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Was geschieht beim Lesen?

Ernst Pöppel

/ 16 Minuten zu lesen

Lesen als Kulturtechnik ist eine kreative Leistung des menschlichen Gehirns, die aber durch einen Missbrauch desselben erkauft wird.

Einleitung

Die Frage, was beim Lesen geschehe, kann aus Sicht der Hirnforschung und Psychologie mehr oder weniger präzise beantwortet werden; ehrlicher Weise sollte man sagen, weniger präzise. Doch bevor ich mich dieser Frage zuwende, möchte ich einige kritische Bemerkungen zum Lesen überhaupt machen, wobei ich bei jenen, die sich dem Lesen als einer Kulturtechnik besonders verpflichtet fühlen, von vornherein um Vergebung bitte. Ich meine allerdings, dass meine Überlegungen nicht aus der Luft gegriffen sind, wobei mir klar ist, dass ich mir keine Freunde machen werde. Mir ist unverständlich, warum man das Lesen als Kulturtechnik so besonders hoch hängt, und dass man beklagt, dass die Lesekompetenz in unserer Kultur schwinde. Ich bin gerne bereit, meine Thesen, deren Wahrheitsgehalt meines Erachtens schwer zu bestreiten sind, beherzt zu verteidigen.



Vielleicht hat es ja auch etwas Gutes, dass das Lesen im Rahmen der digitalen Revolution in Gefahr zu geraten scheint. Denn Lesen ist für unser Gehirn eine der unnatürlichsten Tätigkeiten überhaupt. Ich gehöre berufsbedingt zu den intensiven Lesern und verbringe täglich mehrere Stunden damit. Aber mir ist klar, dass ich damit mein Gehirn missbrauche. Lesen ist von Natur aus nicht vorgesehen gewesen, sondern von Menschen als Kulturtechnik erfunden worden. Irgendwann entdeckte man, dass man die Abfolge von Sprachlauten oder die Abfolge von Wörtern und Begriffen verbildlichen kann und damit eine visuelle Darstellung der gesprochenen Sprache erhält.

Zwei Formen des Lesens

Es haben sich im Wesentlichen zwei Formen des Lesens entwickelt: Zum einen sind es die Alphabetschriften, bei denen eine Eins-zu-eins-Zuordnung von Sprachlauten und Buchstaben versucht wird. Diese Umwandlung von Ton in Bild ist prä-semantisch, also vor aller Bedeutung des Gesagten. Und dann gibt es zum anderen die bildlichen Schriften, früher die Hieroglyphen und jetzt Piktogrammschriften, wie sie im Chinesischen oder im Kanji des Japanischen verwendet werden, oder auch die sehr konkrete Bildschrift Dongba, die im Süden Chinas an der Grenze zu Myanmar verwendet wird. Hier wird durch das Schriftzeichen Bedeutung mitgeteilt; es handelt sich um eine prinzipiell andere Abbildung von Ton, der gesprochenen Sprache, und visuellem Symbol, seiner bildlichen Darstellung. In diesem Fall trägt bereits das Schriftzeichen, anders als der Buchstabe, Bedeutung.

So nimmt es nicht wunder, dass die Hirnareale, die sich mit dem Lesen von Alphabet- und von Piktogrammschriften befassen, durchaus verschieden sind. Piktogrammschriften beanspruchen in größerem Maße Areale der rechten Gehirnhälfte, während Alphabetschriften stärker die linke Gehirnhälfte beschäftigen. Hierzu gibt es eindrucksvolle Belege aus Studien in Japan mit Patienten, die unter Störungen einer Gehirnhälfte litten. Im Japanischen gibt es neben der klassischen Schrift des Kanji noch zwei alphabetartige Schriftsysteme, das Hiragana und das Katagana. Patienten mit Funktionsstörungen der rechten Gehirnhälfte im Hinterhauptsbereich verlieren die Fähigkeit, Kanji zu lesen, wobei die Kompetenz für die alphabetartigen Anteile der Schrift erhalten bleibt, während bei Läsionen der linken Gehirnhälfte die Kompetenz für Kanji verschont bleibt. Solche Dissoziationen der beiden Gehirnhälften beim Lesen sind für Alphabetschriften nicht bekannt, bedeuten aber, dass in verschiedenen Regionen dieser Welt das Gehirn beim Lesen in sehr unterschiedlicher Weise ausgebeutet wird.

