Einleitung
Im Zuge des epochalen Bewusstseinsschocks nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nahm die internationale Debatte über die Rolle der türkischen Republik als zivilisatorisches Entwicklungsmodell für die Modernisierung der Region des Nahen und Mittleren Ostens und als kulturelle Brücke zwischen dem "Westen" und der "islamischen Welt"
Der Modellcharakter der Türkei für einen moderaten Islam als potentieller Partner für den Westen in einer "Allianz für Frieden und gegen globale Gefahren"
Im Folgenden soll primär der Frage nachgegangen werden, inwiefern die türkische AKP islamistischen
Die Türkei als islamischer Sonderfall
Innerhalb der islamischen Welt stellt die Türkei in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall dar. Neben Indonesien
Diese Tatsache liegt vor allem darin begründet, dass die vom Staatsgründer "Atatürk" durchgesetzte Trennung von Staat und Religion im Laufe der Geschichte der türkischen Republik immer wieder sowohl Gegenstand als auch Instrument politischer Auseinandersetzungen gewesen ist - und bis heute einem sehr rigiden, jakobinischen Laizismusverständnis unterliegt, das sich Re-Islamisierungstendenzen, aber auch jeglicher religiöser Sichtbarkeit im öffentlichen Leben vehement entgegenstellt. Denn "der Laizismus jakobinischer Prägung betrachtet religiöse Anschauungen und religiöse Praxis ausschließlich als Gewissensfragen des Einzelnen. Im Gegensatz zu dieser positivistischen Auffassung wird der Laizismus nach angelsächsischem Verständnis lediglich unter rein politischen und juristischen Gesichtspunkten betrachtet, das heißt als institutionelle Trennung von Religion und Staat. Sie wendet sich somit nicht gegen öffentliche oder soziale Äußerungsformen der Religion, solange diese nicht die Belange des Staates berühren".
Der Kampf um die (Neu-)Interpretation des Laizismus ist auch ein Kampf um die "kulturelle Hegemonie" zwischen den Anhängern der kemalistischen Staatsideologie aus dem militärisch-bürokratischen Lager, welche seit Gründung der Republik 1923 die Schlüsselpositionen in Politik, Medien, Bürokratie, Militär und Justiz innehatten, und den neuen islamisch-konservativen Eliten um die AKP. Der Machtkampf hat sich seit dem Frühjahr 2007 verschärft. Hierbei geht es nicht um die Etablierung einer anderen Staatsform, sondern lediglich um die "Deutungshoheit über die Identität der Republik".
Die Zuspitzung des Machtkampfes gipfelte in einer Staatskrise um die Wahl eines neuen Staatspräsidenten im Jahr 2007, als kemalistisch-nationalistische Kräfte die Wahl des damaligen Außenministers Abdullah Gül kategorisch ablehnten und die Regierungspartei sich auch auf keinen Kompromisskandidaten einließ. Im wohl ersten "Internetputsch" der Geschichte drohten die türkischen Generäle am 27. April 2007, gegen alle Kräfte vorzugehen, welche die laizistischen Grundwerte der Republik in Frage stellen. Das Verfassungsgericht ließ sich instrumentalisieren und verhinderte nach Drohungen der kemalistischen Militärelite die Wahl Güls zum Staatspräsidenten.
Nachdem die Präsidentenwahl gescheitert war und die Polarisierung zwischen den weltlichen und islamisch-konservativen Kräften das Land lähmte, entschied sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan für vorgezogene Parlamentswahlen am 22. Juni 2007. Trotz des fulminanten Wahlsiegs der AKP dauerte die politische Polarisierung fort und führte im vergangenen Jahr zur Einleitung eines Verbotsverfahrens gegen die Regierungspartei. Der Generalstaatsanwalt forderte mit der Begründung, dass die AKP ein Zentrum antisäkularer Aktivitäten sei, ihre Auflösung und ein Betätigungsverbot für ihre Spitzenpolitiker. Das Verfahren endete zwar mit einem knappen Freispruch, gleichwohl wurden aber der AKP die staatlichen Finanzzuschüsse erheblich gekürzt.
Diese zunehmende politische und gesellschaftliche Polarisierung verringerten den Handlungsspielraum der regierenden Eliten und hatten insbesondere seit Ende 2005 in erheblichem Ausmaß auch den Reformprozess des Landes verlangsamt.
