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Lernfenster Kindergarten

Ilona K. Schneider

/ 16 Minuten zu lesen

Ein Bildungsangebot im Kindergarten entspricht sowohl den Bildungsbedürfnissen der Kinder als auch ihrem -bedarf. Die Ausweitung des Bildungsauftrags verändert das Professionsprofil von Kindergärtnerinnen.

Einleitung

Auf den ersten Blick mag es erscheinen, dass vor allem gesellschaftliche Faktoren eine Wende im Verständnis der frühkindlichen Bildung bewirkt haben. Die für Deutschland unbefriedigenden Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien wie TIMSS und PISA sowie die Kritik der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) an den ungenügenden Leistungsdispositionen vieler Schulabgänger sensibilisierten die Öffentlichkeit für Bildungsreformen, die auch die Elementarbildung betreffen. Andererseits haben in der jüngsten Vergangenheit Forschungsergebnisse von Neurowissenschaftlern und Psychologen auf die ungeheuren Lernpotenzen eines Kindes von Geburt an verwiesen. Aus der anthropologischen Perspektive entspricht ein Bildungsangebot im Kindergarten sowohl den Bildungsbedürfnissen der Kinder als auch ihrem Bildungsbedarf.



Die Politik hat reagiert: Mit dem 2004 von der Kultusministerkonferenz/Jugendministerkonferenz (KMK/JMK) beschlossenen Rahmenplan für die frühe Bildung ist der Anspruch verbunden, Bildung nicht erst in der Grundschule zu vermitteln, sondern bereits für den Elementarbereich verbindlich zu machen. Alle 16 Bundesländer haben inzwischen Bildungspläne für Kindertagesstätten ausgearbeitet, die vom Paradigma der Gleichrangigkeit und Interdependenz von Erziehung, Betreuung und Bildung bestimmt werden.

In diesem Zusammenhang sind nicht zuletzt sowohl die Aus- und Weiterbildung von Kindergärtnerinnen als auch der gesellschaftliche Stellenwert ihrer Arbeit neu zu diskutieren. Wir können davon ausgehen, dass die Ausweitung des Bildungsauftrags auf Kindergärten und seine integrative Umsetzung mit Erziehungs- und Betreuungsaufgaben das Professionsprofil von Kindergärtnerinnen verändert. Im Elementarbereich geht es um fachliche und fachdidaktische Inhalte, die insbesondere die Entwicklung von sprachlichen Kompetenzen, das Sammeln von Erfahrungen mit elementaren mathematischen Inhalten sowie die Auseinandersetzung mit Fragen einer natur- und sozialorientierten Welterschließung betreffen.

Es ist keinesfalls so, dass Bildungs- und Erziehungsarbeit umso leichter ist, je jünger die Kinder sind, wie es die unterschiedlichen tariflichen Eingruppierungen von Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen der verschiedenen Schulformen suggerieren. So ist zum Beispiel die Kenntnis der Entwicklungs- und Lernbesonderheiten von Drei- bis Siebenjährigen und deren Berücksichtigung bei der Planung und Organisation von Bildungsprozessen fachspezifischem Wissen gleichzustellen.

Während in der Grundschule und erst recht in der anschließenden Sekundarstufe die Lehrkräfte davon ausgehen können, dass Kinder und Jugendliche zu bewusstem Lernen fähig sind, sieht das im Vorschulalter ganz anders aus. In diesem Alter entwickeln sich erst die psychischen Funktionen der willkürlichen Aufmerksamkeit und des willkürlichen Gedächtnisses. Andererseits befinden sich drei- bis zehnjährige Kinder aufgrund ihrer neurobiologischen Entwicklung in einer außerordentlich intensiven Lernphase, von deren Nutzung ihr weiteres Lernen maßgeblich beeinflusst wird - denken wir an die Sprachentwicklung und die Differenzierung der Wahrnehmungsleistungen sowie der motorischen Fähigkeiten. Alle diese Entwicklungen sind - neben genetischen Anlagen - auf bestimmte Erfahrungen in einer bestimmten Zeit angewiesen. Diese Zeiten werden als sensible oder kritische Phasen, Entwicklungs- oder Lernfenster bezeichnet und sind als Entwicklungsreservoir aufzufassen. Die Kindergartenzeit stellt, wie wir im Folgenden zeigen werden, ein ganz entscheidendes Lernfenster in der Bildungsbiographie eines Menschen dar.