Wir sprechen heutzutage mit großer Faszination, aber auch Angst von der "digitalen Revolution". Die eigentliche Revolution hat aber mit der Erfindung der Schrift stattgefunden, und diese hatte erhebliche kulturelle Konsequenzen, über deren Ausmaße wir uns üblicherweise keine hinreichenden Vorstellungen machen. Ich vertrete die These, dass bestimmte philosophische Fragestellungen, insbesondere das Leib-Seele-Problem, mit dem man sich als Hirnforscher herumschlagen muss, Artefakte der Schriftsprache sind. Indem ich mich vom gehörten Wort löse, das die unmittelbare Kommunikation kennzeichnet, wenn ich also den Text aufschreibe, gewinnt dieser ein Eigenleben. Er wandert in ein Archiv und löst sich von der unmittelbaren Kommunikation. In solchen dokumentierten Texten, insbesondere bei den Alphabetschriften, gehen aber wesentliche Merkmale der unmittelbaren Kommunikation verloren. Insbesondere muss man hier an die Prosodie der Sprache denken, dass also Intonationsmuster Gefühle zum Ausdruck bringen, von denen im schriftlichen Text abstrahiert wird. Eine wesentliche Konsequenz der Erfindung des Lesens ist somit nach meiner Einschätzung, dass wir in unserem Kulturkreis die Vorstellung entwickelt haben, als gebe es nur das explizite Wissen, das sich in Worten festhalten lässt, das in Büchern und Enzyklopädien und jetzt auch im Internet dokumentiert ist.

Drei Formen des Wissens

Ein wesentliches Ergebnis der modernen Hirnforschung besteht in der Erkenntnis, dass es mindestens drei Formen des Wissens gibt, die komplementär zueinander stehen. Wir machen uns zu Karikaturen unserer selbst, wenn wir immer nur eine Wissensform in den Blick nehmen. Neben dem expliziten Wortwissen gibt es das bildliche Wissen, das in den Piktogrammschriften stärker repräsentiert ist, und es gibt vor allem das implizite, intuitive und emotional aufgeladene Handlungswissen. Der Verzicht auf die Gleichberechtigung dieser beiden anderen Wissensformen, des bildlichen und des impliziten Wissens, ist eine Konsequenz der eigentlichen kulturellen Revolution, der Erfindung des Lesens. Nebenbei sei bemerkt, dass die Unkenntnis darüber, dass Piktogrammschriften und Alphabetschriften jeweils unterschiedliche Areale des Gehirns beanspruchen, zu Missverständnissen in der interkulturellen Kommunikation führen kann. Schriftliches in beiden Lesekulturkreisen führt jeweils zu unterschiedlichen Assoziationsfeldern, und häufig werde ich davon überrascht, wie verschieden Denkabläufe bei meinen Freunden in Japan oder China sind, mit denen ich wissenschaftlich zusammenarbeite. Dies liegt meines Erachtens an den unterschiedlichen Prägungen, wenn wir in der Kindheit das eine oder das andere Schriftsystem zum Ausdruck unserer Gedanken erlernen.

Ein besonderes Problem des Hirnforschers ist das Leib-Seele-Problem: Wie steht das materielle Gehirn als Substanz in Wechselwirkung mit dem, was wir als Geist oder Seele, das Mentale also, bezeichnen? Die Entdeckung dieses Problems kann nur als Artefakt verstanden werden. Durch die Verschriftlichung von gesprochenen Worten haben diese sich selbstständig gemacht, und es ist zum Ontologisieren gekommen. Wir werden dazu verführt, den schriftlich fixierten Begriffen eigene Identitäten im Gehirn zuzuordnen. Doch Abläufe des Gehirns im Denken und Entscheiden, im Wahrnehmen und im Fühlen sind immer prozessual zu sehen. In dem Augenblick, in dem wir Substantive erfinden, die diese einzelnen Prozesse festhalten sollen, bewegen wir uns bereits in der Sprachfalle. Dann kann man sich nur wundern, dass manche Hirnforscher, die in dieser Sprachfalle sitzen, im Gehirn nach dem Sitz des Bewusstseins, der Willensfreiheit, den Gefühlen, der Intelligenz und dergleichen suchen. Dies sind alles Gebrauchswörter, mit denen wir zwar notwendigerweise kommunizieren, die aber nicht in dem Sinne missverstanden werden dürfen, dass es im ontologischen Sinn tatsächlich das gibt, was begrifflich angesprochen wird: das Bewusstsein, die Erinnerung, der Wille, die Intelligenz, der Glaube.

