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Die "Neuen Kriege" und der alte Hobbes | Neue Kriege | bpb.de

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Die "Neuen Kriege" und der alte Hobbes

Sibylle Tönnies

/ 15 Minuten zu lesen

Nicht das Auftreten asymmetrischer Kriege ist eine Neuheit, sondern der Kurswechsel, den die Politikwissenschaft vorgenommen hat: Sie hält jetzt die Konzentration legitimer Gewalt im Staat für wünschenswert. Dabei sollte sie sich von dem Fachmann in dieser Frage belehren lassen: Thomas Hobbes

Einleitung

Es gibt keine "Neuen Kriege" - so soll hier argumentiert werden. Es gibt nur eine Veränderung in der Grundhaltung der Politikwissenschaft: Sie bejaht neuerdings die De-Souveränisierung der Nationalstaaten und öffnet sich der friedenstiftenden Möglichkeit eines Weltstaats, mag sich ihre veränderte Haltung aber noch nicht bewusst machen. Sie unterstützt zwar seit einigen Jahren die Unterminierung der nationalen Souveränität durch die Auflösung des Völkerrechts, gibt dafür jedoch eine irreführende Begründung: Die äußere Lage habe sich geändert, die Welt habe es mit einer bisher unbekannten Art von asymmetrischen Auseinandersetzungen zu tun. Demgegenüber soll auf die klaren Gedanken von Thomas Hobbes (1588-1679) hingewiesen werden, der die Monopolisierung der Gewalt ohne Umschweife propagiert hat.

"Neue Kriege" oder alte Scharmützel?

Seit einigen Jahren steht der Begriff "Neue Kriege" im Mittelpunkt der weltpolitischen Diskussion. Den Anstoß dafür gab die englische Politikwissenschaftlerin Mary Kaldor, die im Jahre 1999 unter dem Titel "New and old wars" eine eindringliche Darstellung der zunehmend nicht-staatlich geführten gewaltsamen Konflikte vorlegte. Ihnen liege der "Zusammenbruch der Legitimität und in der Folge der Kollaps des Gewaltmonopols" zugrunde, schrieb sie und zog daraus die Konsequenz, dass die Nationen nicht mehr in der Lage seien, die Sicherheit ihrer Bürger zu garantieren; eine kosmopolitische Instanz müsse diese Aufgabe übernehmen. Sie forderte einen globalen Gesellschaftsvertrag, wie ihn Thomas Hobbes seinerzeit für die einzelnen Nationen konzipiert habe: die ganze Welt müsse in den status civilis eintreten und eine zentral regierte " Cosmopolis" gründen. In kürzester Zeit wurde das Wort "Neue Kriege" aufgegriffen; ein neuer Topos entstand, von dem weitgehende Folgerungen abgeleitet wurden.

Was ist so neu an den "Neuen Kriegen"? Befand sich nicht Rom tausend Jahre lang in der "asymmetrischen" Auseinandersetzung mit nicht-staatlich organisierten Aufständen? Und waren nicht marodierende Banden und selbsternannte Warlords verantwortlich für seine Zersplitterung und schließlich seinen Untergang? Hatten Asterix und Obelix denn gar keine historischen Vorbilder?

Herfried Münkler, der den Topos "Neue Kriege" von Kaldor übernommen und ihm im Jahre 2002 ein eigenes Buch gewidmet hat, kann viele Belege dafür nennen, dass die sogenannten "Neuen Kriege" ein uraltes Phänomen sind. Er beschreibt nicht nur die Scharmützel des Dreißigjährigen Krieges, sondern auch viele andere "asymmetrische" Auseinandersetzungen. In seinem Buch "Imperien" sind die Kämpfe des Römischen Reiches sein zentrales Thema. Wenn man es nicht schon von der Schule her wüsste: Bei Münkler kann man lernen, dass die "Neuen Kriege" eigentlich die "Alten Kriege" sind; demgegenüber sind die zentral befehligten, Staat gegen Staat geführten Kriege das (relativ) Neue, denn sie wurden erst durch den Westfälischen Frieden 1648 zur Regel. Allerdings bewegt diese Erkenntnis Münkler nicht dazu, von dem Topos "Neue Kriege" abzugehen.