Was ist Lernen? Wie verlaufen Lernprozesse in der Kindheit?

Lernen geschieht im Gehirn in den ca. 20 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) insbesondere durch die Verstärkung von Synapsen, den Kontaktstellen der Neuronen. Veränderungen der Synapsen werden durch ihren Gebrauch bzw. Nicht-Gebrauch bestimmt. Eine Synapse ist umso stärker, je häufiger sie von Impulsen, also von durch unterschiedliche Wahrnehmungen erzeugten Sinnesreizen passiert wird. Mit anderen Worten, sich wiederholende Erfahrungen schlagen sich mit der Zeit in den Synapsen nieder. Die Spuren, die dadurch im Gehirn entstehen, sind gebrauchs- bzw. erfahrungsabhängig. Sie bilden sich durch das Herausfinden von allgemeinen Regeln, die sich in dem jeweiligen Einzelphänomen befinden, wenn dieses wiederholt wahrgenommen wird. Wir lernen vor allem durch Beispiele, indem unser Gehirn das Allgemeine aus dem Besonderen herausfiltert. Das Allgemeine, Regeln und Prinzipien, werden im Gehirn in neuronalen Repräsentanten abgebildet und dienen zur Steuerung zukünftigen Verhaltens. Lernprozesse verändert das Gehirn. Die Entwicklung des Gehirns und die sich vollziehenden Lernprozesse beeinflussen sich wechselseitig. Das Gehirn ist gewissermaßen das Resultat seiner Benutzung.

Schon von Geburt an, ja, teilweise sogar davor, laufen während der gesamten Kindheit sehr intensive Lernprozesse ab. Aus neurobiologischen Forschungen wissen wir: Wenn ein Kind geboren wird, besitzt es schon genauso viele Neuronen wie ein Erwachsener. In den ersten Monaten nach der Geburt setzt ein starkes Synapsenwachstum ein, das in Abhängigkeit vom jeweiligen Kortexbereich bis zu dreieinhalb Jahre dauert. In dieser Zeit kann die Anzahl der Neuronen um bis zu mehr als 50 Prozent über das Erwachsenenniveau steigen. Das Gehirn eines Dreijährigen ist beispielsweise doppelt so aktiv wie das eines Erwachsenen. Die Synapsendichte wirkt wie ein interner Entwicklungsstimulus, der neuronale Regelkreise "einschaltet" und deren Funktion sich in ersten Anzeichen grundlegender Fähigkeiten zeigt. Sie pegelt sich auf ein Plateau ein, das - wiederum in Abhängigkeit vom Hirnbereich - in den folgenden sechs bis sieben Jahren erhalten bleibt. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass sich Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter in einer außerordentlich intensiven Lernphase befinden, deren Intensität später nicht mehr erreicht wird.

Nimmt man diese Erkenntnis ernst, gehören die besten Lehrkräfte in Kindergärten und Grundschulen, weil hier die größten Lerneffekte erreicht, aber auch die größten Schäden angerichtet werden können. Wenn z.B. Schüler der Sekundarstufe Lernschwierigkeiten haben, hat dieses Problem meistens seine Ursachen schon in der vorschulischen Bildung. Das heißt, bereits im Kindergarten und in der Grundschule werden Grundlagen für die kognitive Entwicklung und Lernmotivation der Kinder gelegt. Diese Arbeit haben Kindergärtnerinnen und Grundschullehrerinnen zu leisten.