Zu den wichtigen Besonderheiten der türkischen Republik gehört auch die Tatsache, dass sie als einziges muslimisches Land Mitglied der NATO ist und Beitrittsverhandlungen mit der EU führt, darüber hinaus der Konferenz der Islamischen Staaten angehört. Sie schafft als "einziges Land diesen Dreierspagat zwischen dem Transatlantischen Bündnis, der EU und der islamischen Welt - das sind die Assets der Türkei aus friedenspolitischer Sicht".
Entstehung der AKP
Im Laufe der Geschichte der Republik Türkei hat der Islam sehr unterschiedliche Rollen gespielt. Nachdem Staatsgründer "Atatürk" die strikte Trennung von Staat und Religion verfügt hatte, wurde der Islam während der darauffolgenden Einparteienherrschaft weitestgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt - zwischen 1933 und 1948 war nicht einmal ein Studium der Religion möglich.
Doch die Türkei wurde nie völlig entislamisiert, sondern lediglich von oben säkularisiert. Die bereits im Osmanischen Reich bestehende staatliche Unterwerfung des Islams wurde in die neue westliche Staatsräson übernommen und massiv ausgeweitet. Damit wollte "Atatürk" aus der Türkei einen modernen Nationalstaat nach europäischem Vorbild machen, der als religiöser Dienstleister fungiert.
Nach der Einführung des Mehrparteiensystems im Jahr 1946 nahm der Islam als einendes Element im Vielvölkerstaat Türkei zunächst eine integrative Funktion ein. Doch spätestens mit der Gründung der Millî-Görüş-Bewegung 1967 und der ihr zuzuordnenden MNP (Millî Nizam Partisi, "Partei der Nationalen Ordnung") von Necmettin Erbakan 1970 trat eine Strömung in den Vordergrund, die mit eindeutig islamistischem Programm die Hüter des Laizismus in Alarmbereitschaft versetzte.
Mit dem Militärputsch von 1980 wurde eine "staatspolitische Zäsur im Lichte der Türkisch-Islamischen Synthese (TIS) eingeleitet":
Im Jahr 1995 gelang es Erbakan, die Parlamentswahlen mit der RP (Refah Partisi, "Wohlfahrtspartei") zu gewinnen und den Auftrag zur Regierungsbildung zu erhalten. Unter dem Druck des vom Militär dominierten Nationalen Sicherheitsrates zerbrach die Regierung allerdings 1997 und die RP, Nachfolgepartei der verbotenen MSP, wurde 1998 vom Verfassungsgericht ebenfalls verboten. Führende Politiker, darunter Erbakan selbst, aber auch der damalige Oberbürgermeister Istanbuls, Recep Tayyip Erdoğan, wurden mit Politikverboten belegt.
Aus der wiederum verbotenen Nachfolgepartei FP (Fazilet Partisi, "Tugendpartei") gingen zwei neue Parteien hervor: Die weiterhin islamistische SP (Saadet Partisi, "Glückseligkeitspartei"), der Erbakan zwischen 2003 und 2004 noch einmal vorsaß, und die moderatere und reformorientierte AKP, die bei den Parlamentswahlen 2002 und 2007 die absolute Mehrheit errang.
AKP als erste islamisch-konservativ-demokratische Partei?
Die AKP beschreibt sich selbst als "a ground where the unity and the integrity of the Republic of Turkey, the secular, democratic, social State of law, and the processes of civilianization, democratization, freedom of belief and equality of opportunity are considered essential".
Gemessen an ihrem politischen Handeln ist die Partei diesem Bekenntnis zu den Grundsätzen der Republik bisher nachgekommen. Seit ihrem Regierungsantritt 2002 hat sie zahlreiche Reformen initiiert, um die Demokratisierung des Landes voranzutreiben und den "Kopenhagener Kriterien" zur Aufnahme in die EU zu entsprechen.
Angesichts dieses pro-europäischen Reformeifers mag es schwer verständlich erscheinen, dass der AKP nach wie vor von Seiten des kemalistischen Establishments großes Misstrauen entgegengebracht wird. Sowohl in der Selbstdarstellung wie auch in ihrer Politik hat sich die AKP bislang nichts zu Schulden kommen lassen, was den neutralen Beobachter hätte argwöhnisch werden lassen können. Dass sich führende Politiker öffentlich zu ihrer Religion bekennen, ist durchaus vereinbar mit der von der AKP vertretenen Position zum Laizismus, zur Demokratie gehöre nicht nur die Trennung von Staat und Religion, sondern ebenso die freie Äußerung von Religiosität. In einem Land mit vorwiegend muslimischer Bevölkerung ist es notwendig, diese kulturelle Identität politisch zu berücksichtigen. Diese sichtbare Religiosität erscheint allerdings in einem anderen Licht, wenn man sich den politischen Werdegang der erwähnten Führungsfiguren vor Augen führt, und lässt die Befürchtungen des laizistischen Lagers zumindest teilweise gerechtfertigt erscheinen. Denn sowohl Premierminister Erdoğan wie auch Staatspräsident Abdullah Gül bedienten sich in der Vergangenheit durchaus islamistischer Rhetorik.