Wörter führen in die Irre. So ist das Leib-Seele-Problem für Menschen, die nicht lesen können, überhaupt kein Problem. Wer käme auf die Idee, Körperliches oder Seelisches voneinander zu trennen? Wenn die moderne Hirnforschung einen Beitrag geleistet haben sollte, dann ist es die Beobachtung, dass das, was immer wir an uns beobachten können, verlorengehen kann. Subjektives geht verloren durch den Verlust von Hirnsubstanz nach einem Schlaganfall oder Trauma oder durch andere Störungen des Gehirns. Damit liefert der Verlust einer Funktion ihren eigenen Existenzbeweis, denn verloren gehen kann nur, was es auch gibt. Wir sind also geradezu aufgefordert zu einer monistischen Position bei der Analyse unseres Seelenlebens, also des Leib-Seele-Problems, begründet in einem empirischen Realismus. Es gibt für mich aus wissenschaftlicher Sicht keinen Zweifel an dieser Position. Der Dualismus, also verschiedene Substanzen von Leib und Seele anzunehmen, die res extensa und die res cogitans, wie es René Descartes getan hat, ist in diesem Sinn ein Denk-Artefakt, letzten Endes bedingt durch die Erfindung der Schrift.

Aber: Die Erfindung des Lesens als wohl größte kulturelle Revolution des Menschen war nur möglich, weil das Gehirn hinreichend flexibel ist, um sich neuen Aufgaben zu widmen. Areale des Gehirns, die neuronalen Programme, werden neu gestaltet und fremd bestimmt, und es kommt zu einem Verzicht der ursprünglichen Funktionszuordnung neuronaler Systeme. Was könnten wir nicht alles, wenn wir nur nicht lesen müssten! Das menschliche Gehirn wird durch Lesen geradezu missbraucht, mit den genannten durchaus negativen kulturellen Konsequenzen. In diesem Sinne habe ich überhaupt keine Probleme mit modernen technologischen Entwicklungen, bei denen die bildliche Repräsentation von Sachverhalten stärker betont wird und mit denen man Abstand nimmt von der Überbetonung des Lesens als Kulturtechnik. Mit Hilfe neuer Technik wird ein langer Missbrauch des Gehirns überwunden.

Wie lesen?

Nun zum Lesen selbst, und was hierbei geschieht. Zunächst eine Vorbemerkung. Mir fällt auf, dass üblicherweise nicht zwischen den beiden oben beschriebenen Formen des Lesens unterschieden wird. Es gibt einerseits das Lesen im Hinblick auf Sinnentnahme, wenn man also beispielsweise einen wissenschaftlichen Text liest. Für mich ist es ein großes intellektuelles Vergnügen, philosophische Texte zu lesen, vorzugsweise von Kant, und die oft betrübliche Erfahrung zu machen, mit welcher Anstrengung es verbunden ist, das von Kant Gemeinte aus dem Text zu extrahieren. Da ich die Angewohnheit habe, Texte auswendig zu lernen, die mir besonders wichtig sind, habe ich bei Stellen aus der "Kritik der reinen Vernunft" die Erfahrung gemacht, dass mir dies bei Kant nicht gelingt. Irgendein Wort schlüpft immer durch, wenn es mir um die exakte Repräsentation seines Textes in meinem Gehirn geht. Wie ist das möglich? Es spricht natürlich nicht gegen Kant, dass jemand über 200 Jahre später seine Texte nicht genau aus dem Gedächtnis heraus reproduzieren kann, sondern eher für ihn: Manche Gedanken sind so schwierig zu formulieren, dass die Wörter nur umschreiben können, was gemeint ist. Man schreibt geradezu um einen Gedanken herum, man ringt um Worte. Kant ist in diesem Sinne ehrlich und simuliert nicht Klarheit, wo sie nicht besteht. Bei theoretischen Texten, die mir völlig klar erscheinen, bin ich daher recht misstrauisch geworden: Ist es wirklich so klar, wie der Autor meint?