Zur kognitiven Entwicklung im Vorschulalter

Wie wir gesehen haben, beeinflussen sich die Entwicklung des Gehirns und Lernen wechselseitig. Aber das sich entwickelnde Gehirn setzt einen neurobiologischen Rahmen dafür, was und in welcher Reihenfolge ein Kind lernt. Zunächst kann das Gehirn nur einfache Strukturen verarbeiten. Darauf aufbauend kann sich das Kind immer komplexere Strukturen aneignen. Lernen ist von seiner neurobiologischen Anlage her ein kumulativ verlaufender Prozess. Bis zur Pubertät bildet sich ein individuell-spezifisches neuronales Netzwerk heraus, dessen Struktur umso komplexer ist, je vielfältiger die Lernanregungen und -möglichkeiten sind. Die biologisch angelegte Entwicklung des Gehirns wird durch Lernprozesse intensiv unterstützt.

Das Denken jüngerer Kindergartenkinder ist noch in ihre unmittelbaren Wahrnehmungen eingebunden. Die Welt ist so, wie das Kind sie unmittelbar wahrnimmt. Bereits Dreijährige beginnen Theorien über die materielle und soziale Welt auszubilden, wenn sie sich erkundend mit der Welt auseinander setzen. Für physikalische Objekte entwickeln sie eine Theorie der Materie, für Menschen, Tiere und Pflanzen eine Theorie des Lebens.

Kindlicher Animismus ist nicht als fehlerhaftes Denken zu verstehen, sondern als ein Denken anderer Art. Kinder erklären Naturerscheinungen mit Worten aus den Bereichen des Glaubens, Fühlens und Wünschens. Die Fähigkeit zur Begriffsbildung unterliegt einem langfristigen Entwicklungsprozess intellektueller Funktionen, der in der frühen Kindheit seinen Anfang nimmt und sich bis in die späte Kindheit bzw. das Jugendalter erstreckt. Im Vorschulalter, also im Zeitraum von drei bis sechs Jahren, bestimmen vor allem die psychischen Funktionen der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses die Bewusstseinsentwicklung. Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistungen differenzieren sich aus, so dass am Ende dieser Lebensphase der Übergang zur willkürlichen Aufmerksamkeit und zum logischen Gedächtnis, die ein willkürliches Einprägen erst ermöglichen, erfolgt.

Wenn Kinder mit konkreten Gegenständen umgehen, erkennen sie zunächst deren Unterschiede. Die Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu erkennen, folgt später. Das hängt damit zusammen, dass sie in der Lage sein müssen, bestimmten Elementen einen Oberbegriff zuzuordnen (z.B. Kleidung für Hose, Jacke, T-Shirt). Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zu erkennen und zu ordnen führt zur Entwicklung von so genannten Pseudobegriffen. Das sind Wörter, die Gegenstände und Erscheinungen beschreiben, die sich durch Gleichheit bzw. Ähnlichkeit ihrer äußerlichen Eigenschaften bzw. Funktionen auszeichnen. Erklärungen mit Hilfe von Pseudobegriffen erfolgen über Aufzählungen (z.B. Spielzeug ist meine Puppe, der Puppenwagen, das Auto, der Teddy). Pseudobegriffe sind noch keine Begriffe im eigentlichen Sinne; sie sind aber eine wichtige Vorstufe dazu.

Eine weitere wichtige Vorstufe zur Entwicklung des begrifflichen Denkens bilden die potenziellen Begriffe, die durch erste Abstraktionen zustande kommen. Wir erkennen sie daran, dass Kinder versuchen, Dinge durch deren Funktionen zu erklären (z.B. Was ist ein Baum? Ein Baum ist für die Vögel, die bauen da ihr Nest; es gibt Apfelbäume und Kirschbäume, die Äpfel und Kirschen sind zum Essen; aus dem Holz kannst du etwas bauen). Bereits Dreijährige verfügen über eine große Anzahl von Pseudobegriffen und potenziellen Begriffen. Drei- und Vierjährige übertragen bereits angeeignete Pseudobegriffe bzw. potenzielle Begriffe auf andere Gegenstände, Sachverhalte oder Situationen (Begriffsgeneralisierung). Sie entwickeln Vorstellungen darüber, wie Gegenstände in bestimmte Kategorien einzuordnen sind und was das bedeutet. So entstehen auf Dinge, Ereignisse und Menschen bezogene Vorstellungsmuster, Prototypen, Skripte und Klischees, die anhand typischer Beispiele und nicht nach einer Reihe notwendiger und hinreichender Eigenschaften gebildet werden. Besondere Bedeutung kommt den Erfahrungen zu, die Kinder beim Hantieren mit Dingen und beim gezielten Beobachten bestimmter Erscheinungen gewinnen. Überhaupt sind gegenständliche Handlungen ein wesentlicher Faktor ihrer kognitiven Entwicklung.