Warum ist dieser Topos so erfolgreich? Warum verwenden ihn auch diejenigen, denen bewusst ist, wie alt die "Neuen Kriege" sind?

Neue staatstragende Haltung

Wirklich neu an den asymmetrischen Auseinandersetzungen ist die Ablehnung, die ihnen die Politikwissenschaftler seit einiger Zeit entgegenbringen. Sie schlagen sich immer mehr auf die Seite von Goliath und lassen David im Stich. Denn bisher haben sie - wie der Zeitgeist überhaupt - mit dem bewaffneten Kampf gegen Staatsordnungen durchaus sympathisiert. In dem Licht, in dem Asterix und Obelix als Helden gezeigt wurden, sah man bisher alle Aufständischen; man nannte sie Freiheitskämpfer, Guerilleros oder Partisanen. Neu sind nicht die heute sogenannten "Neuen Kriege", sondern die Haltung, mit der man dem Kampf gegen Staatsordnungen gegenübersteht.

Die Geschichtsschreibung, die Literatur und die Schönen Künste haben diejenigen, die sich von der Staatsmacht lösten und sie bekämpften, bisher meistens verherrlicht. Zum Beispiel Götz von Berlichingen: Er war ein Raubritter, der sich der entstehenden Staatsmacht nicht unterwerfen wollte; er sah seine Freiheit in dem alten Fehderecht und wollte - so wie seine Väter - weiterhin auf eigene Faust einen bewaffneten Haufen anführen. Er gehörte zu den Kräften, welche die Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols um Jahrhunderte verzögerten - und dennoch gilt er als Held. Johann Wolfgang von Goethe lässt ihn mit dem Wort "Freiheit" auf den Lippen sterben.

Bisher hat unsere Kultur die Männer, die sich dem status civilis nicht unterworfen und den status naturalis entweder aufrechterhalten oder wieder hergestellt haben, idealisiert. Warum tragen Straßen und Plätze die Namen von Ferdinand von Schill, Theodor Körner und Adolf von Lützow? Weil diese Männer ohne Rücksicht auf den preußischen Staat, der sich von Napoleon hatte einverleiben lassen, den Kampf gegen die französischen Besatzer aufnahmen. Aus dieser Zeit stammen auch die deutschen Bundesfarben: Demnach trugen die Freischärler in Ermangelung von Uniformen ihre schwarzen Anzüge, auf die ihre Mütter goldene Knöpfe und rote Aufschläge genäht hatten. Heute müsste man das Lützower Freikorps als marodierenden Haufen bezeichnen.

Die 68er-Generation hat in ihrer Jugend die Guerilla und das Partisanentum gefeiert; heute lässt sie sich nicht gern daran erinnern. Der Topos "Neue Kriege" hilft ihr, wenn sie nicht zugeben mag, dass sie ihre Haltung geändert und den Rebellen ihre Sympathie entzogen hat. Statt aber eine uralte Frage in neuer Terminologie zu diskutieren, sollte sie fruchtlos zugeben, dass sie sich revidiert hat. Diese Revidierung ist gut und richtig. Die prinzipielle Bejahung des Gewaltmonopols entspricht der weltgeschichtlichen Tendenz zur globalen Zentralisierung der militärischen Macht.

Mary Kaldor hat einen guten Griff getan, als sie Norbert Elias' kurze, aber unübertroffene Darstellung dieser unaufhaltsamen Tendenz wiedergegeben hat. Elias schrieb in seinem Buch "Über den Prozess der Zivilisation" über die Monopolisierung der zunächst souveränen Gewalten: "Nach vielen Kämpfen und Niederlagen werden einige durch Akkumulation von Machtmitteln stärker, andere scheiden aus dem Konkurrenzkampf um die Vormacht aus; diese hören auf, Figuren erster Größe in diesem Kampf zu sein; jene, die wenigen, kämpfen weiter miteinander, und der Ausscheidungsprozess wiederholt sich, bis schließlich die Entscheidung nur noch zwischen zwei Territorialherrschaften steht, die durch Siege über andere, durch deren freiwillige oder erzwungene Angliederung groß geworden sind; alle übrigen haben nun - ob sie sich am Kampfe beteiligten oder neutral blieben - durch das Wachstum und die Machtfülle dieser beiden den Charakter von Figuren zweiter oder dritter Ordnung bekommen, und in dieser Funktion haben sie immerhin noch ein gewisses gesellschaftliches Schwergewicht. Jene beiden aber nähern sich schon einer Monopolstellung, sie sind aus dem Konkurrenzbereich der übrigen herausgewachsen; zwischen ihnen steht die Entscheidung."

