Im Frühjahr 2020 konstatierten zwei Gastautoren in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eine "erschreckende Lust" bei Politikerïnnen, öffentlich über die Verstaatlichung von Unternehmen nachzudenken. Mit atemberaubender Leichtigkeit, so die Klage, werde "mit schwerem Besteck an den Grundfesten unserer verfassungsmäßigen Ordnung gearbeitet, die zwingend Privateigentum, Haftung und Vertragsfreiheit verbindet".
Oft genug wurde in der Krise betont, dass die staatlichen Maßnahmen einer Ausnahmesituation geschuldet seien, Ziel sei perspektivisch eine Rückkehr zur Normalität. Privateigentum sitzt allen Unkenrufen zum Trotz – so viel sei vorweggenommen – fest im Sattel. Und das, obwohl gerade in der Krise sichtbar wurde, dass das rationale Einzelinteresse privaten Unternehmertums – Handeln nach maximalem Gewinn auszurichten – versagt, wenn es darum geht, flächendeckend lebensnotwendige Versorgungslücken in kurzer Zeit füllen zu müssen. Auch soziale Ungleichheit oder Klimawandel werden von Gesellschaftskritikerïnnen oft auf das Konto des Privateigentums gebucht, Erstere wird als Folge der Privatisierungsoffensiven der vergangenen Jahrzehnte identifiziert, Letzterer einem ungebremsten Wirtschaftswachstum zugeschrieben. Wachstum ohne Maß an der stofflichen Welt ist Resultat der gewinnorientierten Rationalität des Privateigentums. Ihr ist eine gewisse Blindheit gegenüber der Ausbeutung von Natur, aber auch gegenüber der Qualität der Arbeitsbedingungen inhärent. Wie erklärt sich vor diesem Hintergrund die ungebrochene Dominanz des Privateigentums?
Die alte Erzählung von Aneignung und Anreiz
Bei Hüther und Bardt findet sich nicht nur die Sorge um die verfassungsmäßige Ordnung, sondern auch die Antwort auf diese Frage. Eine Erklärung, wie sie in allen Lehrbüchern steht und ideengeschichtlich weit zurückreicht: "Ohne privates Eigentum fehlt es an Anreizen, effizient, nachhaltig und innovativ zu wirtschaften." Man findet diesen Gedanken bereits bei John Locke, der als Begründer der Legitimation des modernen Eigentums gilt. Individuelles Eigentum bedurfte zu seiner Zeit noch der Rechtfertigung, denn eigentlich, so das damals akzeptierte Naturrecht, hatte Gott die Erde den Menschen zur gemeinsamen Verfügung gegeben. Es sei die eigene Arbeit, so Locke, die das Recht auf Eigentum begründe. Aber warum? Das, was heute als selbstverständlich gilt, musste Locke noch umständlich herleiten: Die Früchte der eigenen Arbeit dürfe man sich deshalb aneignen, weil der Körper einem gehöre. Pflücke ich den Apfel von einem Baum, vermische ich physisch die Natur mit meiner Körperkraft. Dieser Vorgang macht den Apfel zu meinem Eigentum.
Aus dieser trickreichen Konstruktion resultiert die bis heute vorherrschende Annahme: der Mensch werde nur dann tätig, wenn er die Früchte seiner Arbeit sein Eigen nennen darf. Die sogenannte Anreiztheorie individuellen Eigentums war geboren, die Arbeitstheorie des Eigentums seine Grundlage. Karl Marx erklärte 200 Jahre später die Behauptung, dass Aneignung durch Arbeit Eigentum begründe, zur Tautologie: "Eine Aneignung, die sich nichts zu eigen macht, ist eine contradictio in subjecto."
Es ist kein Zufall, dass Locke in einer Zeit das Privateigentum legitimierte, als die feudalen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse im Umbruch waren, was im Laufe der darauffolgenden Jahrhunderte schließlich in eine auf Privateigentum basierende Marktökonomie mündete. Wichtiger Teil dieser Veränderungen waren die sogenannten "Einhegungen", die Loslösung der Menschen von ihrem Grund und Boden, unter anderem durch gewaltsame Vertreibung der Landbewohnerïnnen. Es handelte sich dabei um eine breit angelegte soziale Enteignung, die in Kolonialismus und Rassismus ihren extremsten Ausdruck fand.
Als Resultat wurde nicht nur der Boden zur Ware, sondern auch die Arbeitskraft: Die vom Land vertriebenen Menschen waren gezwungen, in die Städte zu gehen, um ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Historisch wurden die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse des Feudalismus durch die sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse des Kapitalismus abgelöst, die Fronarbeit durch Lohnarbeit. Nach wie vor erhalten die abhängig Arbeitenden nur einen Teil des Arbeitsprodukts, dieses müssen sie sich von ihrem Lohn auf dem Markt zurückkaufen. Reich können sie dabei in aller Regel nicht werden, der Lohn ermöglicht auf historisch veränderlichem und stets mehr oder weniger prekärem Niveau den Erhalt ihrer Arbeitskraft. Den großen Rest eignen sich die Privateigentümer der Produktionsmittel an. Das bürgerliche Recht ermöglicht den Arbeitenden, sich als freie und gleiche Marktsubjekte, als Warenbesitzer, zu verhalten: Arbeitsverträge, Kaufverträge und anderes mehr sind die Institutionen, in denen das neue Herrschaftsverhältnis seine Bewegungsform findet, das heißt, in dem die von ihren Produktionsmitteln getrennt Arbeitenden wieder mit ihnen vereint werden, allerdings zu einem historisch neuen Zweck: Die Verausgabung der Arbeit der einen dient der Vermehrung des investierten Kapitals der anderen.