Immer wieder stellen Kinder so genannte W-Fragen: Was? Warum? Wie? Schon bei Dreijährigen ist die Fähigkeit zu beobachten, kognitive Vergleichsoperationen durchzuführen (z.B. kleiner - größer; heller - dunkler, schneller - langsamer) und Ein- und Zuordnungen (z.B. Tiere, Pflanzen, Besteck, Kleidung) vorzunehmen, welche die Erkenntnisobjekte klassifizieren und damit die Welt strukturieren. Sie sind in der Lage, Gegenstände des Alltags richtig einzuordnen und Farben zu unterscheiden. Drei- und Vierjährige möchten alles anfassen, untersuchen und ausprobieren.

Kinder im Vorschulalter wünschen sich Beständigkeit und Ordnung, interessieren sich für Details und zeichnen sich durch eine ausgeprägte Sammelleidenschaft aus. Fünf- und Sechsjährige haben bereits ein relativ stabiles Selbst- und Weltbild entwickelt, das ihre weiteren Bildungsprozesse beeinflusst, unabhängig davon, ob ihnen oder den Lehrenden dieser Sachverhalt bewusst ist. Sie verfügen über ein voll ausgebildetes, sich aus unterschiedlichen Intelligenzbereichen zusammensetzendes Intelligenzprofil, so dass sich jedes Kind mit der ihm individuell eigenen Art und Weise Lernaufgaben nähert und diese zu lösen versucht.

Sechs- und Siebenjährige machen ihre eigenen Wahrnehmungen zum Erkenntnisobjekt und bilden zunehmend Fähigkeiten aus, Denkoperationen umkehren zu können. Diese Entwicklung ist von der Dichte und Intensität der Erfahrungen abhängig, kann also in bestimmten Bereichen, in denen das Kind vielfältige Erfahrungen gesammelt hat, durchaus auch früher einsetzen. Das unterstreicht noch einmal die hohe Verantwortung, die Kindergärten für die Bildung von drei- bis sechsjährigen Kindern besitzen. Dieser Verantwortung können sie nur gerecht werden, wenn sie wissen, was Kinder ausbilden sollen und wie sie sie dabei unterstützen können.

Bildungsarbeit ist auf Ziele angewiesen

Das gilt auch für Kindergärten, wenn diese als Bildungseinrichtungen profiliert werden sollen. Allerdings unterscheiden sich die Bildungsziele von vorschulischen und schulischen Einrichtungen. Während in der Grundschule verbindliche, unterrichtsbezogene Wissens- und Könnensziele ausgewiesen sind, geht es im Kindergarten vor allem um allgemeine Lernziele zur Persönlichkeitsentwicklung Drei- bis Sechsjähriger. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei die Förderung der Entwicklung ihrer kognitiven Operationen unter Beachtung der psychischen Entwicklungsbesonderheiten.

Im Einzelnen handelt es sich um die Entwicklung des kindlichen Selbstbewusstseins; die Unterstützung der Lernfreude und Entwicklung vielfältiger Interessen; die Entwicklung eines reichen aktiven Alltagswortschatzes; die Förderung der Entwicklung der im Vorschulalter dominierenden psychischen Funktionen Aufmerksamkeit und Gedächtnis; die bewusste Nutzung von Pseudobegriffen bzw. potentiellen Begriffen für Erklärungen; die Anbahnung kategorialer Zuordnungen.

