Einleitung
Die Moderne hat über Jahrhunderte hinweg ein klassen- und schichtübergreifendes Biographiemodell entwickelt, das die Berufsarbeit zum zentralen Angelpunkt des menschlichen Lebens macht. Diesem Modell entstammen gewissermaßen als Abfallprodukt auch jene altersspezifischen Lebensentwürfe, die wir inzwischen, gerade weil sie klassen- und schichtübergreifend sind, schon fast für natürliche Entwicklungsstufen des Lebens halten: Mit Beginn der Pubertät in Vorbereitung auf das Arbeitsleben erzwingt die Moderne die "Jugendzeit". Mit Eintritt in die Berufsarbeit hält sie den Lebensentwurf des "Erwachsenen" bereit (Karriere, Familie, Hauseigentum, etc.); und etwa mit 60 Jahren, dem statistischen Ende der Berufsarbeit, folgt dann der Lebensentwurf des Alters - interessanterweise weniger als eigenständiges Modell, sondern eher als Negativabdruck vom Erwachsenen- bzw. Berufsmodell.
Tatsächlich ist am wenigsten klar, was der Lebensentwurf des Alters eigentlich sein soll. Dennoch gibt es ein öffentlich zitiertes Standardmodell: die "alten Leutchen". Mit dem Ende der Berufsarbeit degenerieren sie psychisch, physisch und sozial so weit, dass sie aus dem Berufsleben ausscheiden, sich als Oma und Opa an den Enkeln erfreuen und bald im Alters- oder Pflegeheim landen - ab und zu unterbrochen von altengerechtem Reisevergnügen und vielleicht noch ein bisschen Altensport.
Aber schon lange ahnen wir, dass dieses Modell der Wirklichkeit nicht mehr so ganz entspricht. Es scheint gar obsolet. Dass dies tatsächlich so ist, liegt zum einen sicher daran, dass die Modernisierung zu einer vermehrten Individualisierung sowie Pluralisierung der Lebensstile geführt hat und Arbeit und Familie damit nur noch zwei von vielen frei bestimmbaren Variablen im Lebensentwurf des Einzelnen sind.
Verschiebung des Alters-Limes
Dass das Alter kaum noch Element eines Lebensentwurfs 50+ ist, liegt vor allem an der Verschiebung des "Alters-Limes". Dieser bezeichnet die Grenze zwischen "Alt-Sein" und "Nicht-Alt-Sein" und hat sich in den vergangenen Jahrzehnten um etwa 15 Jahre nach oben verschoben. Auslöser dafür ist die sogenannte "Wertewandelkoalition", die den viel beschriebenen Wertewandel der vergangenen 40 Jahre durchgesetzt hat. Die Rebellen der Studentenrevolte, die "68er" und die "Babyboomer"
Diese unmittelbare Nachkriegsgeneration macht derzeit etwa 25 Prozent der deutschen Bevölkerung aus und ist damit ebenso groß wie die Gruppe der 20- bis 40-Jährigen. Rechnen wir die heute 45- bis 50-Jährigen dazu, also alle Babyboomer, verändert sich das Verhältnis deutlich: Schon in fünf Jahren wird die Gruppe der dann 50- bis 75-Jährigen knapp 27 Millionen Menschen bzw. 33 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.
Doch weshalb verschiebt sich der Alter-Limes? Alter ist ein gesellschaftliches Konstrukt. Das Land und die Kultur in der man lebt, Bildung und wirtschaftlicher Wohlstand entscheiden darüber, wie alt die Menschen werden oder wie früh sie sterben. Die durchschnittliche Lebenserwartung variiert stark von Land zu Land bzw. von Lebensstil zu Lebensstil. Wer etwa einen "interventionistischen" Lebensstil pflegt, auf große Risiken (Rauchen, Drogen, harte Arbeit, Stress, Gefahren) verzichtet und sich trainiert, kann ziemlich alt und lange jung bleiben; wer es nicht tut, wer "nihilistisch" lebt, altert in der Regel früher und stirbt auch eher. Die Angehörigen der "Wertewandler-Generation" haben Zeit ihres Lebens den Übergang von nihilistischen zu interventionistischen Lebensformen betrieben bzw. vollzogen. Heute haben sie das Gefühl, bis zum 70. Lebensjahr nicht alt zu sein, auch weil sie mehrheitlich fit sind. Das betrifft in erster Linie die sportliche Verfassung, denn nie zuvor waren Menschen in diesem Alter so aktiv: Beachtliche 46 Prozent treiben regelmäßig Sport. Weil sie den Lebensentwurf der "Alten Leutchen" ablehnen, unternehmen viele (fast) alles, um nicht alt zu werden und werden es auch nicht - was ein geradezu frappierendes Beispiel für soziale Konstruktion von biologisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit ist.
