Einleitung
Die deutsche Bildungslandschaft ist in Bewegung geraten, und die europäische Politik spielt dabei eine wesentliche Rolle. Der Bologna-Prozess hat die deutsche Hochschulpolitik grundlegend transformiert und internationalisiert. Die Einführung von Bachelor- und Master-Studiengängen ist dabei nur die sichtbarste der angestoßenen Reformen.
Der Diskurs zur Europäisierung der Berufsbildungspolitik trifft in Deutschland auf eine intensiv geführte, allgemeine Reformdebatte, wie die beeindruckende Zahl von Gutachten und Studien der vergangenen Jahre
Der zunehmende Problem- und Reformdruck trifft jedoch auf ein politisches System, das kaum rasche und tief greifende Gesetzesänderungen erlaubt. Weil in der beruflichen Bildung die Länder für den berufsschulischen Teil und der Bund für den betrieblichen Teil der Ausbildung zuständig sind, sind eine Vielzahl von Akteuren mit heterogenen Interessen beteiligt: die Bundesländer, Arbeitgeber- und Branchenverbände, Gewerkschaften sowie verschiedene Bundesministerien. Reformprozesse vollziehen sich daher - wenn überhaupt - sehr langsam. Aus diesem Grund versuchen - so die zentrale These dieses Aufsatzes - reformorientierte Interessen, vor allem die Bundesregierung und Teile der Arbeitgeberschaft, die Europäisierungsdebatte strategisch zur Umsetzung ihrer Ziele auf nationaler Ebene zu nutzen, obwohl diese Ziele nur in einem mittelbaren Zusammenhang mit Europa stehen.
Im Folgenden möchte ich zunächst einen kurzen Rückblick auf die Entwicklung der EU-Bildungspolitik geben. Im Anschluss zeichne ich die in Deutschland geführte Debatte zur Europäisierung der Berufsbildung nach, um im letzten Abschnitt in einer kritischen Analyse auf die Ausgangsthese zurückzukommen.
Entwicklung der europäischen Bildungspolitik
In der Anfangsphase des europäischen Integrationsprojekts kam Fragen der beruflichen Bildung lediglich marginale Bedeutung zu. Zur Sicherstellung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte sollte zunächst die Vergleichbarkeit von Berufsabschlüssen erreicht werden. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erhielt die europäische Bildungspolitik Auftrieb. In diese Zeit fiel nicht nur die Gründung des bekannten ERASMUS-Programms. Die EU-Kommission betrieb, auch mit Hilfe der expansiven Auslegung des Europäischen Rechts durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), die Expansion ihrer bildungspolitischen Kompetenzen durch eine Reihe von Gemeinschaftsprogrammen, in denen Bildung nicht mehr ausschließlich durch das Ziel der Sicherung der Arbeitnehmerfreizügigkeit legitimiert wurde, sondern u.a. auch im Rahmen der Strukturförderungsprogramme.
Dieser Aktionismus ging den Mitgliedstaaten zu weit,
Die Europäisierung der Bildungspolitik setzte sich im Bereich der Hochschulpolitik fort. Die Bologna-Erklärung zur Schaffung eines europäischen Hochschulraums wurde am 16. Juni 1999 von 29 Staaten (neben Mitgliedstaaten der EU auch von Beitrittskandidaten und Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums/EWR) unterzeichnet. Sie empfahl die Einführung von zweizykligen Studiengängen (z.B. Bachelor und Master) sowie die Schaffung eines Kreditpunktesystems, mit dessen Hilfe im Ausland absolvierte Bildungsleistungen besser übertragbar gemacht werden sollten. Die Bologna-Erklärung war ursprünglich keine Initiative der EU, sondern wurde von den Regierungen Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens angestoßen. Erst im Laufe der Zeit ist die EU-Kommission als Vertragspartei anerkannt worden und hat daraufhin eine koordinierende Funktion übernommen. Eine Motivation der Bundesregierung bei der Umsetzung der Bologna-Erklärung war es, nationale Reformwiderstände gegen die Einführung von zweizykligen Studiengängen durch die Internationalisierung des Systems zu umgehen.