Das Profil eines Kindergartens wird von der Erziehungs- und Bildungskonzeption, nach der Kindergärtnerinnen arbeiten, bestimmt und kann sehr unterschiedlich sein: Es gibt Kindergärten, die nach der Waldorf-, Montessori- oder Fröbel-Pädagogik arbeiten, es gibt Kindergärten, die sich dem Situationsansatz oder einem Offenen Ansatz verpflichtet fühlen, es gibt Natur- und Waldkindergärten sowie Reggio-Kindergärten.

Darüber hinaus kann ein Kindergarten auch eine bereichsspezifische Profilierung vorgenommen haben, indem bestimmte Schwerpunkte gesetzt werden: z.B. eine bilinguale Betreuung, eine musik- oder sportorientierte Erziehung. In jedem Fall stehen seit 2004 Kindergärten vor der Aufgabe, den von der KMK/JMK beschlossenen Bildungsauftrag zu erfüllen.

Lernprozesse auf unterschiedlichen Handlungsebenen

Wie oben gezeigt, besitzen Erfahrungen, die Kinder beim Hantieren mit Dingen und beim gezielten Beobachten bestimmter Erscheinungen gewinnen, eine besondere Bedeutung für ihr Lernen. Kindergärtnerinnen beachten bei ihren täglichen Handlungsorganisationen, dass sich Lernhandlungen drei- bis sechsjähriger Kinder vorzugsweise auf vier Handlungsebenen realisieren, die wechselseitig aufeinander bezogen sind: Wahrnehmen eines Gegenstandes (Phänomen, Ding, Handlung); Erkunden des Gegenstandes; Fragen stellen zum Gegenstand; Erzählen über den Gegenstand.

Die Wahrnehmung des Gegenstandes durch das Kind ist eine Grundvoraussetzung für dessen weitere Erschließung. Kinder sind von Natur aus neugierig. Sie setzen sich von klein auf spielerisch mit ihrer unmittelbaren Alltagswelt auseinander, wobei sie Dinge und Erscheinungen wahrnehmen, auch wenn ihr Beobachten von Vorgängen und das Hantieren mit Dingen anfangs noch unspezifisch und ungerichtet sind. Zudem machen sie Erwachsene bewusst auf bestimmte Erscheinungen und Dinge aufmerksam.

Auf die Wahrnehmung baut das Erkunden auf. Wenn ein Gegenstand (Phänomen, Ding, Handlung) die Aufmerksamkeit der Kinder erregt hat, richten sie ihre Wahrnehmung bewusst auf diesen Gegenstand. Spielerisch wird mit ihm hantiert, wird dieser untersucht, wird etwas ausprobiert oder imitiert. Das Kind sucht innerhalb seiner bereits vertrauten Welt Kontakt zu neuen Gegenständen und Erscheinungen. Es wirkt dabei sehr konzentriert, aber oft auch vorsichtig. Meistens erfolgt die Annäherung nicht in einem Zug, sondern eher nach dem Muster "Zug um Zug", inklusive Rückzug. Das Erkundungsverhalten enthält viele spielerische Elemente. Wie das Spiel beruht es auf einer intrinsischen Motivation und folgt einem selbstbestimmten Zweck: Ich möchte wissen, was das ist bzw. wie etwas funktioniert, wie etwas aufgebaut ist und was man damit machen kann. Explorationsverhalten ist Kindern ebenso angeboren wie Bindungsverhalten. Exploration und Bindung sind komplementäre Verhaltensweisen, die sich situationsabhängig ergänzen. Ein Kind, das seinen Bezugspersonen in Hinblick auf Liebe, Fürsorge und Verfügbarkeit vertrauen kann, zeigt eher ein exploratives Verhalten als ein Kind, dass sich seiner Bindungen zu persönlich bedeutsamen Erwachsenen nicht sicher ist. Erwachsene mit ihrem größeren Erfahrungs- und Expertenwissen sind in dieser Phase für das Kind wichtige Informationsquellen.