Physische, psychische und soziale Fitness
Entspricht der Eindruck, 50- bis 70-Jährige seien nicht mehr alt, auch dem objektiv messbaren und subjektiv empfundenen Gesundheitszustand? De facto sind gesundheitliche Beschwerden wie Bluthochdruck oder Rückenleiden weit verbreitet. Diese stellen jedoch, durch Medikation und Therapie, für die allermeisten Menschen dieser Generation keine größere Einschränkung ihrer Lebensqualität dar. Die Zufriedenheit älterer Menschen mit ihrer Gesundheit war niemals zuvor so hoch wie heute.
Gleichzeitig steigt auch die zu erwartende durchschnittliche beschwerdefreie Lebenszeit stetig an. 2002 lag sie laut Robert Koch-Institut bei 74 Jahren für Frauen und 70 Jahren für Männer.
Auch psychisch und sozial sind die heute 50- bis 70-Jährigen enorm fit. Sie sind in der Regel beispiellos ich-stark, selbstbewusst und mit sich selbst zufrieden. 81 Prozent geben an, heute viel besser zu wissen, was sie im Leben wirklich wollen. Der Grund dafür ist nicht zuletzt eine hohe soziale Integration. Sie sind sexuell aktiv, verfügen über gute Beziehungen zu ihren (Ehe-)Partnern und der Familie und entwickeln ein wohltuend selbstbewusstes Verhältnis zum Alter. Sie reiben sich kaum an der Tatsache, dass sie altern. Ihr Lebensalter hat bei den Betroffenen auch auf der Selbstwahrnehmungsebene nichts mehr mit Alter im herkömmlichen Sinne zu tun. Nicht nur der tatsächliche, sondern auch der gefühlte Alters-Limes hat sich nach hinten verschoben. Da verwundert es auch nicht, dass in Lebensentwürfen 50+ das Alt-Sein längst ausgeklammert ist.
Berufliche und finanzielle Situation
Neben den physischen und psychischen Gegebenheiten haben auch die berufliche Situation und eine im Schnitt solide finanzielle Lage Einfluss auf moderne Lebensentwürfe 50+. Tatsächlich sind die 50- bis 70-Jährigen die relativ wohlhabendste Altersgruppe der Republik.
Diese Zweiteilung gründet auf der Stellung im Arbeitsprozess. Von den gut 20 Millionen Menschen, die heute zwischen 50 und 70 Jahre alt sind, sind etwas weniger als die Hälfte noch erwerbstätig - die meisten davon abhängig beschäftigt als Angestellte (45,6 %), Arbeiter (28,7 %) und Beamte (8,1 %). 17,6 Prozent sind selbstständig - eine Rate, die über 1,7-mal so hoch ist, wie die Selbständigenquote in der Gesamtbevölkerung. Sie ist damit zu erklären, dass jeder vierte Selbstständige nach dem 65. Lebensjahr erwerbstätig bleibt.
Die Selbstständigen in Deutschland sind damit Trendsetzer, denn sie leben vor, was die meisten anderen in ihre weitere Lebensplanung einkalkulieren: 30 Prozent der 50- bis 70-Jährigen wollen auch nach der Verrentung weiter in ihrem Beruf tätig sein. 60 Prozent möchten zwar nicht ihren Beruf weiter ausüben, aber sehr wohl etwas Berufsähnliches tun. Das zeigt, dass es in Deutschland erheblichen Bedarf an Betätigung jenseits der Erwerbsbeschäftigung gibt. Unsere Wirtschafts- und Sozialordnung sieht jedoch für Nicht-Selbständige nur das Ehrenamt als Lösung vor. Ehrenamtliches und freiwilliges Engagement haben in den vergangenen Jahren tatsächlich leicht zugenommen, doch nur 22 Prozent der Befragten sind ehrenamtlich tätig, was nicht selten am "Sozialcharakter" der Ehrenamtlichkeit selbst liegt. Hier ist Reformbedarf erster Ordnung angesagt. Arbeit muss neu definiert und in die Veränderung der Bevölkerungsstruktur integriert werden.
66 Prozent der Angehörigen der Generation 50+ haben sehr genaue Vorstellungen darüber, wie sie die freie Zeit, die ihnen mit der Entberuflichung zufällt bzw. zufallen wird, nutzen möchten. Die meisten wollen die gewonnene Zeit nicht mit Nichtstun vergeuden, sondern in Tätigkeit investieren. Aber diese Betätigung soll auch in Form von Arbeit weniger dem Erwerb dienen, als zur Selbstverwirklichung beitragen. Dadurch scheint die Trennung zwischen Arbeit und Freizeitbetätigung fließend zu werden: Die Nutzung der gewonnenen Zeit soll etwas mit Bildung, Reisen, Kultur, aber durchaus auch etwas mit Arbeit zu tun haben. Beim Reisen geht es den Befragten um Erlebnisse kombiniert mit Partnerschaft und Unterhaltung. Die häusliche Freizeit dient vor allem der gestalterischen Selbstverwirklichung, sei es in Garten oder Haus, beim Kochen oder auch Gäste bewirten.
