Einleitung
Nachdem die Türkei erstmals 1959 beantragt hatte, in die Europäische Union (EU) bzw. in die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufgenommen zu werden, wurde ihr schließlich 1999 durch den Europäischen Rat in Helsinki offiziell der Kandidatenstatus verliehen. Seitdem hat sich der EU-Beitrittsprozess in der Türkei in einen demokratischen Reformprozess verwandelt, der historisch genannt werden kann. Ein Drittel der Verfassungsartikel wurde geändert und über 200 Gesetzesartikel wurden in zehn "Harmonisierungspaketen" in Einklang mit den politischen der "Kopenhagener Kriterien" gebracht. Diese fordern von Beitrittskandidaten Standards in Bezug auf die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung und die Menschen- und Minderheitenrechte.
Nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 ist der Reformprozess jedoch zum Stillstand gekommen und von zwei Staatskrisen unterbrochen worden. Welche Faktoren haben den Verlauf des Reformprozesses beeinflusst? Was bedeuten die Reformen für die Demokratie in der Türkei? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es unabdingbar, das Augenmerk zunächst auf die Art und Weise der Umsetzung der Reformen zu lenken, insbesondere auf die neue demokratische Kontrolle des Militärs sowie den damit eng verbundenen "Staat im Staate". Dieser hat längst eine halbformelle kriminelle Herrschaftsstruktur entstehen lassen.
Der EU-Beitritt als neue politische Konfliktlinie
Der Rahmen des Politischen wurde in der Türkei in erster Linie vom Kemalismus bestimmt, der in den 1930er Jahren zur Staatsideologie erhoben wurde, sowie von dessen Hauptvertreter, den türkischen Streitkräften. Das Militär hat das demokratische System vier Mal ausgehebelt, wobei es sich stets auf die ihm selbst zugewiesene Rolle als laizistischer "Hüter der kemalistischen Prinzipien" berief: Putsche 1960 und 1980 sowie zwei "unbewaffnete" militärische Interventionen 1971 und 1997 stürzten die jeweiligen Regierungen. Die regelmäßige Einschränkung der effektiven Regierungsgewalt gewählter Repräsentanten durch das Militär ist das gravierendste Defizit des politischen Systems der Türkei und gemäß der Demokratietheorie Kennzeichen einer "Enklavendemokratie".
Das staatszentrierte Projekt zur Modernisierung des Landes - nach dem kemalistischen Nationalstaatsverständnis - schuf zwei zentrale politische Konfliktlinien. Die erste verläuft zwischen traditionell verwurzelter Bevölkerung und ihren gewählten Repräsentanten auf der einen und der kemalistisch-laizistisch eingestellten Bevölkerung sowie den Eliten in Militär, Bürokratie und Parlament auf der anderen Seite. Die zweite Konfliktlinie hat einen ethnischen Charakter und äußert sich in der "Kurdenfrage".
Die Trennung von Staat und Religion ist eine unbestrittene Norm in der Türkei. Gleichwohl wurde der Laizismus von den kemalistischen Eliten zur Verbreitung ihrer Version des Islams instrumentalisiert. Im Unterschied zum Säkularismus bedeutet der türkische Laizismus nicht nur die Trennung der Macht des Staates von ihrer religiösen Rechtfertigung, sondern auch die Kontrolle der religiösen Institutionen und der Öffentlichkeit durch den Staat. Gleichzeitig war der Islam immer ein wichtiger Bestandteil des türkischen Nationalismus. Zur Eindämmung linker Opposition wurde vom Militär nach dem Putsch 1980 die sogenannte "türkisch-islamische Synthese"
Die "Kurdenfrage" ist primär auf ein anachronistisches Nationalstaatsverständnis zurückzuführen, das in einer faktisch äußerst multikulturellen Gesellschaft außer den Nicht-Muslimen keine anderen Minderheiten anerkennt. Diese Verweigerungshaltung führte zur politischen und kulturellen Entrechtung der Kurden und fordert vor allem in Gestalt des seit 1984 andauernden bewaffneten Konflikts zwischen den türkischen Streitkräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) einen hohen Preis.