Und dann gibt es zweitens das bildgenerierende oder geschichtengenerierende Lesen, wie es in Romanen oder in einem Gedicht versucht wird. Hier wird eine innere Stimme genutzt, um ein bildliches Drama auf der Bühne des inneren Erlebens zu entwerfen. Diese Form des Lesens hat eine ganz andere Bedeutung und auch Begründung in den neuronalen Prozessen unseres Gehirns. Jeder Leser entfaltet eine eigene Bildgeschichte, die mit ihm selber abgestimmt ist. Dieses Lesen ist einer Ich-Nähe, der Identität des Lesers, verpflichtet. Hier wird das Gedicht oder die Episode Teil des Lesers selbst. Ich identifiziere mich mit der Handlung, und die Bildsequenz der Handlung ist je meine eigene. Dies ist beim Lesen mit der Absicht auf Sinnentnahme ganz anders, denn hier geht es immer um Teilhabe am Allgemeinen um die Erzeugung von Wissen; insofern ist dieses Wissen eher Ich-fern. Wir müssen also von zwei prinzipiell verschiedenen Formen des Lesens ausgehen. Für mich als Wissenschaftler mit engen Kontakten nach China und Japan gibt es hier eine praktische Konsequenz: Weil in Piktogrammen auch das wissenschaftliche Wissen stärker bildbetont repräsentiert wird, mit chinesischen Schriftzeichen oder dem Kanji, die jeweils einen anderen Assoziationsrahmen eröffnen, kann man sich fragen: Reden wir im internationalen Diskurs über dieselben Dinge? Gerade die Probleme der Repräsentation des Wissens in verschiedenen Schriftsystemen gehört zu einer der faszinierenden Herausforderungen internationaler Forschung; man muss dieses Problem entdecken, um Missverständnissen aus dem Weg zu gehen.

Um das Lesen und seinen Ablauf technisch zu beschreiben, möchte ich eine kleine Geschichte konstruieren, die im Übrigen deutlich macht, dass das Lesen nicht etwas von Gott Gewolltes ist. Wir bekommen Besuch von Bewohnern aus einem anderen Sternensystem. Die Besucher wollen uns näher kennenlernen, nachdem sie bereits viel über uns erfahren haben. Es war ihnen gelungen, an unser genetisches Material heranzukommen. Und sie hatten mit großem Aufwand ein Genomprojekt durchgeführt, um den genetischen Schlüssel von Menschen zu verstehen. Nun wollen sie ihre Analyse durch persönlichen Augenschein überprüfen, also durch den Besuch verifizieren, was sie meinen, schon zu wissen. Ihnen war bekannt, dass Menschen Grundbedürfnisse haben. Sie wussten, dass Nahrung aufgenommen werden muss und der Wärmehaushalt reguliert wird. Sie waren daher nicht überrascht, uns bekleidet zu sehen, und ihr Vorwissen wurde bestätigt, als sie Häuser, Dörfer oder Städte sahen. Sie wussten auch, dass Menschen Bedürfnisse nach Bewegung, Kommunikation und Sexualität haben, und so waren sie ebenfalls nicht überrascht, unser Verkehrswesen, bildliche Kommunikationsformen, familiäre Strukturen sowie Bindungs- und Entbindungsrituale im Zwischenmenschlichen zu beobachten.

Die Besucher fühlten sich durch diese Beobachtungen in ihrer Analyse bestätigt, wenn es nicht ein störendes Element gegeben hätte: Menschen taten etwas, das nicht vorauszusehen war, das offenbar in den genetischen Anlagen nicht eingespeichert war. Menschen hatten manchmal so genannte Bücher in der Hand, manchmal auch nur Blätter. Und ihre Augen richteten sich längerer Zeit auf bestimmte Zeichen. Abgewandt von der Welt wanderten die Augen über einzelne Zeilen, auf denen offenbar etwas zu finden war, was für sie wichtig schien. Und manchmal waren sie so weltabgewandt, dass man vermuten musste, dass sie sich ihrerseits in einer anderen Welt aufhielten. Was war es, das die Besucher durch eine genetische Analyse nicht voraussagen konnten? Die Besuchten hatten offenbar eine Tätigkeit erfunden oder gefunden, die man als "Lesen" bezeichnet.