Dass die AKP aber über eine islamistische hidden agenda zur Unterwanderung der Republik verfügt (und takkiye betreibt, sprich die Verschleierung des Glaubens durch Täuschung), die sie zu verwirklichen gedenkt, sobald der national-säkulare Widerstand auf demokratischem Wege aus dem Feld geschlagen sei, wie Teile der Opposition argwöhnten, ist trotz der islamistischen Wurzeln ihrer Vertreter nicht plausibel. So plädiert der Politikwissenschaftler Oliver Roy vorerst für kühnen Positivismus: Seiner Ansicht nach muss man auch Islamisten an ihren Taten und nicht an ihren Absichten messen, denn "Aufrichtigkeit ist kein politisches Konzept".
Hintergründe des Wandels
Im Gegensatz zum "alten" kemalistischen Establishment, das sich in seinem westlichen Selbstverständnis als die fortschrittliche und aufgeklärte Kraft des Landes versteht, seit zwei Jahrzehnten aber in einem ebenso autoritären wie undemokratischen Staatsverständnis verharrt und sich am Status quo festhält, entwickelte sich die AKP zunehmend zu einer Partei der Reform und der "neuen türkischen Mitte". Schließlich hat fast jeder zweite Wähler für sie votiert und mehr als 70 Prozent gaben an, die Partei aus wirtschaftlichen Gründen gewählt zu haben.
Erdoğans Triumph im Jahr 2007 beruhte in erster Linie darauf, dass seine Regierung in den vorangegangenen fünf Jahren mehr Reformen angepackt hatte als alle säkularen Vorgängerregierungen in den 50 Jahren zuvor. Seine AKP konnte viele Menschen von ihrem Wandel zu einer modernen Mitte-Rechts-Partei überzeugen und sich für neue Wählerschichten attraktiv machen: Anstelle frommer Islamisten und alter Gefolgsleute Erdoğans sitzen für die AKP nun auch bekannte Liberale und Linke im Parlament.
Wenn wir von der Integrität der politischen Absichten und Programmatik der AKP ausgehen, muss festgestellt werden, dass der türkische Islamismus einen bemerkenswerten Wandel vollzogen hat: Die AKP wandte sich von der traditionellen islamistischen Forderung nach der "Gerechten Ordnung" ("Adil Düzen"
Für die Emanzipation des türkischen Islamismus von seiner radikalen Ideologie hin zu einer gemäßigten Reformkraft der Mitte trugen eine Reihe von Faktoren bei: Ein erster, offensichtlicher Faktor war die Erfahrung des Scheiterns vorheriger islamistischer Parteien. Die Konfrontationspolitik hatte die Position des Islamismus im türkischen Machtgefüge nicht gestärkt, sondern letztendlich zum Verbot der Partei geführt. Entgegen der These, die Mehrheit der Muslime wolle den islamischen Staat, fanden die türkischen Islamisten in der Bevölkerung nicht genügend Unterstützung, um gegen den geballten Druck des laizistischen Lagers und der Zivilgesellschaft zu bestehen. Ein möglicher Faktor könnte auch die Einsicht heutiger AKP-Eliten sein, dass die Errichtung eines islamischen Staates weder die Lösung der realen Probleme bringen noch eine Aufwertung des Islam bewirken würde.
Ein großer Anreiz für ein Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten ist sicherlich das Entgegenkommen der EU gewesen. Die Verheißung einer Aufnahme in die EU und die damit verbundene Hoffnung auf eine nachhaltige Stabilisierung und Entwicklung der Wirtschaft dürfte zumindest für die Pragmatiker unter den islamischen Politikern ein überzeugendes Argument gewesen sein.