Vormoderne Eigentumsverhältnisse
Dieses neue Eigentumsverhältnis gebiert auch damit korrespondierende neue Plausibilitäten oder "objektive Gedankenformen" (Marx), die sich von früheren unterscheiden. Die Analyse vormoderner Eigentumsverhältnisse ist daher kein voraussetzungsloses Unterfangen. Das beginnt schon bei der Terminologie. Wo gesellschaftliche Verhältnisse sich historisch stark unterscheiden, existieren auch andere Denkkategorien, Wahrnehmungen, Gefühle. Frühere soziale Verkehrsformen auf einen modernen Begriff bringen zu wollen, birgt daher stets die Gefahr der Rückprojektion der gegenwärtigen Verhältnisse. Wird dies nicht reflektiert, bleibt Geschichte unbegriffen, die Gegenwart wird naturalisiert.
Auch Geld in seiner Funktion als die zentrale Vermittlungsinstanz der gesamten gesellschaftlichen Reproduktion hat die Bühne der Geschichte erst vor wenigen Jahrhunderten betreten,
Sätze wie "Die Gegenstände gehören dem, der sie braucht" werden diejenigen irritieren, die die moderne Eigentumsordnung für natürlich halten. Seit wann darf ich etwas meins nennen, nur weil ich es brauche? Und in der Tat: Das hat mit unserer Erfahrungswelt wenig zu tun. Der Satz beschreibt die sozialen Beziehungen der Bewohnerïnnen des nördlichen Polargebiets zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Rechtshistoriker Uwe Wesel nahm solche ethnologischen Untersuchungen als Grundlage, um herauszufinden, ob es in vorstaatlichen Gesellschaften so etwas wie Recht gab. Bezogen auf Eigentum stellte er fest, dass, soweit man überhaupt von Eigentum sprechen könne, es in den untersuchten Gemeinschaften von der Notwendigkeit des Gebrauchs begrenzt war: "Wer eine Sache nicht braucht, muß der Bitte eines anderen entsprechen, sie ihm zu leihen. Damit verliert er nach der Vorstellung der Eskimo auch schon einiges von seinem Eigentum. Denn wenn der andere die Sache beschädigt oder verliert, gibt es keinen Anspruch auf Ersatz."
Auch im 12. Jahrhundert existierten uns fremde Bewusstseinsformen. Boden wurde von den darauf lebenden Menschen nicht getrennt von sich wahrgenommen, vielmehr galten die Personen quasi als Bestandteil des Landes, auf dem sie lebten. Boden konnte erst dann als Eigentum wahrgenommen werden, als er handelbar wurde. Die Wahrnehmung von etwas als Eigentum setzt die Trennung von Subjekt und Objekt voraus, eine Trennung, wie sie sich umfassend erst mit der Entstehung der Marktgesellschaft vollzog, weshalb sich erst hier die abstrakte Denkkategorie "Eigentum" entwickeln konnte.
Arbeit, Eigentum und Herrschaft
Dass die Reichweite individueller Verfügungsgewalt abhängig ist vom Bedarf anderer, ist der modernen Eigentumsgesellschaft fremd. Paragraf 903 des Bürgerlichen Gesetzbuchs legt fest, dass der Eigentümer mit einer Sache "nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen" darf. Zwar kann dieses Recht durch Gesetz oder das Recht Dritter eingeschränkt werden, aber die exklusive und absolute Verfügungsmacht des Individuums ist Ausgangsbedingung. So erlaubt das moderne Eigentumsrecht, dass Eigentümerïnnen ihre Häuser leer stehen lassen können, während daneben Menschen ohne Obdach auf der Straße leben müssen.
Die gängige Legitimation des Privateigentums verweist auf die dargelegte Naturalisierung historisch spezifischer Herrschaftsverhältnisse. Dabei verdankt sich die Annahme, dass die Menschen im Rahmen der herrschenden Ordnung des Privateigentums die Früchte ihrer Arbeit ernten würden, einer ganz bestimmten Anschauung. Die in die Marktgesellschaft sozialisierten Menschen nehmen wahr, wie sich millionenfach Waren gegen Geld tauschen und wie sich in dieser unterschiedslosen Zirkulation von Arbeitskraft, Gütern, Dienstleistungen, Boden und Produktionsmitteln als Ware alle Menschen als Warenbesitzer gleich sind. Das sachliche Herrschaftsverhältnis, das dem solchermaßen verallgemeinerten Tausch zugrunde liegt – die einen verfügen über die Produktionsmittel und die anderen verfügen über nichts als ihre Arbeitskraft, die sie den Besitzern der Produktionsmittel zur Verfügung stellen müssen –, wird unsichtbar.