Das Kind möchte wissen. Es stellt Fragen: Wie heißt das? Wie geht das? Warum ist das so? Das menschliche Gehirn ist darauf eingestellt, Informationen von anderen Menschen aufzunehmen und zu verarbeiten. Kinder sind darauf angewiesen, dass Erwachsene Informationen an sie weitergeben, die frühere Generationen angesammelt haben. Das bedeutet nicht, alle Fragen der Kinder sofort zu beantworten. Bereits Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778) und Friedrich Fröbel (1782 - 1852) haben betont, dass Lernprozesse unterstützt werden, wenn diese Fragen genutzt werden, um eine Spannung aufzubauen und die Kinder zum Nachdenken und zur Selbsttätigkeit anzuregen: Was meinst du, was wird passieren, wenn wir dies oder jenes tun? Wie könnte das funktionieren? Hast du es schon einmal mit dem langen Baustein ausprobiert?

Schließlich kommt es darauf an, dass Kinder Gelegenheit bekommen, über das, was sie beobachtet, was sie erlebt, was sie ausprobiert und dabei festgestellt haben, zu erzählen. Jüngere Kinder werden dabei vorrangig das Gesehene und Erlebte beschreiben, während Vorschulkinder auch schon Begründungen versuchen. In jedem Fall ist das Entäußern von Gedanken ein notwendiges Element in jedem Lernprozess. Deshalb sollte jedes Kind immer wieder die Möglichkeit haben, seine Gedanken anderen mitzuteilen.

Bildungsarbeit im Kindergarten

Bei der Auswahl der Inhalte achten Kindergärtnerinnen darauf, dass bereichsübergreifende Themen gewählt werden, die Bezüge zur situativen Lebenswelt der Kinder haben und für diese interessant sind. Der bereichsübergreifende Aspekt berücksichtigt die wechselseitige positive Beeinflussung beispielsweise von naturwissenschaftlich orientiertem Lernen und dem Lernen im mutter- und fremdsprachlichen Bereich.

Ein gewähltes Thema wird über einen längeren Zeitraum in den Mittelpunkt gestellt und in die alltäglichen Handlungen integriert, d.h. Lernprozesse im Kindergarten werden vorrangig epochal organisiert und projektorientiert bearbeitet. Die Projektorientierung ist nicht mit Projektmethode gleichzusetzen; sie ist eine Art Vorläufer. Unterschiede zur Projektmethode sind beispielsweise bei der Auswahl und der Planung des Themas, beim Anspruch eines systematischen selbstständigen Arbeitens, bei der Produktorientiertheit oder einer bewertenden Kontrolle festzustellen. Die Projektmethode kommt erst im Schulalter zum Tragen, wenn sich die höheren psychischen Funktionen wie eben willkürliche Aufmerksamkeit und willkürliches Gedächtnis bei Kindern entwickeln.

Ein zentrales Moment der Bildungsarbeit im Kindergarten ist unserer Meinung nach die Zusammenarbeit zwischen Kind und Kindergärtnerin. Und das in zweierlei Hinsicht: Erstens erfüllt die Kindergärtnerin damit das Bedürfnis der Kinder nach einer aufmerksamen, liebevollen Zuwendung, und zweitens stellt sie nicht nur, wie oben bereits ausgeführt, bestimmte Wörter zur Verfügung, sondern demonstriert dem Kind auch bestimmte Erkundungshandlungen, denn ein Kind lernt sehr intensiv durch Nachahmung.

Nachahmung ist dabei keineswegs als eine rein mechanische, reproduktive Tätigkeit zu verstehen. Ein Kind kann nur das nachahmen, was es schon selbst in Ansätzen kann. Die Entwicklung der psychischen Funktionen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Vergleichen, Unterscheiden, Abstrahieren, Verallgemeinern und Systematisieren wird durch die von der Kindergärtnerin angeleitete Ausführung bestimmter Handlungen unterstützt. In dieser Kooperation kann ein Kind immer mehr lernen, als wenn es allein auf sich gestellt ist. Aber es kann nicht unbegrenzt mehr lernen. Die Grenze wird ihm durch seinen intellektuellen Entwicklungsstand gesetzt. Entwicklungen jedes Kindes sind immer abhängig von seinen bisher gesammelten Erfahrungen. Diese Erfahrungen beschreiben seinen gegenwärtigen Entwicklungsstand, das Niveau seiner aktuellen Entwicklung. Alle Aufgaben, die diesem Anforderungsniveau entsprechen, kann das Kind ohne Probleme selbstständig lösen. Es erfährt damit die Bestätigung seiner Erfahrungen, ohne jedoch Neues zu lernen. Wenn jedoch Informationen, die ein Kind aufnimmt und die für das Kind einen Sinn ergeben, aus zwei komplementären Aspekten, nämlich aus der Bestätigung von Bekanntem und dem Erfahren von Neuem, bestehen, können Lernprozesse in Gang gesetzt werden - vorausgesetzt, die neue Anforderung ist dergestalt, dass sie das Kind mit Hilfe - insbesondere der anderer Menschen - zu bewältigen vermag.