Lesen ist in den Genen nicht vorgesehen, aber durch die Gene des Menschen möglich. Im Einzelnen stellten die Besucher des anderen Sternensystems fest, was das Lesen kennzeichnet. Dabei waren sie überrascht, wie viele Kompetenzen zusammenkommen müssen, damit man das Lesen verstehen kann. Die Transduktionsprozesse in der Netzhaut, die aus physikalischen Ereignissen neuronale verwertbare Information machen, werden von Chemikern und Neurobiologen untersucht. Es interessieren jene neuromolekularen Prozesse an den Sinneszellen, die dem Gehirn überhaupt erst einen Zugang zur Welt eröffnen. Die Netzhaut als Eingangstor des Lesens ist eine komplexe und vor allem inhomogene Struktur, deren Aufbau von Anatomen analysiert wird. Diese untersuchen die Leitungsbahnen der Fasern, die das Auge verlassen und in verschiedene Gebiete des Gehirns ziehen. Hierbei lautet eine Erkenntnis, dass die visuelle Informationsverarbeitung keine Einbahnstraße ist, sondern dass aufgenommene Informationen im Gehirn räumlich verteilt werden. Der visuelle Kortex ist aus verschiedenen Komponenten zusammengesetzt, die unterschiedliche Zuständigkeiten haben.

Dies führt zu einer zentralen Grundfrage der Forschung: Wie wird alles zusammengesetzt, so dass ein Wort als Wort gelesen werden kann oder ein Gesicht als ein Gesicht erkannt wird? Beim Lesen richtet man jenen Punkt im Auge, der die beste Sehschärfe hat, auf jene Worte, die im Augenblick im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Dieser Punkt in der Netzhaut ist ein anatomisch gekennzeichneter Bereich, in dem die Sinneszellen besonders dicht angeordnet sind. Anatomische Bedingungen bestimmen also, wohin beim Lesen geschaut wird. Wie die Informationen auf dem Augenhintergrund abgebildet werden und wie das Licht mit seinen verschiedenen Wellenlängen von der Netzhaut und den davor liegenden Medien behandelt wird, gehört zum Untersuchungsgebiet von Physikern. Technische Fertigkeiten eines Optikers sind gefragt, wenn es hier Abweichungen gibt.

Die Besucher stellen auch fest, dass es eine offenbar unverrückbare Tatsache ist, dass sich mit zunehmendem Alter die Brechungseigenschaften der Linse im Auge so verändern, dass alle zunächst Normalsichtigen später eine Lesebrille tragen müssen. Nachdem die optischen Daten bei Alphabetschriften, die Buchstaben also, in den Rezeptoren der Netzhaut zu Gehirninformationen geworden sind, fragen sich Physiologen, in welcher Weise Nervenzellen an den verschiedenen Stationen des Gehirns angesprochen werden müssen, also wie die optischen Daten geometrisch strukturiert sein müssen, um die Nervenzellen zu interessieren, diese also zur Erregung oder zum Schweigen zu bringen. Eine Erkenntnis der physiologischen Hirnforschung ist es, dass Nervenzellen an verschiedenen Schaltstellen des Gehirns unterschiedlichen Reizkriterien gehorchen, wobei es hinsichtlich des Buchstabendekodierens wichtig ist, dass Nervenzellen im visuellen Kortex jeweils bevorzugt auf eine bestimmte Orientierung von Liniensegmenten reagieren. Nervenzellen mit unterschiedlichen Eigenschaften sind aber räumlich voneinander getrennt, sodass wiederum die Frage auftaucht, wie aus der räumlich getrennten Repräsentation der Liniensegmente die Wahrnehmung eines A im Gegensatz zu einem H möglich wird, also der Kombination eines Buchstaben aus verschiedenen Liniensegmenten. Diese Zusammensetzung ist in Piktogrammschriften noch erheblich komplizierter.

Wenn Menschen lesen, vollführen die Augen typische Blicksprünge über die Zeilen hinweg, wobei die Größe der Blicksprünge einerseits von der Größe der Buchstaben, andererseits vom Inhalt des Gelesenen abhängig ist. Ein Problem, das hierbei deutlich wird und das in eindrucksvoller Weise den Unterschied in der Informationsverarbeitung von Mensch und Maschine belegt: In Computern wird Information sequenziell verarbeitet. Wenn Menschen lesen, dann nehmen Sinneszellen gleichzeitig an verschiedenen Orten des Gesichtsfeldes Information auf; es erfolgt eine parallele Informationsverarbeitung. Das Gehirn ist hinsichtlich der Informationsverarbeitung durch eine Schnittstelle gekennzeichnet, bei der ein Übergang von paralleler zu sequenzieller Informationsverarbeitung erfolgt.