Seit 1999 ist zu diesen bis dahin dominanten Konfliktlinien die Frage des EU-Beitritts der Türkei hinzugetreten. Dabei decken sich die Lager von Beitrittsgegnern und -befürwortern weitgehend mit denen von Gegnern und Anhängern demokratischer Reformen. Das Pro-EU-Lager wird vertreten durch die Führung der AKP, die pro-kurdische DTP und die liberal gesinnte Zivilgesellschaft. Die Anti-EU-"Koalition" setzt sich aus Vertretern der Kemalisten, der nationalistischen MHP, fundamentalistischen Islamisten und kurdischen Nationalisten zusammen.
Verlauf des demokratischen Reformprozesses
Die meisten Verfassungsänderungen wurden in der Legislaturperiode von 1999 bis 2002 von einer Dreierkoalition, bestehend aus der Demokratischen Linkspartei (DSP), der Mutterlandspartei (ANAP) und der MHP initiiert. Der Reformschub kam jedoch erst mit der Einparteienregierung der AKP nach der Wahl 2002. Die internationale Unterstützung für den durch die AKP repräsentierten gemäßigten Islam durch die USA und die EU milderte den Widerstand der kemalistischen Eliten gegen die Reformen. Der Reformeifer der AKP wiederum gründet zum einen in dem "aufgeklärten Eigeninteresse", sich durch den EU-Beitritt gegen den Einfluss des Militärs abzusichern, zum anderen in ihrem Bemühen, den Vorwurf zu entkräften, sie befürworte die Scharia.
Nach der Phase intensiver Reformen führten im Wesentlichen fünf Faktoren zu einer Stagnation: die Vorbehalte in der EU gegenüber der Türkei, die Zypern- und die Kurdenfrage, der nachlassende Reformwille der AKP sowie die Staatskrisen. Die Verfassungskrise der EU (2005 bis 2007), die allgemeine Erschöpfung der Aufnahmebereitschaft nach den Osterweiterungen, der in einigen EU-Mitgliedsländern steigende Rechtspopulismus und die seit dem 11. September 2001 wachsende Islamophobie stärkten auf Seiten der EU die Befürworter einer "privilegierten Partnerschaft" statt einer Vollmitgliedschaft der Türkei.
Eine wichtige Rolle spielte zudem das Scheitern der Friedensinitiative der Vereinten Nationen (UN) zur Wiedervereinigung Zyperns trotz der Kooperation des türkisch verwalteten Nordzyperns. Dies führte dazu, dass 2004 allein die griechisch-zyprische Verwaltung als offizielle Vertretung der Inselrepublik Zypern der EU beitrat. Die EU wurde hierdurch faktisch Partei in der Zypernfrage. In der Türkei wuchsen die Ressentiments, als die EU nach dem Beitritt ihre Zusage zum Direkthandel mit Nordzypern nicht einhielt. Im Gegenzug weigerte sich die Türkei, ihre See- und Flughäfen für südzyprische Schiffe und Flugzeuge zu öffnen, woraufhin die EU 2006 acht Verhandlungskapitel aussetzte.
Die AKP machte sich die aufgeheizte nationalistische Stimmung zu eigen und legte die Reformen auf Eis. Sie sah sich gleichzeitig zunehmend vom Militär in die Defensive gedrängt und durch zwei Staatskrisen in ihrer Existenz bedroht. Vor der Präsidentschaftswahl im April 2007 wurde der AKP in einem Memorandum auf der Internetseite des Generalstabs vorgeworfen, heimlich eine islamistische Agenda zu verfolgen, was als Putschdrohung aufgefasst werden musste. Damit sprach sich die Militärführung offen gegen den Kandidaten der AKP, Abdullah Gül, aus. Daraufhin erklärte das Verfassungsgericht die erste Präsidentschaftswahlrunde für ungültig. Der Erdrutschsieg der AKP (46,6 Prozent der Wählerstimmen) in der vorgezogenen Parlamentswahl im Juli 2007 kam einer Verurteilung dieses Memorandums durch die Bevölkerung gleich und ebnete den Weg zu Güls Präsidentschaft.
Die nationalistische Stimmung in der Türkei wurde ferner durch den eskalierenden Konflikt mit der PKK geschürt und erreichte ihren Höhepunkt, als die türkische Armee Ende 2007 im Grenzgebiet zur autonomen Region Kurdistan im Nordirak PKK-Stellungen bombardierte. Die zweite Staatskrise folgte, als das Verfassungsgericht einen Verbotsantrag gegen die AKP im März 2008 annahm. Dieser wurde letztendlich abgelehnt, gleichwohl sah das Gericht in der Partei ein "Zentrum anti-säkularer Strömungen".