So wie Locke das Verhältnis zwischen Herr und Knecht als natürliche soziale Beziehung empfand
Konkurrenz und Innovation
Die Anreiztheorie des Eigentums, die Annahme, wonach der Mensch nur dann motiviert ist, wenn er die Früchte seiner Arbeit ernten kann, ist keine überhistorische Konstante des allgemein Menschlichen, sondern einer spezifischen Alltagspraxis geschuldet: Der Marktgesellschaft inhärent ist die Konkurrenz. Sie zwingt in einen Wettlauf um Marktanteile, sie bildet den Antriebsmotor, der bei Strafe des Untergangs jedes Unternehmen zwingt, stets von neuem das investierte Kapital zu vermehren. Aus dieser spezifischen Dynamik resultiert dann die Verallgemeinerung, wonach nur privates Eigentum "Anreiz" gebären würde. Dieses scheinbare Naturgesetz wird auch auf Beschäftigte übertragen. Dort resultiert der "Anreiz" aber nicht aus dem Eigentum an Betriebsvermögen, was sie in aller Regel gar nicht haben, sondern aus ihrer Eigentumslosigkeit daran. Marx nannte das den "stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse", der sie zum Verkauf der Arbeitskraft zwingt, stets in Konkurrenz zu anderen Arbeitskraftbesitzern.
Auch die viel gerühmte "Effizienz" des Privateigentums resultiert aus dem Wettbewerb, der zu Innovation zwingt. Es geht dabei allerdings nicht vorrangig um die technisch-stoffliche Effizienz im Sinne von nachhaltigen, ressourcenschonenden, arbeitssparenden Erfindungen. Vielmehr geht es darum, aus dem eingesetzten Kapital möglichst viel Gewinn herauszuholen, die Innovationen sind nur Mittel dazu. Daher werden immer wieder Potenziale technologischer Entwicklung "verschenkt". Arbeitssparende Verfahren stehen in Konkurrenz zu potenziell billigerer Arbeitskraft. Zum anderen weckt der Zwang, stets irgendetwas verkaufen zu müssen, das Interesse an der künstlichen Erzeugung von Bedürfnissen. Darüber hinaus führt die "Effizienz" des Marktes häufig zu einem Angebot, das an den Bedürfnissen vorbeigeht, wenn beispielsweise ein ganzes Arsenal an Antifaltencremes angeboten wird, während es gleichzeitig an wichtigen Medikamenten fehlt, weil zu wenig (zahlungsfähige) Menschen diese benötigen, weshalb sich die Herstellung nicht lohnt. Das heißt, es gibt zwar Effizienz in der marktwirtschaftlichen Ökonomie, aber es ist eine, die dem Maßstab der Rentabilität zu gehorchen hat, mit all den daraus folgenden negativen Begleiterscheinungen.
Und die Politik?
Das private Eigentum hat neben der ökonomischen aber auch eine juristische und eine politische Dimension. Es ist der Staat, der das bürgerliche Recht und das Recht auf Privateigentum mit all seinen Institutionen schafft und durchsetzt. Das geht weit über die dem Staat üblicherweise zugewiesene Rolle eines bloßen Rahmengebers hinaus. Und der Staat hat auch ein Interesse an dieser Rechtsordnung: In den entwickelten kapitalistischen Ländern ist die auf Privateigentum basierende Wachstumsökonomie die einzige Quelle des Staates für seinen Selbsterhalt. Er schöpft aus ihr seine Steuereinnahmen. Aus diesem Grund greift er regelmäßig ein, wenn die egoistischen Einzelinteressen der Privateigentümer dazu tendieren, mit ihrem Streben nach größtmöglichem Gewinn die Springquellen des Wachstums – Arbeitskraft und Naturressourcen – zu zerstören.
Historisch hat es seit der Durchsetzung der Privateigentumsordnung daher immer ein konkurrierendes Nebeneinander von staatlichem und privatem Eigentum gegeben. In den vergangenen Jahrzehnten konnte unter anderem aufgrund der von neoliberaler Ideologie getriebenen Privatisierungsoffensiven ein Primat des Privateigentums beobachtet werden. Die soziale Ungleichheit hat in der Folge enorm zugenommen, die Zerstörung der Natur ist an die Grenzen des für menschliche Gesellschaften Tragbaren gestoßen. Mag sein, dass hier nun Korrekturen anstehen, die zu einer stärkeren Regulation des Marktes führen. Am Ende ist das kein Gegensatz zum Privateigentum, ist es doch darauf angewiesen, dass Arbeitskraft und Natur weiterhin ausbeutbar, also erhalten bleiben.
Solange die Ordnung des Privateigentums den Menschen so natürlich vorkommt wie das Wetter, müssen Hüther und Bardt nichts fürchten. Angesichts der Schäden, die die Freiheit des Privateigentums der Gesellschaft zumutet, stellt sich jedoch die Frage, wie lange das noch so bleibt.