Betrachtet man die gegenwärtige Weltlage mit diesen Augen, so lässt sich konstatieren: Die Entscheidung ist gefallen - zugunsten der USA. Solange sich die Weltmacht nicht offensichtlich im Abstieg befindet, (was allerdings viele Analytiker behaupten,) muss davon ausgegangen werden, dass die Welt-Gewaltmonopolisierung in den Händen der USA der nächste Schritt im Prozess der Zivilisation ist.

Aporie des Völkerrechts

Es gibt einen weiteren Grund dafür, dass der Begriff "Neue Kriege" so viel Erfolg hatte. Er kam der öffentlichen Meinung nicht nur deshalb entgegen, weil er ihre neue Haltung gegenüber zentralisierter Gewalt legitimierte; er konnte auch ihre veränderte Haltung gegenüber dem Völkerrecht rechtfertigen. Die alten Scharmützel müssen als "Neue Kriege" firmieren, damit die Auflösung der völkerrechtlichen Ordnung, die seit den 1990er Jahren im Gang ist, nicht als solche in Erscheinung tritt.

Den Kern dieser Ordnung bildet das Angriffskriegsverbot. Es wurde im Völkerbund begründet, im Briand-Kellogg-Pakt 1928 gefestigt und 1945 in der UN-Charta bestätigt. In Art. 2 Ziff. 4 der Charta ist die grenzüberschreitende Gewaltanwendung generell verboten, nur zur Verteidigung ist sie noch zulässig.

Das Angriffskriegsverbot ist jedoch in Auflösung begriffen. Schon mit der Bombardierung Belgrads 1999 wurde es missachtet. Auch die schwersten menschenrechtlichen Missstände berechtigen nicht zu einem gewaltsamen Einschreiten. Die sogenannte "humanitäre Intervention" ist nicht gestattet, denn sie widerspricht der Charta ebenso wie der bisher einhelligen völkerrechtlichen Lehrmeinung.

Die Ordnung der Charta hat ein System der "kollektiven Sicherheit" begründet, in dem nur der UN-Sicherheitsrat, und auch nur bei einstimmigem Beschluss seiner ständigen Mitglieder, einen rechtmäßigen Militäreinsatz anordnen darf. Im Falle der massiven Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Jugoslawien war der Sicherheitsrat daran gehindert: Sowohl Russland als auch China drohten mit ihrem Veto. "Wegschauen" wäre die Konsequenz gewesen, hätte man der Charta gehorcht. Die Tatsache, dass die NATO auf eigene Faust gegen Serbien vorging und fast die gesamte Öffentlichkeit dies guthieß - das war das Neue.

Das kam einem Dammbruch gleich, der zur Folge hatte, dass die USA nicht gerügt werden konnten, als sie nach 2001 in ihrem "War against Terror" das Völkerrecht eklatant verletzten. Erst als die Pazifizierung des Irak nicht gelang, erinnerte man sich an die Bestimmung der Charta. Damit konnte die Anerkennung des Angriffskriegsverbots aber nicht wiederhergestellt werden. Vielmehr hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass grenzüberschreitende Militäreinsätze auch dann zulässig sein können, wenn der Sicherheitsrat sie nicht beschlossen hat. In der Diskussion über die "Neuen Kriege" spielt die Tatsache fast gar keine Rolle mehr, dass es den Staaten gemäß dem Völkerrecht untersagt ist, die territoriale Integrität anderer Nationen zu verletzen, um dort geduldete nicht-staatliche Feinde zu bekämpfen. "Die enge Verknüpfung von Deskription und Präskription bei der Definition von Krieg erklärt die dominante Position, die hierbei den Juristen zufällt", sagte Münkler, ohne dass er sich selbst ernsthaft um diese Position kümmern würde.

