Genossenschaften sind im 19. Jahrhundert als Reaktion auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche entstanden. Mit den Genossenschaftspionieren Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch kann Deutschland als Ausgangspunkt einer weitreichenden Genossenschaftsbewegung gesehen werden, die auf zahlreiche andere Länder ausgestrahlt hat. Vorläufer gab es bereits vorher in mehreren Staaten. Rückblickend können die genossenschaftlichen Kooperationen jener Zeit als eine institutionelle Innovation gesehen werden, die sich fast weltweit verbreitet hat und heute ebenso problemlösend wirkt wie damals.
Die grundsätzlichen Merkmale von Wohnungsgenossenschaften, die manchmal auch als Baugenossenschaften oder Wohnungsbaugenossenschaften bezeichnet werden, sind bis heute unverändert. Sie machen genossenschaftliches Wohnen aus und sind im Genossenschaftsgesetz festgeschrieben. Ihren Ausgang nehmen sie beim Wohnungseigentum. Mit der gemeinsamen Problemlösung als Akt der privaten Selbsthilfe durch die Betroffenen ist verbunden, dass diese gleichzeitig Nutzer, also Mieter, und Eigentümer, also Investoren, sowie gleichberechtigte Mitglieder ihrer Genossenschaft sind. Individuell nutzen sie die Leistungen der Wohnungsgenossenschaft, deren Eigentümer sie gemeinsam sind und deren strategische Weichenstellungen und Prinzipien der Geschäftspolitik sie in den Eigentümerversammlungen festlegen.
Aktuell stellen in Deutschland etwa 2.000 Wohnungsgenossenschaften mehr als zehn Prozent des gesamten Mietwohnungsbestandes bereit. Dies sind 2,2 Millionen Wohnungen, in denen über fünf Millionen Menschen leben. Über 2,8 Millionen Menschen sind Mitglieder und damit Eigentümer von Wohnungsgenossenschaften, mit steigender Tendenz. Legt man die Anzahl genossenschaftlicher Wohnungen zugrunde, können viele Wohnungsgenossenschaften als kleine und mittlere Unternehmen gelten. Insgesamt investieren sie jährlich mehr als 5,5 Milliarden Euro in Neubau, Instandhaltung und Modernisierung von Wohnungen. Verglichen mit den anderen Unternehmen der Wohnungswirtschaft fallen für die vergangenen Jahrzehnte das stetige Investitionsverhalten sowie die steigenden Investitionsvolumina der Wohnungsgenossenschaften auf. Ihre durchschnittliche Kaltmiete pro Quadratmeter liegt zudem unter jener der anderen Wohnungsunternehmen, ihre durchschnittliche Wohnungsgröße hingegen darüber.
Genossenschaftliches Wohneigentum als Wesensmerkmal
Die Besonderheit des genossenschaftlichen Wohneigentums
Die aufgezeigten Unterschiede führen dazu, dass die Eigentümerrechte bei privat genutztem Eigentum gehaltvoller sind als genossenschaftliche Eigentümerrechte.
Strategische Orientierung als Alleinstellungsmerkmal
Ihre Eigentumsmerkmale enthalten auch die Vorgaben für die strategische Orientierung von Wohnungsgenossenschaften. Diese unterscheidet sich von jener der anderen Wohnungsunternehmen grundlegend. Gesetzlich vorgegeben ist die Orientierung an den Mitgliedern. Ausschließlich für sie sind Werte zu schaffen, was durch die Erfüllung ihrer Bedürfnisse geschieht. Es gilt also, einen Mitgliederwert, einen MemberValue zu schaffen.
Erstens entstehen Werte für die Mitglieder durch die Wohnleistungen und die wohnrelevanten Serviceleistungen, jeweils unter Berücksichtigung der Wohn- und Servicequalität, der Nutzungsentgelte und Servicegebühren. Serviceleistungen sind zum Beispiel Betreuungs- und Pflegeangebote für Senioren, Freizeit- und Kulturleistungen für Kinder und Jugendliche oder Mobilitäts- und Reinigungsdienste. Dieses Element wird als unmittelbarer MemberValue bezeichnet, der die Leistungsbeziehung zwischen Mitgliedern und ihrer Wohnungsgenossenschaft zum Ausdruck bringt.