Familie, Ehe und Partnerschaft
Die 50- bis 70-Jährigen blicken heute auf völlig andere, liberalere Erfahrungen mit Familie, Ehe und Partnerschaft zurück, als alle anderen Menschen im gleichen Alter zuvor.
Besonders hervorzuheben ist, dass Frauen der Generation 50+ auf ganz vergleichbare liberale und sexuell tabufreie Erfahrungen und Biographien zurückblicken können wie Männer. Die Emanzipation der Frauen, ihre persönlichen Entwicklungen und ihre Biographien nach 1968 sind vermutlich die wichtigsten Voraussetzungen für das Gelingen einer guten Partnerschaft bis ins hohe Alter. Wir nennen diesen Trend das "Philemon-und-Baukis-Syndrom"
Auch Sex spielt im Leben der über 50-Jährigen eine wichtige Rolle. Über 80 Prozent der Männer und gut 60 Prozent der Frauen geben an, regelmäßig Geschlechtsverkehr zu haben. 62 Prozent der Männer und 33 Prozent der Frauen "machen es" zwei bis drei Mal im Monat. Im höheren Alter zeichnet sich jedoch ein Rückgang sexueller Aktivität ab. Nur ein sehr kleiner Teil der älteren Bevölkerung (über 70) hat noch Sex, was aber nicht das Ende von Liebe und Zärtlichkeit sein muss. In dieser Phase gewinnen die weichen Faktoren der Sexualität an Bedeutung. So kommt es im Alter zwischen 50 und 70 Jahren offenbar darauf an, die Transformation der Sexualität "fleischlichen" Stils in eine "vegetarische" Form hinzubekommen.
Wohnexperimente
Beim Thema Wohnen ist in den Lebensentwürfen 50+ ein neuerlicher Variantenreichtum an die Stelle von Altenheim oder Pflege innerhalb der Familie getreten. Zwei populär diskutierte Modelle für das Wohnen im Alter sind die Alten-Wohngemeinschaft und das Mehrgenerationenhaus. Die Frage ist jedoch, ob diese eine flächendeckende Realisierungschance haben, wo doch die Generation der 50- bis 70-Jährigen in so guten Wohnverhältnissen lebt, dass eine Bereitschaft, sich in solchen Projekten niederzulassen, nicht unbedingt wahrscheinlich erscheint. 60 Prozent unserer Befragten halten das Mehrgenerationenhaus jedoch für hoch attraktiv. Nicht weil sie derzeit einen besonderen Bedarf dafür hätten, sondern weil es unter der Perspektive schwindender Familiensolidarität eine echte Alternative darstellt. Das Modell findet jedoch aus einem weiteren Grund bei der Zielgruppe 50+ breite Unterstützung: 88 Prozent der Menschen zwischen 50 und 70 Jahren würden nie oder nur im Pflegefall in ein Altenheim gehen. Wenn der Zeitpunkt der Pflegebedürftigkeit eintritt, werden also neue Modelle als erforderlich angesehen, um mit dem Pflegeproblem und anderen Betreuungsaufgaben im hohen Alter fertig zu werden. Solange die Zweierbeziehung noch funktioniert, werden solche Modelle nicht als zwingend empfunden. Wenn sie aber wegfällt, kommt der Punkt der Wahl zwischen der Betreuung im Altersheim und möglichen Alternativen. Wenn es diese gibt, hat das klassische Altersheim vermutlich keine große Chance mehr.
Machtvolle Mittelschicht?
Wenn die Menschen zwischen 50 und 70 Jahren heute nicht mehr alt sind, was bedeutet das für die Gesellschaft, die Politik oder für nachfolgende Generationen? Welche Konsequenzen ziehen die historisch einzigartigen Lebensentwürfe der Generation 50+ mit sich?
Durch die demographischen Prozesse der vergangenen 50 Jahre ist die Generation 50+ in eine Mehrheitsposition gelangt, die ihr die Macht gibt, die gesellschaftlichen und politischen Prozesse in diesem Land grundlegend zu beeinflussen. Die ökonomischen Daten über die 50- bis 70-Jährigen deuten darauf hin, dass sich hier die Mittelschicht verbirgt, deren Ende schon so oft prognostiziert wurde.
Lebenslang arbeiten?