Die Tagung des Europäischen Rates in Lissabon im März 2000 und die dort beschlossene Lissabon-Strategie stellte eine Zäsur in der europäischen Bildungspolitik dar. Dies gilt vor allem für die berufliche Bildung, denn diese stand in engem Zusammenhang mit dem strategischen Ziel, Europa zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Auf dem Europäischen Rat von Barcelona im Jahr 2002 wurden die bildungspolitischen Prioritäten der Lissabon-Strategie bekräftigt und ein "Arbeitsprogramm zur Umsetzung der Ziele der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa"
Da die Europäisierung der Hochschulpolitik schon begonnen hatte, geriet die Berufsbildungspolitik in den Fokus der EU-Politiker. In Ergänzung der Aktivitäten des Europäischen Rates beschloss der Rat der Bildungsminister 2002 in Kopenhagen, die Zusammenarbeit im Bereich der beruflichen Bildung zu verstärken. Für die Ausgestaltung der europäischen Dimension der Berufsbildungspolitik war die Kopenhagen-Erklärung von größerer Bedeutung als die zuvor vage formulierten strategischen Ziele des Europäischen Rates. In Form des so genannten Maastricht Communiqués wurden im Anschluss die Entwicklung eines Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR bzw. European Qualifications Framework/EQF) sowie eines Europäischen Leistungspunktesystems für die berufliche Bildung (European Credit System for Vocational Education and Training/ECVET) beschlossen.
Zusammen mit dem 2004 verabschiedeten Europass sind EQR und ECVET die wichtigsten Instrumente der europäischen Berufsbildungspolitik. Parallelen zur Hochschulpolitik - vor allem beim Instrument der Kredittransferpunkte für Bildungsleistungen - sind offensichtlich. Der EQR ist ein Referenzrahmen und eine Übersetzungshilfe zur Einordnung nationaler Qualifikationen. Um der Heterogenität der europäischen Bildungssysteme gerecht zu werden, orientiert sich der EQR nicht an formalen Abschlüssen, sondern an den tatsächlichen Lernergebnissen (learning outcomes). Die Lernergebnisse werden in Form von "Kenntnissen", "Fertigkeiten" und "Kompetenzen" dokumentiert und acht Referenzniveaus zugeordnet. Nationale Qualifikationsrahmen können von diesem Schema abweichen (und z.B. weniger oder mehr als acht Niveaus aufweisen), solange die Verknüpfung mit den EQR-Niveaus geleistet wird.
Das ECVET geht einen Schritt weiter als der EQR; hier geht es nicht nur um die Verbesserung der Transparenz, sondern um den tatsächlichen Transfer von Bildungsleistungen. Zu diesem Zweck sollen im Rahmen nationaler Qualifikationen Lerneinheiten (units) definiert werden, die mit Kreditpunkten (credits) bewertet werden, so dass in Analogie zum im Hochschulbereich eingesetzten European Credit Transfer System (ECTS) Ausbildungsteilnehmer die im Ausland absolvierten Abschnitte voll angerechnet bekommen.
Rechtlich gesehen sind EQR und ECVET gemeinsame Empfehlungen des Rates und des Parlaments. Im Fall des EQR wurde zwischen Juli und Dezember 2005 ein europaweites Konsultationsverfahren durchgeführt. Im April 2008 nahmen der Europäische Rat und das Europäische Parlament (EP) den überarbeiteten Kommissionsvorschlag an. Das Beschlussverfahren zu ECVET läuft parallel, aber mit zeitlicher Verzögerung. Nach dem ersten Vorschlag der Kommission aus dem Jahr 2005 fand in den Jahren 2006 und 2007 auch hier ein Konsultationsverfahren statt. Die Kommission legte zwei Wochen vor dem EQR-Beschluss im April 2008 einen überarbeiteten Vorschlag vor, der zurzeit im Rat und im EP verhandelt wird.