Als Israel im sogenannten Sommerkrieg gegen die Hisbollah im Libanon vorging, wurde die damit verbundene Völkerrechtsverletzung fast gar nicht gerügt. Die besondere Gefährdung Israels spielt bei der Auflösung des Angriffskriegsverbots eine entscheidende Rolle. Israel sieht sich nicht nur durch "private" Gewalten, sondern auch in ganz konventioneller Weise durch einen Staat bedroht: den Iran, von dem ein nuklearer Angriff ausgehen könnte. Ein (bisher verbotener) Erstschlag gegen den Iran wird vorbereitet - nicht nur militärisch, sondern auch geistig: in unseren Köpfen. Das Bedürfnis, Israel in dieser Lage zu beschützen, hat zu der Erosion des Völkerrechts beigetragen.

Die Erosion des Völkerrechts ist nur auf den ersten Blick ein Unglück. Als Wandlung der Weltordnung steht sie auf der geschichtlichen Tagesordnung; sie ist unvermeidlich. Das gegenwärtige Völkerrechtsordnung leidet nämlich an einem unerträglichen Widerspruch: Die UNO kann Nationen, die sich durch staatliche oder nicht-staatliche Gegner von außen bedroht sehen, nicht schützen. Ihr fehlt eine durchsetzungsfähige militärische Exekutive. Dennoch erwartet sie von den gefährdeten Nationen, ihrem Gesetz - dem Angriffskriegsverbot der Charta - Gehorsam zu leisten. Es fehlt an dem Austausch von Schutz und Gehorsam, der - nach dem Hobbes'schen Theorem - jeder tragfähigen politischen Ordnung zugrunde liegt.

Statt die Neuigkeit von gewissen gewaltsamen Auseinandersetzungen zu behaupten, sollte diese Aporie des Völkerrechts wahrgenommen und der einzig mögliche Ausweg gesucht werden: der Aufbau eines legitimen Welt-Gewaltmonopols.

"Cosmopolis" oder Weltimperium?

Beide Protagonisten des neuen Topos, sowohl Kaldor als auch Münkler, haben - mehr oder weniger offen - dieses Ziel im Auge. Kaldor bezeichnet es mit dem alten griechischen Wort " Cosmopolis" - ein gutes Wort, das aber über die Frage, ob die Gewalt monopolisiert werden soll, einen Schleier wirft. Kaldor beruft sich einerseits auf Immanuel Kant, dessen Konzept eines "Ewigen Friedens" diese Monopolisierung ausschließt, andererseits aber auf Norbert Elias und Thomas Hobbes, die sie für unabdingbar halten. Auch Münkler nimmt in dieser Frage keinen klaren Standpunkt ein. Er befasst sich zwar sympathisierend mit "Imperien", propagiert jedoch nur an einigen Stellen ausdrücklich die Gründung eines Welt-Imperiums. Soweit er das tut, hat er - realistischerweise - die USA im Auge.

Wenn Kaldor das angelsächsische Publikum davon überzeugen will, dass die "Neuen Kriege" zu einem globalen status civilis zwingen, kann sie sich ganz unbefangen auf Thomas Hobbes berufen. Münkler muss das vermeiden: In Deutschland hat Hobbes keinen guten Ruf. Es ist gleichwohl richtig, ihn als Fachmann für das Thema heranzuziehen; denn - ob das Konzept "Cosmopolis" oder "Imperium" heißen möge - in beiden Fällen kann das, was Hobbes über die notwendige Gründung des staatlichen Gewaltmonopols gesagt hat, auf die Weltebene übertragen werden.

Die Abwehrreaktion, die Hobbes auslöst, ist unberechtigt. Denn alles, was er auf nationaler Ebene in Gang setzen wollte, ist eingetreten - und zwar zu unser aller Gunsten. Hobbes animierte die kleinen Mächte - die Adligen, die Bischöfe, die Städte - ihre Waffen abzulegen und zu dulden, dass nur noch eine Zentrale das Recht hat, Gewalt anzuwenden - der Staat: Er allein darf eine Exekutive besitzen und physischen Zwang anwenden; bewaffnete Einheiten - Polizei und Militär - dürfen nur unter staatlichem Befehl agieren. Ein solcher Staat schwebt heute über allen funktionierenden Nationen und sein Gewaltmonopol steht prinzipiell außer Frage. Das Fehlen von Staatsgewalt - so in Gesellschaften, die man als "failed states" bezeichnet - wird als Mangel angesehen. Diese Gesellschaften sind die Tummelplätze der "Neuen Kriege".

