisch-demokratische" Partei? Die AKP und die Reform des politischen Islams in der Türkei, in: Muriel Asseburg (Hrsg.), Moderate Islamisten als Reformakteure, SWP-Studie, Berlin 2007, S. 23.

  19. Zur Rolle des türkischen Militärs im Vergleich zu den arabischen Staaten vgl. Loay Mudhoon, Die stolzen Hüter der Republik, in: Kulturaustausch - Zeitschrift für internationale Perspektiven, (2008) IV, S. 59.

  20. Vgl. Burhan Ghalioun, Tarradjua' An-Namudadj al-irani li hisab at-turki (Aufstieg des türkischen Modells auf Kosten des iranischen), in: Al-Ghad vom 14.7. 2009, S. 12 und Khaled Hroub, Al-Harakat al-islamiya wa Al-' Almana as-siyasia (Die Islamische Bewegung und die politische Säkularisierung), Amman 2009, S. 17.

  21. Yousef Alsharif, "Gibt es in der Türkei Muslime?", in: Kulturaustausch - Zeitschrift für internationale Perspektiven, (2008) IV, S. 66.

  22. Sadik Jalal al-Azm, Das türkische Paradox, in: taz vom 16.12. 2004, S. 11.

  23. Vgl. Slaheddine Jourchi, Reformpolitik der türkischen AK-Partei. Vorbildcharakter für arabische Islamisten?, 9.6. 2006, in: http://de.qantara.de/webcom/show_ article.php/_c-468/_nr-549/i.html (20.5. 2009).

  24. Thomas Fuster, Islam und Kapitalismus - eine türkische Symbiose, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9.5. 2009, S. 27.

M.A., geb. 1972; Politik- und Islamwissenschaftler an der Universität Köln, Redakteur der Deutschen Welle und Redaktionsleiter von qantara.de.
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