Die Unterstützung des EU-Beitritts ist in der türkischen Bevölkerung seit 2004 von 71 Prozent auf 42 Prozent gesunken.
Demokratische Kontrolle des Militärs
Ein entscheidendes Hindernis auf dem Weg zum EU-Beitritt stellt die mangelnde zivile Kontrolle des Militärs dar. Sie beeinträchtigt neben der effektiven Regierungsgewalt auch die horizontale Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, beziehungsweise die checks and balances. Die Machtfülle des Militärs bedingt eine janusköpfige Struktur der Staatsgewalten. Die Existenz des Nationalen Sicherheitsrats (MGK) spaltet Legislative und Exekutive in einen militärischen und einen demokratisch-repräsentativen Teil, weil dessen Beschlüsse die Gesetzgebung und die Regierung beeinflussen. Der MGK setzt sich zusammen aus dem Staatspräsidenten, Teilen der Exekutive, dem Generalstabschef und den Kommandeuren der Streitkräfte. Das siebte Harmonisierungspaket von 2003 brach ein Tabu, indem das Militär erstmals umfangreichen rechtlichen Einschränkungen unterworfen wurde. Der MGK ist nunmehr lediglich ein Beratungsgremium, dessen Generalsekretär über keine weitreichenden Exekutivbefugnisse mehr verfügt. Faktisch bestimmt aber die Militärführung trotz der Mehrheit der zivilen Stimmen im MGK nach wie vor die Tagesordnung, allerdings nun primär über den Obersten Militärrat (YAŞ) und vermehrte öffentliche Äußerungen und Briefings. Die Militärausgaben unterliegen weiterhin nicht der parlamentarischen Kontrolle. So werden beispielsweise die Waffenkäufe des weltweit viertgrößten Waffenimporteurs nicht im Parlament diskutiert. Auch der Rechnungshof kann die Finanzen des Militärs nach wie vor nicht prüfen, solange das entsprechende Gesetz, dessen Vorlage seit 2005 existiert, nicht verabschiedet wird.
Die unklare Kompetenzverteilung zwischen der Polizei und der paramilitärischen Gendarmerie bedingt darüber hinaus eine Militarisierung der inneren Sicherheit. Die Gendarmerie ist für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in ländlichen Gebieten - 92 Prozent der Landesfläche - zuständig, in denen die Polizei nicht vertreten ist. Offiziell dem Innenministerium unterstellt, ist sie in der Praxis dem Generalstab gegenüber verantwortlich.
Der janusköpfige Charakter der Judikative schließlich ergibt sich aus der Doppelstruktur von Zivil- und Militärgerichten, gegen die im Zuge der Reformen angegangen wurde. So wurden 2004 zunächst die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft, denen zivile und militärische Richter vorsaßen. Seit 2006 können Zivilpersonen nur noch in Ausnahmefällen vor Militärgerichte gestellt werden. Ein entscheidender Schritt zur Aufhebung der gerichtlichen Immunität des Militärs war die diesjährige Änderung im Strafprozessrecht, wonach Zivilgerichte nunmehr über militärisches Personal urteilen können. Bislang waren ausschließlich Militärgerichte zuständig, ganz gleich, ob es sich um eine zivile Straftat handelte oder nicht.
"Staat im Staate"
Beim "Staat im Staate" handelt es sich um ein halbformelles kriminelles Netzwerk inner- und außerhalb der staatlichen Institutionen. Die formelle oder informelle Verkündung eines "Ausnahmezustands"
Der "Staat im Staate" steht heute in einer symbiotischen Beziehung zum organisierten Verbrechen und zu bewaffneten Konflikten. Teile des Sicherheitssektors, der Staatsgewalten, der Mafia, der Medien und der Wirtschaft sind in seine Strukturen integriert. Dadurch perpetuiert sich der Ausnahmezustand und ein politisches System bildet sich heraus, in dem sich der "Staat im Staate" zu dem Staat selbst transformiert, also formelle und informelle Herrschaft nicht mehr klar zu unterscheiden sind. Dies wirkt sich auf das gesamte politische System aus: Die Rechtsstaatlichkeit wird ausgehöhlt. Hieraus resultiert eine wachsende Diskrepanz zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit.