Zweitens entstehen Werte für die Mitglieder durch die Nutzung ihrer Vermögensrechte sowie der Beteiligungsrechte. Diese stehen den Mitgliedern zu, weil sie das Unternehmen mit Eigenkapital ausstatten und somit die finanzielle Basis für die gemeinsamen Aufgaben aufbringen. Konkret geht es um die Verzinsung des Eigenkapitals oder die Ausschüttungen in Form von Dividenden. Ob solche Zahlungen erfolgen, ist in der Satzung festzulegen. Die meisten Wohnungsgenossenschaften in Deutschland haben sich dafür entschieden. Die Partizipationsrechte decken die gesetzlich verpflichtend vorgegebene Beteiligung der Mitglieder ab, vor allem Mitwirkungsrechte in der Mitglieder- oder Vertreterversammlung, die Kontrollrechte der Mitglieder als Aufsichtsräte sowie die Gestaltungsrechte der Vorstände. Hinzu kommt die freiwillige Partizipation der Mitglieder in Form von Beratungsrechten, die häufig in diversen Beiräten ausgeübt werden, sowie Organisationsrechte, die etwa durch Nachbarschaftsaktivitäten genutzt werden. Insgesamt umfasst dies den mittelbaren MemberValue, der die Eigentümerbeziehung abbildet.
Der dritte Bestandteil ist der nachhaltige MemberValue, der der Investitionsbeziehung entspricht. Er ermöglicht die Unternehmensentwicklung und ist durch die Existenz und Leistungsfähigkeit der Wohnungsgenossenschaft ein Optionsnutzen für die Zukunft. Es ist naheliegend, dass die Bewohner bereits heute einen Wert in einem gesicherten zukünftigen Wohnraum sehen. Dafür sind Investitionen in Leistungen, Prozesse und organisatorische Strukturen notwendig, die durch vergangene oder gegenwärtige Gewinne finanziert werden. Eine unmittelbare Folge dieser drei Wertkomponenten ist, dass Wohnungsgenossenschaften ihren Mitgliedern nicht den billigsten, sondern einen preiswerten (im wahrsten Sinne des Wortes) Wohnraum anbieten, der zu deren Anforderungsprofilen passt. Ebenso können sich Wohnungsgenossenschaften bei der Gestaltung ihrer Nutzungsentgelte nicht den Anforderungen des Marktes und der Regulierung der Wohnungsmärkte entziehen und Wohnraum unter Wert anbieten, der die Substanz der Wohnungsgenossenschaft auszehren und deren nachhaltigen Bestand gefährden würde.
Einzelwirtschaftliche Vorteile für die Menschen
Die drei Bestandteile des MemberValues hängen eng miteinander zusammen. Die Ausschüttung von Dividenden und das aktuelle Leistungsvolumen begrenzen zum Beispiel die Möglichkeiten, zusätzliches Eigenkapital über Rücklagen zu bilden. Werden große Investitionsvolumina beschlossen, reduziert dies die Möglichkeit zur Ausschüttung von Dividenden. Untersuchungen zum MemberValue von Wohnungsgenossenschaften haben gezeigt, dass die Mitglieder hier klare Prioritäten setzen. An der Spitze der Präferenzen stehen die Leistungen, knapp vor der Langfristigkeit, mit der sie in Anspruch genommen werden können. Erst dann folgen die Vermögens- und Partizipationsrechte. Auf der Leistungsebene dominiert eine hohe Wohnsicherheit, gefolgt von einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis, während erst dann die Verfügbarkeit zusätzlicher wohnrelevanter Dienstleistungen gewürdigt wird.
Die genossenschaftliche Mitgliederorientierung ermöglicht es, Werte für die Mieter zu schaffen, ohne dass diese mit den besonderen Anforderungen durch kommunale Vermieter oder den Nachteilen einer investorenorientierten Shareholder-Value-Strategie konfrontiert werden. Letztere maximiert den Wert des Unternehmens durch die Mieteinnahmen für die Investoreneigentümer. Bei der MemberValue-Orientierung wird der Wert der Wohnungsgenossenschaft hingegen durch die Wohnungsnutzung der Mitglieder für die Mitglieder bestimmt. Da Genossenschaftsanteile nicht auf dem Finanzmarkt gehandelt werden, kann dessen mitunter negative Eigendynamik nicht in die Wohnungsgenossenschaften getragen werden. Es ist somit ausgeschlossen, dass isolierte Investoreninteressen unternehmerische Entscheidungen dominieren. Wohnungsgenossenschaften sind daher in der Realwirtschaft verankert. Sie sind nicht finanzmarktgetrieben, und sie können nicht feindlich übernommen werden.