Das bedeutet, ein Kind braucht Aufgaben, die sein aktuelles Lernniveau zwar überschreiten, die es mit Hilfe aber lösen kann. Dieser Lernbereich wird bekanntlich als Zone der nächsten Entwicklung bezeichnet. Diese ermittelt die Kindergärtnerin durch genaues Beobachten jedes ihrer Kinder: Womit beschäftigt sich das Kind gerade bevorzugt? An welchen Tätigkeiten ist es besonders interessiert? Welche Fragen stellt es? Wie reagiert es auf Anforderungen in bestimmten Situationen? Welche Wörter benutzt das Kind in der Kommunikation? Welche Fähigkeiten hat es entwickelt? Welche Spielvorschläge unterbreitet es?

Kindergärtnerinnen müssen Expertinnen sein

Kindergärtnerinnen müssen also Bildungsexpertinnen sein, um den durch die KMK im Jahre 2004 an sie gerichteten Auftrag zu erfüllen. Das bedeutet notwendigerweise eine fundierte Ausbildung, eine kontinuierliche Weiterbildung und eine Vergütung, in welcher der Wert ihrer Arbeit für die Gesellschaft zum Ausdruck kommt.

Aber wie sieht es in der Praxis aus? Während die schulischen Lehrämter an Universitäten studiert werden, erfolgt die Ausbildung zur Kindergärtnerin (Erzieherin) in Deutschland an Fachschulen mit uneinheitlichem Abschluss. Das Erzieherstudium dauert - je nach Voraussetzungen - zweieinhalb bis vier Jahre. In allen Schulformen sind durch das Staatsexamen legitimierte Lehrerinnen und Lehrer tätig. In Kindergärten ist der Einsatz von ausgebildeten Fachkräften je nach Bundesland sehr unterschiedlich (Vgl. Tabelle 1 in der PDF-Version).

Zudem klagten Erzieherinnen über unzumutbare physische Belastungen und ein zu geringes Einkommen, das wiederum an mangelnder gesellschaftlicher Wertschätzung ihrer Arbeit liege. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu lokalen Arbeitsniederlegungen von Erzieherinnen, mit denen sie ihren Forderungen nach einem besseren Gesundheitsschutz, mehr Gehalt und gesellschaftlicher Anerkennung Nachdruck verleihen wollten. Insbesondere beschwerten sich Kindergärtnerinnen, dass ihr Beruf oft nicht ernst genommen werde, weil sie mit den kleinen Kindern ja nur spielten und sängen.

Im ersten Halbjahr 2009 kulminierten die Auseinandersetzungen, und es kam zu bundesweiten Streiks. Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) forderte eine deutlich bessere Bezahlung und einen im Tarifvertrag verankerten Gesundheitsschutz für die bundesweit rund 220.000 Beschäftigten im kommunalen Sozial- und Erziehungsdienst. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) lenkte nach monatelangen Verhandlungen ein: Nach der neuen Entgelttabelle steigen die monatlichen Einkünfte um 100 bis 400 EUR, je nach Dienstzeitalter und Bundesland.