Um sich ein klares Bild von dieser Struktur machen zu können, muss man sich ihre Entstehungsgeschichte vergegenwärtigen. Der "tiefe Staat" (derin devlet), wie der türkische "Staat im Staate" auch genannt wird, entstand nach dem NATO-Beitritt der Türkei 1952 zunächst als Teil des Militärs. Unter dem Namen "Gladio" existieren derartige Netzwerke auch in anderen NATO-Staaten als "Stay-behind"-Organisationen im Sicherheitssektor, um die "kommunistische Gefahr" zu bekämpfen. Allmählich verselbständigten sich diese Organisationen jedoch und versuchten, ihre Interessen mit Terrorakten durchzusetzen. Ihre Existenz war daher zunehmend schwieriger politisch zu rechtfertigen, weshalb sie nach dem Ende des Kalten Krieges in allen NATO-Mitgliedstaaten außer eben der Türkei aufgelöst wurden. Hier verhinderten dies der besondere Status des türkischen Militärs als zweitgrößte Armee der NATO und sein Kampf gegen die PKK. Der "tiefe Staat" konnte seine Macht sogar noch ausbauen, nachdem 1987 der Ausnahmezustand in den kurdisch bevölkerten Provinzen in der Ost- und Südosttürkei verhängt worden war.
Die Skandale von Susurluk 1996 und Semdinli 2005 haben den "Staat im Staate" ins Licht der Öffentlichkeit gerückt.
Erst nachdem durch die Reformen die Kompetenzen des Militärs beschnitten und mit der Gründung der autonomen Region Kurdistan im Nordirak eine politische Lösung der "Kurdenfrage" drängender wurde, konnten die hohen Funktionäre des "tiefen Staats" teilweise enttarnt werden - im Wesentlichen durch den sogenannten "Ergenekon"-Prozess. Seit 2008 wird gegen ehemalige hochrangige Mitglieder des Militärs (darunter auch ein Gründer des JITEM) und der Antiterroreinheiten der Polizei, Mafiabosse, Politiker, Journalisten und Unternehmer wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation namens "Ergenekon" ermittelt. Damit stehen zum ersten Mal in der Geschichte der Republik ehemalige Vier-Sterne-Generäle wegen mutmaßlicher Putschplanung (zwischen 2003 und 2004) vor Gericht.
Auffälligerweise wurden Mitglieder des "Staats im Staate" aus früheren Regierungen und dem Parlament bisher nicht in die Ermittlungen einbezogen. Zudem hat das Parlament bisher keine Untersuchung über die Organisation eingeleitet oder die juristische Immunität der Abgeordneten in Frage gestellt. Ebenso diskreditieren Ungereimtheiten in der Anklageschrift und die lange Inhaftierung der Angeklagten das Verfahren. Dennoch ist der Prozess wichtig für die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. Im Zuge des Verfahrens wurde die gerichtliche Immunität der Militärs aufgehoben, was entscheidend für die Auflösung des "tiefen Staats" ist. Der "Ergenekon"-Prozess kann Auslöser für weitere Reformen sein.
Die "Kurdenfrage"
In der "Kurdenfrage" deuteten die Reformen zunächst auf einen Wechsel von einer Verweigerungs- zu einer auf Bürgerrechten basierenden Politik hin. Fernseh- und Rundfunksendungen sowie Lehre und Ausbildung in kurdischer Sprache wurden 2002 und 2003 gesetzlich ermöglicht. Bürokratische Hürden haben die Umsetzung aber lange verzögert und gewissermaßen verhindert. Im Einklang mit der nationalistischen Stimmung im Land brach die AKP den pluralistischen Bürgerschaftsdiskurs über die "Zugehörigkeit zur Türkei" (Türkiyelilik) ab. Der erneute Umschwung kam Ende 2008 mit der Gründung des staatlichen Fernsehsenders TRT 6, der in kurdischer Sprache sendet. Im Sommer 2009 startete die Erdoğan-Regierung dann eine Initiative namens "kurdische Öffnung", über deren Inhalt noch nichts bekannt ist, die aber dennoch eine breite öffentliche Diskussion über die Lösung der "Kurdenfrage" auslöste. Im Gegensatz zu früheren Initiativen wird diese auch vom MGK unterstützt, ein Indiz für die Schwächung der Ergenekon-Unterstützer im Militär. Im Parlament fand das Vorhaben die Unterstützung der DTP, stieß jedoch bei CHP und MHP auf Widerstand.