Diese positiven Merkmale wirken sich entsprechend aus: So unterbleibt erstens eine Disziplinierung des Genossenschaftsvorstands durch die Investoren. Stattdessen erfolgt eine Beschränkung des Managerhandelns durch den Wettbewerb auf dem Wohnungsmarkt sowie durch die Mitglieder. Eine zweite Folge sind die Grenzen für die Beschaffung von Eigenkapital, da der Finanzmarkt für Genossenschaften nicht zur Verfügung steht. Eigenkapital kann nur von den Mitgliedern bei ihrem Eintritt in die Genossenschaft und von nicht verwendeten Gewinnen herrühren. Um investieren und die Leistungen der Genossenschaft weiter entwickeln zu können, sind gute wirtschaftliche Ergebnisse daher eine grundlegende Voraussetzung. Selbstverständlich können auch Wohnungsgenossenschaften Gewinne machen. Sie benötigen sie sogar, weil ihnen der Kapitalmarkt verschlossen ist und die Zukunftsfähigkeit von Wohnungsunternehmen hohe Investitionen erfordert. Im Genossenschaftsgesetz ist detailliert vorgegeben, wie diese Gewinne entstehen und wie sie verwendet werden dürfen: Sie gehen immer an die Mitglieder, unmittelbar oder mittelbar, in der Gegenwart oder in der Zukunft.
Eine dritte Konsequenz ist, dass Wohnungsgenossenschaften über ein inhärent nachhaltiges Geschäftsmodell verfügen. Die Entscheidungen werden von Menschen getroffen, die ihre Vorteile aus den aktuellen und zukünftigen Leistungen der Genossenschaft erzielen. Dies verhindert es, über eine isolierte Renditeorientierung das Investitionsbudget auszutrocknen. Zudem können Investitions- und Leistungsentscheidungen nicht zum Abzug von Eigenkapital führen, wenn Investoren eine Verringerung der Rendite befürchten. Die inhärenten Anreize zu nachhaltigen Entscheidungen sind eine eindeutige Stärke des genossenschaftlichen Eigentums.
Aufwertung von Wohn- und Lebensräumen für die Gesellschaft
Durch die Aktivitäten von Wohnungsgenossenschaften entstehen zusätzlich gesamtwirtschaftliche und gesellschaftliche Effekte, die über die einzelnen Genossenschaften hinauswirken, also Kollateraleffekte.
Hinzu kommt, dass erfolgreiche Wohnungsgenossenschaften Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen und entsprechende Möglichkeiten bieten, Einkommen zu erzielen. Sie vergeben Aufträge, tragen zum Steueraufkommen bei und investieren in Infrastrukturen. Auf diese Weise können Lebens- und Wirtschaftsräume aufgewertet und die Lebensqualität von Menschen erhöht werden. Daraus folgt, dass die Aktivitäten von Wohnungsgenossenschaften teilweise wirtschaftspolitische Maßnahmen ersetzen oder zumindest ergänzen können, zum Beispiel in der Sozialpolitik oder in der Stadtentwicklungspolitik. Zusätzlich gehen viele Wohnungsgenossenschaften Partnerschaften im Rahmen sozialer, kultureller, ökologischer oder bildungsorientierter Projekte ein. Dies sind sekundäre Effekte genossenschaftlicher Strategien, die die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung bedeuten.
Selbstverständlich kann die Frage gestellt werden, ob die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung eine Besonderheit von Wohnungsgenossenschaften ist. Können nicht auch kommunale Anbieter und private Gesellschaften solche gesellschaftliche Effekte hervorrufen? Dies ist sehr wohl möglich. Bei Wohnungsgenossenschaften handelt es sich jedoch um eine direkte Folge der Umsetzung ihrer strategischen Orientierung. Dies ist, zumindest im Bereich der Wohnungsmärkte, einzigartig.
Antworten auf Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft
In den skizzierten einzelwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorteilen von Wohnungsgenossenschaften werden zugleich ihre Stärken vor dem Hintergrund aktueller Rahmenbedingungen sichtbar: Finanzierbarer und sicherer Wohnraum, Kombination einer eigentümer- und mieterorientierten Strategie, Beteiligungsrechte, Ausweitung der Teilhabe von Menschen in der Gesellschaft, Aufwertung von Lebensräumen – all dies sind wichtige Komponenten einer menschenfreundlichen Städte- und Baupolitik. Menschen formulieren zudem steigende Anforderungen an Unternehmen. Sie artikulieren mehr und mehr den Wunsch nach der Berücksichtigung gesellschaftlicher Werte wie Ehrlichkeit und Transparenz, Nachhaltigkeit und langfristige Orientierung, Verankerung, Nähe und Identität, Kontrollmöglichkeiten, die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung sowie Stabilität, Sicherheit und Verlässlichkeit. Diese Werte entsprechen der genossenschaftlichen MemberValue-Strategie.