Aus bildungspolitischer Sicht kann diese Diskussion damit nicht zu Ende sein: Es geht um grundsätzliche Reformen im Bildungswesen. Dazu gehören mit Blick auf den Kindergarten:

  • die Durchsetzung des Anspruchs, Kindergärten als Bildungseinrichtungen zu etablieren und sie in dem entsprechenden Ministerium zu verorten;

  • für jedes Kind ab drei Jahren bis zu seiner Einschulung einen Ganztagsplatz im Kindergarten bereit zu stellen;

  • der Besuch eines Kindergartens wie den einer Schule kostenlos zu ermöglichen;

  • die Ausbildung von Kindergärtnerinnen in einem staatlich anerkannten universitären achtsemestrigen Studium durchzuführen;

  • den empfohlenen Personalschlüssel (Vgl. Tabelle 2 in der PDF-Version) von 1:7,5 im Kindergarten, von dem fast alle Bundesländer weit entfernt sind, endlich zu realisieren;

  • einen einheitlichen Grundtarif für alle in vorschulischen und schulischen Bildungseinrichtungen einzuführen, der eine Differenzierung nach Leistung, Berufsjahren und Verantwortungsübernahme zulässt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. z.B. Alison Gopnik/Patricia Kuhl/Andrew Meltzoff, Forschergeist in Windeln, Kreuzlingen-München 2000; Manfred Spitzer, Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg-Berlin 2002; Wolf Singer, Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt/M. 2003.

  2. Vgl. u.a. Beate Blaseio, Natur in den Bildungsplänen des Elementarbereichs, in: Roland Lauterbach/Hartmut Giest/Brunhilde Marquardt-Mau (Hrsg.), Lernen und kindliche Entwicklung. Elementarbildung und Sachunterricht, Bad Heilbrunn 2009, S. 85 - 92; Antonius Hansel/Ilona Katharina Schneider (Hrsg.), Bildung im Kindergarten. Förderkonzeption der Arbeitsgruppe Frühpädagogik an der Universität Rostock, Herbolzheim 2008.

  3. Vgl. John T. Bruer, Der Mythos der ersten drei Jahre. Warum wir lebenslang lernen, Weinheim-Basel 2003, S. 133.

  4. Vgl. M. Spitzer (Anm. 1), S. 76.

  5. Vgl. J. T. Bruer (Anm. 3), S. 99.

  6. Vgl. A. Gopnik et al. (Anm. 1), S. 219.

  7. Vgl. J. T. Bruer (Anm. 3), S. 115.

  8. Vgl. Manfred Spitzer, Selbstbestimmen. Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun?, Heidelberg-Berlin 2004, S. 94.

  9. Vgl. Howard Gardner, Der ungeschulte Kopf. Wie Kinder denken, Stuttgart 1994, S. 111.

  10. Vgl. Lev S. Vygotskij, Denken und Sprechen, Weinheim-Basel 2002.

  11. Vgl. H. Gardner (Anm. 9), S. 88.

  12. Vgl. ebd., S. 252.

  13. Vgl. John Bowlby, Bindung als sichere Basis: Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie, München 2008.

  14. Vgl. A. Gopnik et al. (Anm. 1), S. 203.

  15. Vgl. Nikolaj N. Poddjakow, Die Denkentwicklung beim Vorschulkind, Berlin 1981.

  16. Vgl. Kerstin Michalik, Sprachförderung durch Sachbegegnung - Experimentieren mit Kindern im Elementarbereich, in: R. Lauterbach et al. (Anm. 2), S. 183.

  17. Vgl. T. Barry Brazelton/Stanley I. Greenspan, Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern, Weinheim-Basel 2002, S. 31; Jean Billman/Janice A. Sherman, Observation and participation in early childhood settings, Boston-New York 2003, S. 112.

  18. Vgl. L. S. Vygotskij (Anm. 10).

Dr. habil. paed., geb. 1950; Professorin am Institut für Schulpädagogik der Universität Rostock, Arbeitsbereich Grundschulpädagogik und Didaktik des Sachunterrichts, August-Bebel-Straße 28, 18055 Rostock.
E-Mail: E-Mail Link: ilona_schneider@t-online.de
Internet: Externer Link: www.ilonaschneider.de.