Der Nutzen der Gewaltmonopolisierung wird heute nicht mehr prinzipiell in Frage gestellt. Aber es wird Hobbes - jedenfalls in Deutschland - nicht gedankt, dass er diesen Prozess durch seine Theorie so wirksam gefördert hat. Er hat zu seiner Unbeliebtheit allerdings selbst beigetragen, indem er die monopolisierte Gewalt - den Staat also, zu dessen Anerkennung er ermunterte - als Ungeheuer darstellte. Er gab ihr, der er das alleinige Privileg des Waffeneinsatzes zuwies, den Namen Leviathan. Der Leviathan aber ist ein Ungeheuer, das im Alten Testament - Buch Hiob, Kapitel 41 - so beschrieben wird: "Wer kann ihm sein Kleid aufdecken? Und wer darf es wagen, ihm zwischen die Zähne zu greifen? (...) Aus seinem Munde fahren Fackeln, und feurige Funken schießen heraus. Aus seiner Nase geht Rauch wie von heißen Töpfen und Kesseln. Auf seinem Halse wohnt die Stärke, und vor ihm her hüpft die Angst."

In der Wahl dieser Allegorie schwingt englische Selbstironie mit. Trotzdem ist das Bild ernst zu nehmen. Hobbes wollte die Staatsmacht als schreckliches Ungeheuer sehen, weil es ihm darauf ankam, dass sie Angst erregt. Darin drückte sich keine Neigung zur Gewalt aus. Im Gegenteil: Je mehr Angst die Staatsmacht erregt, desto weniger muss sie faktisch einschreiten.

Furcht als Lehrmeister

Hobbes wollte, dass die Staatsmacht Furcht erregt - statt dass der Mensch weiterhin Angst vor seinesgleichen haben muss. Er machte seinen Zeitgenossen bewusst, wie sehr sie einander fürchten, solange sie nicht von oben beschützt werden. Schon die Tatsache, dass jeder sein Haus abschließe, wenn er es verlässt, zeige, dass er seinem Nächsten nicht über den Weg traut. Hobbes machte bewusst, wie sehr die Menschen auf die kollektive Wachsamkeit angewiesen sind. Im status naturalis sei der Mensch dem Menschen ein Wolf - homo homini lupus. Dieses Wort ist berühmt geworden, genau wie die Feststellung, dass das Leben ohne wirksame Vorkehrungen gegen die Mitmenschen "nasty, brutish and short" sei.

Daran mögen die Theoretiker der "Neuen Kriege" nicht anknüpfen. Implizit tun sie es aber doch - und zwar mit vollem Recht. Sie verwenden den neuen Topos zu dem Zweck, Angst zu verbreiten. Sie nennen die alten Unruhen "Neue Kriege", um ihre Gefährlichkeit zum Ausdruck zu bringen - wie sonst könnte die neue Betrachtung die Auflösung des Völkerrechts begünstigen? Damit befinden sie sich - nolens oder volens - in dem bewährten Fahrwasser von Thomas Hobbes. Sie wollen die Illusionen über den status naturalis, in dem sich die Welt noch befindet, nehmen; sie wollen die Brutalität dieses Zustands zeigen, um die öffentliche Meinung darauf vorzubereiten, dass eine Zentralgewalt die nationalen Souveränitäten in Zukunft zunehmend ignorieren wird.

Fiktion des Gesellschaftsvertrags

Mehr als tausend Gentlemen habe er zum Gehorsam gegenüber Oliver Cromwell überredet, rühmte sich Hobbes. Zu anderen Zeiten hatte er für die Unterwerfung unter den englischen König geworben. Zu Unrecht wird ihm dieses Schwanken als Opportunismus vorgeworfen. Vielmehr wollte er, dass der Englische Bürgerkrieg dadurch endlich ein Ende findet, dass sich die stärkste Macht durchsetzt - in wessen Händen auch immer. Er animierte zur Unterwerfung unter den Stärksten, ohne Rücksicht auf dessen moralische Qualitäten.