Mit bildgebenden Verfahren kann man dem Gehirn bei seiner Arbeit zuschauen. Es handelt sich um die Magnetenzephalographie (MEG) zur Erfassung schneller elektrischer Veränderungen im Gehirn, um die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) zur funktionellen Beschreibung beteiligter Orte im Gehirn und um die Positronen-Emissionstomographie (PET) zur Erfassung chemischer Veränderungen und zur Beschreibung dynamischer Prozesse im Energieverbrauch oder in der Durchblutung des Gehirns. Eine wesentliche Erkenntnis, die mit Hilfe dieser Verfahren gewonnen wurde, liegt darin, dass beim Lesen gleichzeitig verschiedene Areale des Gehirns aktiv sind. Diese Information kann nur gewonnen und dann bewertet werden, wenn Elektroingenieure, Nachrichtentechniker, Informatiker und Mathematiker zusammenarbeiten. Keine Fachrichtung allein könnte mit dieser Komplexität des Lesens im Gehirn allein umgehen.

Welches sind auf einer höheren Abstraktionsebene jene notwendigen Kompetenzen, die in der Sprache benötigt werden, um miteinander zu kommunizieren, und die auch für das Lesen gelten? Grundbedingung für das Lesen ist es, über ein Wortwissen zu verfügen, eine lexikalische Kompetenz, ohne die das Gehirn hilflos wäre. Dabei gibt es offenbar sogar zwei Lexika: eines für Funktionswörter und eines für inhaltstragende Wörter, also Hauptwörter und Verben. Lexika allein reichen aber nicht aus. Das Gehirn verfügt auch über syntaktische Kompetenz, also Grammatikfähigkeit. Diese Fähigkeit ist offenbar angeboren, denn die Kompetenz kann selektiv und mit einer interindividuellen Konstanz ausfallen. Des Weiteren wird semantische Kompetenz benötigt, denn das Gelesene hat üblicherweise Bedeutung. Auch diese Kompetenz kann selektiv verlorengehen. Patienten mit dieser Störung haben noch ein Wortwissen, sie sprechen grammatikalisch korrekt, aber die Sprache ergibt keinen Sinn mehr. Dann wird sprachlautliche Kompetenz benötigt, die zu den Alphabetschriften geführt hat. Bemerkenswert ist, welche großen Überlappungen die verschiedenen Sprachen bezüglich ihres phonetischen Repertoires aufweisen. Alle Sprachen der Welt - und es sind wohl über 5000 - kommen mit einem phonetischen Repertoire von knapp 100 Sprachlauten aus. Schließlich ist Sprache durch prosodische Kompetenz gekennzeichnet: Die Melodie der Sprache bringt die Gefühle zum Ausdruck. Diese Kompetenz wird im Text nicht berücksichtigt; es ist die Herausforderung von Dichtern und Schriftstellern, sie zu simulieren.

Mit diesen Analysen über das Lesen würde man jedoch nur einen Teilbereich dessen erfassen, was das Lesen auszeichnet. Die naturwissenschaftliche Seite des Lesens ist notwendig, aber nicht hinreichend, um zu verstehen, auf welche Weise die Welt der Vorstellungen, der eigenen Bilder, der Gefühle entsteht. Die schriftstellerische Beschreibung und das dichterische Wort gehören einer anderen Kultur an. Doch wird das Bild aus dem Gedicht, die Vorstellung aus einem Roman oder auch der abstrakte Sinn aus einem Text nicht verfügbar, wenn nicht jene Strukturen ausgeprägt sind, die mit analytischen Verfahren untersucht werden. Diese Tatsache verlangt es, dass, um Einblick in das Lesen zu erhalten, eine Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaftlern, Geisteswissenschaftlern und auch Künstlern notwendig ist.