Europäisierungsdebatte
In diesem Abschnitt wird die politische Debatte um die Europäisierung der beruflichen Bildung in Deutschland rekonstruiert, indem die Positionen der relevanten Akteure dokumentiert werden. Dabei soll folgender Arbeitshypothese nachgegangen werden: Die politische Dynamik der Europäisierungsdebatte lässt sich erklären als Versuch bestimmter Interessen (vor allem der Bundesregierung und von Teilen der Arbeitgeberschaft), die Europäisierung für das Aufbrechen wahrgenommener Reformblockaden zu instrumentalisieren.
Die Bundesregierung hat den Europäisierungsprozess aktiv unterstützt - vor allem nach Bildung der großen Koalition. Ende 2006 einigten sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Kultusministerkonferenz (KMK) darauf, gemeinsam den Entwurf eines Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) zu erarbeiten.
Die Beratungen im IKBB fanden auf der Grundlage eines Gutachtens
Die Bundesregierung griff diese Ideen auf. Wenngleich sich weitergehende Vorschläge der Modularisierung gegen den Widerstand der Kammern, Gewerkschaften und des Handwerks zunächst nicht durchsetzen konnten, so ist im Rahmen der so genannten "Qualifizierungsinitiative" die Entwicklung von Ausbildungsbausteinen "für Altbewerber" beschlossen worden. Darüber hinaus läuft seit Herbst 2007 eine Pilotinitiative zur Entwicklung eines Leistungspunktesystems für die berufliche Bildung (DECVET).
Eine wesentliche Motivation hinter der positiven Haltung der Bundesregierung gegenüber dem Europäisierungsprozess ist die Bemühung, das Berufsbildungssystem international wettbewerbsfähig zu machen, wie Ministerialrat Peter Thiele vom BMBF auf einer Tagung der Politischen Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung deutlich zum Ausdruck brachte: "Deutschland will und muss an der Spitze der EU-Bewegung bleiben, auch um mit seinem besonderen System, duales Minderheitensystem, (...) mitspielen zu können und vielleicht auch mal Spielführer sein zu können."
Auch die Arbeitgeber sind grundsätzliche Befürworter dieser Entwicklungen. Arbeitgebervertreter bezeichnen die Europäisierungsdiskussion als wichtigen "Impulsgeber"
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) möchte den EU-Diskurs zur Steigerung der "Flexibilität, Durchlässigkeit und Transparenz"
Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Europäisierungsdebatte für andere Reformziele genutzt werden kann, ist die Diskussion um die Zahl der Referenzniveaus. Zwar sieht der EQR acht Referenzniveaus vor; es bleibt aber den Mitgliedstaaten überlassen, weniger (oder mehr) zu schaffen. Der gemeinsame Vorschlag der Verbände der Metall- und Elektroindustrie (BITKOM, Gesamtmetall, VDMA und ZVEI) zur Gestaltung eines DQR sieht acht Stufen vor und ordnet dabei die berufliche Bildung auf drei unterschiedliche Niveaus ein: "Berufsausbildung in kompakten Anforderungsprofilen" (das sind zweijährige, theoriegeminderte Berufe) soll auf Stufe 3, "Berufsausbildung in breiten Anforderungsprofilen" auf Stufe 4 und "Berufsausbildung in komplexen Anforderungsprofilen" auf Stufe 5 von acht möglichen verortet werden.
Insgesamt stehen die Gewerkschaften dem Prozess der Europäisierung der Berufsbildung skeptischer gegenüber als die Bundesregierung und die Wirtschaftsvertreter, obwohl auch sie ihn im Großen und Ganzen unterstützen. Die Kritik richtet sich weniger gegen das Ziel der Förderung der grenzüberschreitenden Mobilität, sondern gegen die mit dem Schlagwort "Europa" gerechtfertigten Reformvorschläge von Teilen der Arbeitgeberschaft.
In der Einführung von Leistungspunktesystemen nach dem Modell von ECVET sieht der DGB "Gefahren für ganzheitlich ausgerichtete Ausbildungsgänge"; ein Herunterbrechen von Ausbildungsprofilen in fragmentierte Lerneinheiten komme dem "Außerkraftsetzen des Berufsprinzips" gleich.
Die Gewerkschaften lehnen es ab, die (berufliche) Bildung dem Aspekt der Beschäftigungssicherung (employability) unterzuordnen.