AKP: kein Modell für arabische Islamisten
Bis zu den großen Reformen der Regierungspartei AKP (2002 bis 2005) war es kaum möglich, die Türkei als einen "echten Modellstaat" für die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam in der arabischen Welt glaubwürdig zu präsentieren. Denn die demokratischen Defizite des Landes waren allzu offensichtlich, insbesondere, was die Rolle der türkischen Streitkräfte im politischen Entscheidungsfindungsprozess anbelangt.
Zwar wird die Rolle des türkischen Militärs vom Großteil der Bevölkerung positiv gesehen, und anders als in nahezu allen arabischen Nachbarstaaten haben die türkischen Streitkräfte nie die dauerhafte Errichtung einer Militärdiktatur angestrebt. Jedoch wurde die Türkei in den arabischen Ländern angesichts der Machtfülle der Generäle und deren Westorientierung in erster Linie als eine vom Westen gesteuerte "Militär-Demokratie" wahrgenommen, die seit der Abschaffung des osmanischen Kalifats und der gewaltsamen Säkularisierung von oben eine schwere Identitätskrise durchlebt.
Der jordanische Journalist Yousef Alsharif bemerkt hierzu: "Das Türkeibild, das sich vielen Arabern fest eingeprägt hat, besteht aus zwei Komponenten, dem westlichen Säkularismus, der Allianz mit dem Westen und mit Israel. Und viele Araber missverstehen die Bedeutung des Säkularismus, sie setzen ihn gleich mit Atheismus, mit der Verbannung der Religion und der Bekämpfung ihrer Symbole."
Erst durch den Beschluss des türkischen Parlaments Anfang März 2003, mit dem die Unterstützung der US-amerikanischen Streitkräfte bei der Invasion im Irak abgelehnt wurde, kam es zu einem historischen Wendepunkt für das Türkeibild der Araber. Die US-Regierung musste dieses Votum akzeptieren, denn es "kam von einem echten, aus demokratischen Wahlen hervorgegangenen Parlament".
Dennoch: Die türkischen Erfahrungen im Umgang mit dem Islamismus lassen sich auf den arabischen Raum kaum übertragen. Zudem ist eine mögliche Vorbildfunktion der AKP bereits dadurch eingeschränkt, dass sich die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen in der heutigen Türkei von denen in den verschiedenen arabischen Staaten grundlegend unterscheiden: Im Gegensatz zum arabischen Raum hat die türkische Republik bereits eine demokratische Tradition. Diese schließt nicht nur den Respekt vor dem politischen System und seinen Institutionen ein, der von den politischen Akteuren im Laufe der Geschichte der Republik grundsätzlich entgegengebracht wurde, sondern auch den im Vergleich zu den arabischen Staaten liberalen und kritischen öffentlichen Diskurs, der für eine demokratische politische Kultur von essentieller Bedeutung ist. Zudem hat die türkische Demokratie die Entstehung der AKP erst möglich gemacht hat - und damit den (Post-)Islamisten die Chance zu politischer Entfaltung und Reifung eröffnet.
Eine weitere Besonderheit ist, dass sich die politische Militärelite in der Türkei generell tolerant gegenüber den islamistischen Kräften verhalten hat; sie ließen sie ihren Diskurs entfalten, auch wenn ihnen beim vermeintlichen Griff nach der Macht stets ein Riegel vorgeschoben wurde. Derartige Entfaltungsmöglichkeiten hatten arabische Islamisten bis dato nicht.
Heute sind autoritäre arabische Regime das Haupthindernis für die politische und intellektuelle Weiterentwicklung der islamistischen Parteien, die in erster Linie damit beschäftigt sind, ihr Überleben zu sichern. Das bedeutet, dass die Reife dieser Bewegungen einige Bedingungen voraussetzt - vor allem die Notwendigkeit der herrschenden arabischen Machteliten, grundlegende politische Reformen anzustoßen, um ein Minimum an demokratischen Freiheiten und Partizipationsmöglichkeiten zu gewährleisten.
Ein weiterer zentraler Gesichtspunkt ist der ökonomische Vorsprung, den die Türkei gegenüber den meisten arabischen Staaten genießt, aber auch die Entstehung einer neuen großstädtischen Elite. Denn in der Türkei gewinnt ein neuer religiöser, aber pragmatischer Mittelstand zusehends an Gewicht. Er bezieht sich in seinem Handeln explizit auf den Islam; gleichzeitig plädiert er für den freien Markt und das Einhalten der good governance-Standards und gegen staatliche Einflussnahme; nicht selten ist auch von "islamischen Calvinisten"