Reformprojekte in aller Welt zeigen: Es kann eine faszinierende Erfahrung sein, bis ins hohe Alter zu arbeiten. Wenn aber ein erheblicher Teil der Bevölkerung über 65 Jahre weiter arbeiten möchte, womöglich bis zum 80. Lebensjahr und darüber hinaus, gerät das gesamte System der Arbeitsmarktregulierung ins Wanken. Zumutbarkeit und Grenzen der Arbeit im Alter müssen deshalb neu bestimmt werden. Die Faszination der bestehenden Modelle geht davon aus, dass die arbeitenden Älteren von jeglichen ökonomischen Zwängen befreit sind: Sie haben ihre Renten sicher. Stehen Ältere aber unter dem Zwang der Erwerbsarbeit, kann und wird der Segen zum Problem werden, Ausbeutung, Lohn- und Rentenkürzung wären nur einige denkbare Folgen. Somit kann die Frage nach der Arbeit im Alter nicht losgelöst von der Frage der sozialen Sicherung diskutiert und beantwortet werden.
Das Ehrenamt allein kann diese Problematik nicht lösen. Es ist nicht darauf eingestellt, Millionen von Menschen auf Dauer eine sinnvolle Beschäftigung zu geben. Möglicherweise hat aber ein altes Konzept, die Eigenarbeit, eine Renaissance vor sich. Das Grundprinzip der Eigenarbeit ist das "Selbermachen statt kaufen": Menschen schließen sich dauerhaft und verlässlich zusammen, um gemeinsam Probleme zu lösen, die sonst nicht oder nicht so gut gelöst werden könnten. So können alleinstehende ältere Menschen beispielsweise in einer Alten-WG die häusliche Pflege in Eigenarbeit übernehmen oder ältere und jüngere Menschen sich im Mehrgenerationenverbund gegenseitig im Haushalt und bei der Kindererziehung unterstützen. In Eigenarbeit können zum Beispiel auch Kindertagesstätten, Hausarbeitsgruppen, Spielkreise oder Werkstätten geführt werden. Die Erfahrung mit solchen Projekten zeigt, dass so etwas am besten gelingt, wenn man auch zusammen wohnt oder siedelt.
Eines steht jedoch fest: Der heutige Normallebenslauf, der um das Berufsleben herum organisiert ist und in dem Menschen mit durchschnittlich 60 Jahren aus dem Arbeitsprozess ausgegliedert werden, kann mit den gesellschaftlichen Herausforderungen nicht Schritt halten. Die Ressource Zeit, die nach dem Berufsleben so reichlich vorhanden ist, muss genutzt werden. Diese Chance blieb (bisher) ungenutzt.
Generationengerechtigkeit?
Der Wohlstand der Generation 50+ ist das Produkt gesellschaftlicher Transfers aus dem System sozialer Sicherheit. Doch dieses Modell der 1950er Jahre mit der Sozialversicherungspflicht als Basis ist angesichts der demographischen Entwicklung auf Dauer nicht tragfähig. Die Generationengerechtigkeit verlangt gerade hinsichtlich der Zukunftschancen der jüngeren Jahrgänge eine vernünftige Lösung des Rentenproblems. Angesichts ihrer numerischen Überlegenheit in der Gesellschaft erscheint es unwahrscheinlich, dass Lösungen gefunden werden, die nicht vom politischen Willen der Generation 50+ getragen werden. Die zukünftige Wählerstruktur könnte aber durchaus zu überraschenden politischen Bündnissen und neuen Lösungen führen. Die Partei oder Koalition, die am ehesten in der Lage sein wird, realistische Perspektiven zur (zumindest teilweisen) Lösung des Problems der sozialen Sicherung für die Zukunft aufzuzeigen, dürfte ähnlichen Erfolg haben, wie die CDU Konrad Adenauers bei der Bundestagswahl 1957.
Wohnverwandtschaften?
Jenseits des 80. Lebensjahrs nimmt das Pflegerisiko dramatisch zu. Selbst wenn wir dieses zukünftig durch medizinische Fortschritte halbieren, müssen wir davon ausgehen, dass fast jeder Dritte aus der Generation 50+ zu einem Pflegefall wird. Das wären in 20 Jahren um die 5 Millionen Pflegefälle. Sollen diese in Heimen untergebracht werden, müssten schätzungsweise 50.000 Heime gebaut werden.
Die "Bohnenstangenfamilie"
Es könnte sich als Glücksfall der Geschichte erweisen, dass mit der beschriebenen "Wertewandelkoalition" gerade jetzt eine Generation in jenes Alter kommt, in dem sie die Kraft, die Einstellung und die gesellschaftliche Macht besitzt, durch ihre weitere Lebensplanung die gesellschaftlichen Herausforderungen zu stemmen und so zeitgemäße Lebensentwürfe 50+ zu etablieren.