Allerdings werden von Gewerkschaftsseite auch die Chancen der Europäisierung gesehen. Die Outcome-Orientierung von EQR/ECVET könne beispielweise zu einer Aufwertung der betrieblichen Berufsbildung im Verhältnis zu vollzeitschulischer Berufsbildung und Hochschulbildung, die ansonsten in Europa dominiere, beitragen.
Europäisierung der Berufsbildungspolitik als Stellvertreterdebatte?
Zu Anfang dieses Beitrags wurde die These aufgestellt, dass der Europäisierungsdiskurs in der Berufsbildung von einer Reformkoalition aus Bundesregierung und Teilen der Arbeitgeberschaft strategisch genutzt werde, um die Reform des dualen Systems in der Berufsausbildung, insbesondere dessen Flexibilisierung, Differenzierung und Modularisierung, mit "Rückenwind aus Europa" voranzutreiben. Diese These findet nicht nur durch die oben genannten Zitate Unterstützung, sondern auch durch offen bleibende Fragen hinsichtlich der Motivation der Reformkoalition.
Nur ein bis zwei Prozent der Auszubildenden absolvieren tatsächlich einen Abschnitt der Ausbildung im europäischen Ausland; damit erscheint das Verhältnis zwischen Nutzen und Aufwand bei der Schaffung eines EQR/ECVET-Systems sehr unausgewogen zu sein. Des Weiteren wird von der Bundesregierung die Verbesserung der Stellung des "dualen Minderheitensystems" (Thiele) auf internationalen Bildungsmärkten als wichtiger Antriebsfaktor genannt, obwohl sich das duale System im In- und Ausland weithin großer Anerkennung erfreut. Diese Beispiele zeigen, dass es bei der Europäisierung der deutschen Berufsbildung nicht ausschließlich um deren "Öffnung nach Europa" geht, sondern auch um die Nutzung dieses Reformfensters für die allgemeine Berufsbildungsreform.
In der Berufsbildungspolitik ist somit - mit zeitlicher Verzögerung - ein ähnliches Muster wie im Fall der Hochschulpolitik zu beobachten. Dies bezieht sich nicht nur auf die verwendeten Instrumente (ECVET und ECTS) oder das im Mittelpunkt stehende Ziel der Verbesserung der employability, sondern auch auf die zu Grunde liegenden politischen Motive. Obwohl die Bundesregierung in der beruflichen Bildung über mehr Kompetenzen verfügt als in der Hochschulpolitik, ist ihr Handlungsspielraum in einem Politikfeld, in dem neben den Bundesländern auch die Sozialpartner, das Handwerk, die Kammern und Fachverbände in die Politikformulierung eingebunden sind, stark eingeschränkt. "Rückenwind aus Europa" stellt daher eine wichtige Handlungs- und Legitimationsressource dar.
Ob die von der Bundesregierung und der EU-Politik vorgezeichnete Reformagenda den Erfordernissen entspricht oder nicht, hängt vom jeweiligen politischen Standpunkt ab. Die meisten Beteiligten sind sich darin einig, dass die Kernziele der EU-Initiativen - die Verbesserung der grenzüberschreitenden Mobilität und die Verbesserung der Durchlässigkeit zwischen den Bildungsbereichen - der Unterstützung wert sind.
Dass in einigen Jahren der Kopenhagen-Prozess einen ähnlichen Reformschub auslöst wie der Bologna-Prozess im Hochschulsektor, ist indes zu bezweifeln, denn die Beharrungskräfte sind groß. Als Erfolg darf gewertet werden, wenn die europäische Bildungspolitik nicht nur in Deutschland zu einer nachhaltigen Aufwertung der beruflichen Bildung beitragen sollte und nationale Reformen anregt und unterstützt, aber nicht einseitig im Sinne eines spezifischen Modells einer Entscheidung vorgreift.
Dieser Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines Gutachtens, das im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung verfasst wurde: Marius R. Busemeyer, Die Europäisierung der deutschen Berufsbildungspolitik: Sachzwang oder Interessenpolitik?, Bonn 2009; online: http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/06512.pdf (29.9. 2009).