Ein akutes Problem ist die prekäre Situation der von den türkischen Sicherheitskräften aus ihren Dörfern vertriebenen, hauptsächlich kurdischen Bauern, die es abgelehnt hatten, als paramilitärische "Dorfschützer" gegen die PKK vorzugehen.
Menschen- und Minderheitenrechte
Die Abschaffung der Todesstrafe zählt zu den großen Fortschritten in der türkischen Menschenrechtspolitik. Im Ergebnis kritisch zu bewerten ist dagegen die von der AKP angekündigte "Null-Toleranz"-Politik gegenüber Folter. Zwar wurden die Strafen für Folterer erhöht und allen Häftlingen das Recht auf einen Anwalt zugesprochen. Auch die Zahl der Folterungen und Misshandlungen ist im Vergleich zu den 1990er Jahren deutlich gesunken. Seit 2007 haben aber Folter und Misshandlungen durch Polizisten wieder zugenommen - trotz der Unterzeichnung des Fakultativprotokolls der UN-Konvention gegen Folter.
Änderungen im Antiterror-Gesetz 2006 machten viele Verbesserungen im Bereich der Meinungsfreiheit zunichte, die durch Reformen im Straf- und Presserecht erzielt worden waren. Ein Symbol für bestehende Einschränkungen ist der Paragraph 301 des Strafgesetzbuches, der seit 2008 zwar nicht mehr die "Verunglimpfung des Türkentums" aber immer noch eine interpretationsoffene "Beleidigung der türkischen Nation" verbietet.
Die Frauenrechte wurden dadurch gestärkt, dass das neue Strafgesetzbuch von 2005 unter anderem keine Strafmilderungen mehr für "Ehrenmorde" vorsieht und Gewalt gegen Frauen härter bestraft. Jedoch kollidiert die Umsetzung der Gesetze mit patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen und Widerständen bei den staatlichen Behörden sowie den Sicherheitskräften.
Ziel vielfacher Kritik ist der türkische Laizismus, der nicht unparteiisch, sondern zugunsten der sunnitischen Muslime voreingenommen ist. Das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet), die staatliche Religionsbehörde, vertritt nicht die Interessen von Nicht-Muslimen und Aleviten. Das neue Stiftungsgesetz von 2008 lässt wichtige Eigentumsfragen von Nicht-Muslimen, die Rechtsstellung nicht-sunnitischer Religionsgemeinschaften sowie die Ausbildung ihrer Geistlichen weitgehend ungeklärt.
Ausblick
Nachdem 2005 die Reformen in der Türkei zum Stillstand gekommen waren, sorgte die Aufdeckung der Machenschaften des "tiefen Staats" im Rahmen des "Ergenekon"-Prozesses 2008 für neuen Schwung. Seit 2009 ist nun auch das Militärpersonal der Gerichtsbarkeit von Zivilgerichten unterworfen. Ein großer Schritt in Richtung Demokratisierung könnte die von der AKP im Wahlkampf 2007 versprochene neue Verfassung sein.
Gemäß der bekannten Indizes hat sich der Demokratisierungsgrad in der Türkei seit 1999 deutlich erhöht.
Bezüglich der Frage nach der Erfüllung der "Kopenhagener Kriterien" ist zu unterstreichen, dass diesen kein objektiver Maßstab zugrunde liegt, sondern diese höchst subjektiv interpretiert werden können. Die Türkei ist zwar derzeit keine vollwertige liberale Demokratie, sondern weist Eigenschaften einer entkräfteten "Enklavendemokratie" auf, aber ihre demokratischen Qualitäten entsprechen annähernd denen der neuen EU-Mitglieder Bulgarien und Rumänien. Dies ist ein interessanter Tatbestand, wenn man deren demokratisches Konsolidierungsniveau als Kriterium für die Beitrittsfähigkeit eines Landes ansieht.