Betrachtet man den MemberValue und seine Bestandteile aus dem Blickwinkel gesellschaftlicher Werte, werden die Verbindungen offensichtlich. Der unmittelbare MemberValue weist einen Bezug zu realwirtschaftlicher Verankerung, Nähe und Identität auf. Der mittelbare MemberValue entspricht der Möglichkeit zur Kontrolle und der Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung. Der nachhaltige MemberValue bringt neben der Nachhaltigkeit Stabilität und Sicherheit zum Ausdruck. Die heute eingeforderten gesellschaftlichen Werte sind also genau jene Werte, die dem genossenschaftlichen Geschäftsmodell seit seiner Entstehung inhärent sind. Das genossenschaftliche Wertegerüst passt ausgezeichnet zu den aktuellen Erwartungen der Menschen an Unternehmen. Zum geforderten Verantwortungseigentum im Rahmen einer Purpose-Economy,
Antworten auf interne Herausforderungen
Diese positive Einschätzung soll nicht verbergen, dass sich die Wohnungsgenossenschaften internen Herausforderungen gegenübersehen, die aus den gegenwärtigen demografischen, gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaftlichen Trends resultieren. Von manchen dieser Entwicklungen sind sie stärker betroffen als andere Unternehmen, was mit ihrer mittelständischen Unternehmensgröße, mit dem durchschnittlichen Alter ihrer Bewohner wie ihrer Wohnungsbestände – und bei manchen Genossenschaften auch ihrem Standort – zusammenhängt. Die einzelnen Wohnungsgenossenschaften unterscheiden sich hinsichtlich Betroffenheit und Anpassungsfähigkeit deutlich voneinander.
Wie aber mit den aktuellen und den sich abzeichnenden zukünftigen Herausforderungen umgehen? Erstens können Wohnungsgenossenschaften und ihre Mitglieder nur dann ihre geschilderten Vorteile vollständig ausspielen, wenn sie sich dieser auch bewusst sind und sie alle Aktivitäten konsequent in eine umfassende Strategie einbinden.
Die demografische Entwicklung von Wohnungsgenossenschaften, verbunden mit der Mitgliederstruktur, legt es nahe, das Augenmerk auf zusätzliche Zielgruppen zu richten, was eine offensive Kommunikationsstrategie über die Besonderheiten von Wohnungsgenossenschaften erfordert. Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und die Erfahrungen der Menschen in Krisensituationen haben diese neugierig auf Genossenschaften gemacht. Eine offensive Kommunikation könnte die Alleinstellungsmerkmale sowie die Vor- und Nachteile des genossenschaftlichen Modells noch transparenter machen
Perspektiven für Wohnungsgenossenschaften
Die Politik neigt dazu, Wohnungsgenossenschaften kontextabhängig sowohl zu überschätzen als auch zu unterschätzen.
Wohnungsgenossenschaften haben bezahlbaren Wohnraum geschaffen, seit es sie gibt. Ihre Besonderheiten spiegeln die Zeit, in der sie entstanden sind, nämlich bitterste Wohnungsnot verbunden mit staatlicher Enthaltsamkeit auf dem Wohnungsmarkt. Heute bieten Wohnungsgenossenschaften Alternativen für eine Situation, die uns, wenn auch auf anderem Niveau, nicht gänzlich fremd erscheint. Damals wie heute bieten Wohnungsgenossenschaften Alternativen für Mieter, für den sozialen Wohnungsbau und für die Selbstnutzung von Wohneigentum. Sie sollten daher von der Politik als das wahrgenommen werden, was sie sind: Wohnungsunternehmen, die auf Rahmenbedingungen angewiesen sind, die es nahelegen, in Wohnraum zu investieren. Benötigt werden adäquate Grundstücke sowie eine Verringerung der Regulierungsintensität in der Wohnungswirtschaft. Dies würde nicht nur die bestehenden Wohnungsgenossenschaften fördern, sondern auch neue entstehen lassen. Solche werden dann gegründet, wenn sich Menschen finden, die bereit sind, in Eigeninitiative und im eigenen Interesse zusammen bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und die dazu auch in der Lage sind.