Das gelang ihm nicht ohne ein vorsichtiges Taktieren. Zwar machte er deutlich, dass der Leviathan - den zu dulden er aufforderte - die zentralisierte brutale Gewalt darstellt; zur Legitimation der Staatsgründung aber bediente er sich einer verschleiernden, schon im Mittelalter auftauchenden Konstruktion: der des Gesellschaftsvertrags. Dieses Konstrukt hat Kaldor übernommen. Die Vorstellung einer vertraglichen Gründung hilft ihr dabei, wenn sie ihrem " Cosmopolis"-Konzept Legitimität geben will.

Der Vorgang der Gewaltmonopolisierung bestand zwar in Wirklichkeit aus ganz gewöhnlichen Kampfhandlungen: aus Hauen, Stechen und Schießen, aus Töten, Gefangennehmen - und Kapitulieren. Zum Schutz des Ehrgefühls seiner Zeitgenossen konstruierte Hobbes ihn aber als gegenseitigen Vertrag. Die Unterwerfung des Besiegten sei bei genauerem Hinsehen ein Geben und Nehmen. Derjenige nämlich - so sagte er ihnen - der sich der Gewalt des Siegers unterstelle, ihm seine Waffen übergebe und Gehorsam verspreche, erhalte ja im Gegenzug auch etwas zurück - nämlich Schutz. Dieser werde vertraglich gegen Gehorsam ausgetauscht - protection gegen obedience.

Dabei verschwieg Hobbes nicht, dass der Gesellschaftsvertrag keineswegs freiwillig geschlossen werden müsse; er werde begründet, "wenn jemand im Kriege gefangen genommen, oder besiegt, oder seinen Kräften nicht mehr trauend (um den Tod abzuwehren) dem Sieger oder dem Stärkeren verspricht, ihm zu dienen, d.h. alles tun zu wollen, was er befehlen werde. In diesem Kontrakt ist das Gut, das der Besiegte, Schwächere empfängt, das Geschenk seines Lebens; das Gut aber, das er verspricht, ist Dienst und Gehorsam."

Diese das Ehrgefühl schonende Tarnung einer Unterwerfung als Vertrag ist uns vertrauter, als wir auf den ersten Blick annehmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Besatzung Deutschlands durch die westlichen Alliierten als Schutz vor der Sowjetunion aufgefasst und der NATO-Vertrag als Abkommen unter Gleichen konstruiert - und wird bis heute so aufgefasst. Dasselbe geschah, mit weniger Erfolg, im sogenannten Warschauer Pakt.

Die Fiktion des Gesellschaftsvertrags hatte bei Hobbes allerdings nicht nur taktischen Charakter: Sie schafft ein Kriterium, an dem die Richtigkeit einer Verfassung gemessen werden kann. Entscheidend war hierbei die Frage, ob man sie sich als gegenseitigen Vertrag "vorstellen" kann; der Staat ist nur dann legitimer Inhaber der monopolisierten Gewalt, wenn er seinen Bürgern den Schutz, den er ihnen im Austausch für ihren Gehorsam schuldet, auch tatsächlich bietet. So darf der Leviathan - so mächtig Hobbes ihn auch sehen will - niemanden zum Kriegsdienst zwingen. Denn im Krieg ist man schutzlos und kann zu Tode kommen; der Staat kann von seinen Bürgern nicht verlangen, dass sie sich diesem Rückfall in den status naturalis gegen ihren Willen aussetzen.

Weil Hobbes die Staatsgewalt immer im Rahmen des Schutz-Gehorsam-Austausches verstand, kann er nicht als Theoretiker des Totalitarismus angesehen werden. Die Herrschaft der Nationalsozialisten hätte er verdammt, weil ein Teil der Bevölkerung Deutschlands nur zum Gehorsam verpflichtet war, ohne im Gegenzug auch staatlichen Schutz zu genießen. In solchen Fällen bricht der Staat den Gesellschaftsvertrag und Hobbes billigt den Unterworfenen das Recht zum Widerstand zu.