Drei Sekunden

Das gemeinsame Wirkfeld von Wissenschaftlern und Künstlern zeigt sich in bemerkenswerter Weise bei der zeitlichen Struktur von Gedichten. Die meisten sind dadurch gekennzeichnet, dass die Dauer einer gesprochenen Verszeile auf einer zeitlichen Bühne implementiert ist, die bis zu drei Sekunden dauert, und dies unabhängig von der Sprache. Ein Beispiel von Heinrich Heine ("Buch der Lieder") möge dies verdeutlichen; der Leser kann laut rezitierend den Ablauf der Zeit überprüfen: "Zu fragmentarisch ist Welt und Leben?/ Ich will mich zum deutschen Professor begeben;/ der weiß das Leben zusammenzusetzen,/ und er macht ein verständlich System daraus."

Ist die Verszeile länger, handelt es sich in unserem Kulturkreis um einen Hexameter, der durch eine Zäsur in der Verszeile gekennzeichnet ist. Dieses zunächst blass wirkende Faktum gewinnt eine faszinierende Wirklichkeit, wenn man feststellt, dass die Verszeile einen universellen Mechanismus des Gehirns repräsentiert. Aufeinanderfolgende Informationen werden vom Gehirn automatisch zusammengefasst, aber nur bis zu einer Dauer von etwa drei Sekunden. Wahrnehmen, Erinnern, Entscheiden und Handeln sind zeitlich segmentiert, sodass nach jeweils etwa drei Sekunden ein neues Zeitfenster geöffnet wird. Die zeitliche Bühne unseres Erlebens wird frei gemacht, um eine neues Bild, einen neuen Satz zu repräsentieren. In regelmäßigen Schritten fragt das Gehirn: "Was gibt es Neues in der Welt?"

Im Gedicht kommen Sprechen, Lesen, Prinzipien der Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns und der künstlerische Akt zusammen. Doch dies gilt nicht nur für das Gedicht. Im gut geschriebenen Text wird darauf geachtet, und dies geschieht meist implizit, da der Schriftsteller üblicherweise kein explizites Wissen von Prozessen des Gehirns hat, dass sein abgeschlossener Gedanke in einem Dreisekundenintervall ausgedrückt werden muss. Das Deutsch ist dadurch gekennzeichnet - und hierzu besteht grammatikalisch die Möglichkeit, vor allem im schriftlichen Text -, das Verb erst sehr spät in den Text einzubringen. Dies mag verwirren, doch fordert es auch in besonderer Weise die Aufmerksamkeit.

Diese Dreisekundenfenster des Gehirns spielen im Übrigen auch in der Typografie eine wichtige Rolle. Gut gesetzte Texte ermöglichen es, eine Zeile in etwa drei Sekunden aufzunehmen, wobei die Regelmäßigkeit des Satzspiegels entscheidend ist, um möglichst anstrengungslos das Gelesene aufzunehmen und zu verarbeiten. Das Durchbrechen des Satzspiegels durch zu kurze oder unregelmäßige Zeilenlängen, etwa, um mit einem Bild eine Aussage zu machen, macht das Lesen anstrengend. Dass dies häufig versucht wird, zeigt auch, welche zunehmende Bedeutung Bilder erhalten. Die eigentliche Katastrophe im Satzspiegel findet sich aber in Schulbüchern. Wenn aus Gründen, die vermutlich mit dem Sparen zu tun haben, Zeilenlängen viel zu lang sind, wird damit den Kindern die Informationsverarbeitung erheblich erschwert. Wenn schon das Gehirn durch das Lesen missbraucht wird, dann sollten alle jene Faktoren berücksichtigt werden, die dennoch eine möglichst anstrengungslose Informationsverarbeitung ermöglichen.

Als die Besucher des fremden Sternensystems all dies über das Lesen erfahren hatten, reisten sie zufrieden wieder ab, mit neuen Hypothesen für ihre eigene Forschungsarbeit. Sie kamen zur Überzeugung, dass Lesen eine kreative Leistung des menschlichen Gehirns ist, die aber durch einen Missbrauch des Gehirns erkauft wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im Folgenden wird auf Literaturnachweise verzichtet; diese sind beim Autor zu erfragen. Vgl. auch Ernst Pöppel, Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns auf unser Ich, München 2006.

Dr. phil., Dr. med. habil., geb. 1940; Psychologe; Gründer und bis zur Emeritierung 2008 Vorstand des Institutes für Medizinische Psychologie sowie des Humanwissenschaftlichen Zentrums der Ludwig Maximilians Universität München, Goethestraße 31, 80336 München.
E-Mail: E-Mail Link: ernst.poeppel@med.uni-muenchen.de