Mangelhafte Machtbereitschaft

Nicht nur Hobbes Aufruf an die Gentlemen, die ihre Souveränität aufgeben sollten, lässt sich auf die heutigen, bisher souveränen Nationen übertragen. Auch seine Botschaft an die zu gründende Zentralgewalt lässt sich auf die Weltebene transferieren. Denkt man sich die USA als die Macht, der Hobbes heute die Aufgabe zuweisen würde, mit dem Rest der Welt einen Welt-Gesellschaftsvertrag zu schließen, so zeigt sich deutlich, dass diese Macht keineswegs auf diese Rolle vorbereitet ist. Hobbes würde den USA dasselbe vorwerfen, was er den zu seiner Zeit rivalisierenden Mächten vorwarf: dass sie sich verhielten, als sei das "Schwert der Gerechtigkeit" für sie zu heiß - "as if the sword of justice were too hot for them to hold".

Die "Sole Super Power" zeigt bisher keine Neigung, den status naturalis der Welt aufzulösen und ihre lukrative Rolle als Wolf unter Wölfen aufzugeben. Sie muss erst dazu animiert werden, das "Schwert der Gerechtigkeit" tatsächlich in die Hand zu nehmen. Es wird ein Gewinn sein, wenn es die politische Korrektheit erlaubt, sie dazu offen aufzufordern - ohne dass verwirrende neue Begriffe zu Hilfe genommen werden müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mary Kaldor, Neue und alte Kriege, Frankfurt/M. 2007, S. 66.

  2. Dies., Cosmopolitanism and Organised Violence, in: Matthew Evangelista (ed.), Peace Studies, Abingdon 2005, S. 329.

  3. Vgl. Herfried Münkler, Die Neuen Kriege, Reinbek 2002.

  4. Vgl. ders., Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005; siehe auch Mary Kaldor, Human Security, Cambridge 2007, S. 4.

  5. Auch Herfried Münkler rückt die Aufständischen von Andreas Hofer bis Che Guevara nicht immer in das schlechte Licht wie heute die Warlords; vgl. Herfried Münkler, Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt, Opladen 1990.

  6. Vgl. M. Kaldor (Anm. 2), S. 335.

  7. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt/M. 1997, S. 143.

  8. Vgl. u.a. Otto Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, Tübingen 1997, 6. Aufl., S. 295. Die "humanitäre Intervention" war - wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit - geächteter als der hegemoniale Angriffskrieg. Vgl. dazu ausführlich Sibylle Tönnies, Cosmopolis Now. Auf dem Weg zum Weltstaat, Hamburg 2002, Kap. VI.

  9. Vgl. Robert Kagan, America's Crisis of Legitimacy, in: Foreign Affairs, 83 (2004) 2, S. 65 - 87.

  10. Herfried Münkler, Krieg, in: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE), 19 (2008) 1, S. 27.

  11. In der Erkenntnis dieses Mangels und im Hinweis auf das Hobbes'sche Theorem liegt das Verdienst von Carl Schmitt; vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1954. Schmitt war allerdings nicht wie Hobbes auf die Gewaltmonopolisierung aus, sondern wollte zum "gehegten Krieg" des klassischen Völkerrechts zurückkehren; vgl. dazu Sibylle Tönnies, Ganz oder gar nicht! Carl Schmitt und Afghanistan, in: Welttrends, Nr. 69, November/Dezember 2009, S. 99.

  12. Vgl. H. Münkler (Anm. 4), S. 145.

  13. Hier sei an das oben beschriebene Manko der Vereinten Nationen erinnert.

  14. Thomas Hobbes, De Cive, Kap. VIII; über die Angst als Grundlage des Gesellschaftsvertrags vgl. Andreas Vasilache, Hobbes, der Terrorismus und die Angst in der Weltpolitik, in: WeltTrends, Nr. 51, Sommer 2006, S. 147 - 161.

  15. Vgl. Ferdinand Tönnies, Thomas Hobbes. Leben und Lehre, Stuttgart 1971, S. 224.

  16. Thomas Hobbes, Leviathan. Review and Conclusion, London (Reprint) 1985, S. 721.

Dr. iur.; Juristin und Soziologin, Lehrbeauftragte an der Universität Potsdam.
E-Mail: E-Mail Link: toennies@uni-potsdam.de