Einleitung
Bürgerkriege in Afrika stellen die internationale Staatengemeinschaft vor große Herausforderungen. Sehr häufig überlagern sich diverse transnationale, nationale und lokale Konfliktkonstellationen. Die Analyse der gesellschaftlichen Strukturen kann die Bedeutungszusammenhänge erklären, in die Gewaltdynamiken, Handlungslogiken und Gewaltlegitimationen der Milizionäre eingewoben sind. Von zentraler Wichtigkeit sind Maskulinitätskonzepte sowie Geschlechter- und Generationenkonflikte. Eine Auseinandersetzung mit diesen Kontexten bietet neue Perspektiven für die Kontroversen über "Neue Kriege".
Forschungskontroversen
Nach einer anfänglichen Euphorie über das Konzept der "Neuen Kriege" entwickelte sich alsbald eine wissenschaftliche Debatte über Begriffe und Modelle zu den Entstehungsbedingungen, Ursachen, Formen und Gewaltpraktiken in Kriegen. Obwohl die Kritiker ähnlich wie die Befürworter vorrangig Politikwissenschaftler sind, fordern sie, den Meinungsstreit nicht auf Kennzeichen wie Entstaatlichung, Privatisierung, Asymmetrie und Kommerzialisierung zu beschränken. Einige schlagen vor, sowohl die spezifische Kombination dieser Merkmale "Neuer Kriege" als auch das gesamte Konzept zu hinterfragen. So soll der Fokus auf die Multidimensionalität von Kriegen und auf kriegerische Gewaltdynamiken ausgeweitet werden, wobei die Wechselwirkungen zwischen ökonomischen und politischen Faktoren sowie den damit verbundenen Handlungslogiken unterschiedlicher Gewaltakteure und Akteursgruppen zu erfassen seien.
Diese Vorschläge motivieren dazu, Gesellschaften in Kriegen genauer zu untersuchen und nicht nur von einer anonymen Masse malträtierter Kriegsopfer auszugehen, aus denen höchstens die Kindersoldaten hervorstechen. Diese werden häufig als homogene Gruppe und als passive Opfer skrupelloser Warlords dargestellt. Die Realität ist aber vielerorts weitaus komplexer und paradoxer, zumal es sich keineswegs nur um Kinder, sondern vor allem um Jugendliche handelt, die sowohl Gewaltopfer als auch Täter sind und von denen sich viele wegen ihrer Macht oder des Zwangs zu töten als Erwachsene verstehen.
Das betrifft auch zahllose Mädchen, die als Sex-Sklavinnen zwangsrekrutiert werden und sich an Folterungen und Morden beteiligen müssen. Die aktuelle Geschlechterforschung leistet wichtige Beiträge zur kontextspezifischen Analyse solcher Gegensätze, die Idealisierungen von Frauen als Friedensstifterinnen und Geschlechterstereotypen von Männern als Killern widersprechen.
Sierra Leone - Spielball von Warlords und Diamantenhändlern
Der Erkenntnisgewinn dieser Forschungsansätze soll hier am Beispiel Sierra Leones illustriert werden. Ein Grund für die Wahl dieses Landes ist der aktuelle Anlass, dass sich Charles Taylor, der frühere Warlord und Präsident Liberias, derzeit in Den Haag vor dem UN-Sondertribunal zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in Sierra Leone verantworten muss. Taylor wird beschuldigt, den Bürgerkrieg in Sierra Leone (1991 bis 2002) von Liberia aus angezettelt zu haben. Die Anklageschrift wirft ihm vor, für eine Vielzahl schwerer Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein, darunter die Zwangsrekrutierung von Kindersoldatinnen und -soldaten. Taylor hatte gemeinsam mit einigen Verbündeten aus Sierra Leone Jugendliche für die neu gegründete Guerillaorganisation Revolutionary United Front (RUF) zwangsrekrutiert und militärisch ausgerüstet. Die RUF sollte die demoralisierte sierra leonische Armee außer Gefecht setzen und das Land destabilisieren. Auf diese Weise wollte sich Taylor Zugang zu den dortigen Diamantenminen verschaffen.
In den vergangenen Jahren wurde das Kriegsgeschehen in Sierra Leone vielfach von Wissenschaftlern untersucht - allerdings weniger wegen der Kindersoldaten, sondern vor allem um den politikwissenschaftlichen Erklärungswert des Modells der "Neuen Kriege" zu prüfen. Schließlich tummelten sich in diesem von Staatszerfall, massiver Korruption, schamloser Ausbeutung der Diamantenminen, extremer Armut und sozialer Ungleichheit geprägten Land nicht nur kleinere und größere Warlords. Die Szene beherrschten auch zahlreiche Söldner international agierender Sicherheitsfirmen wie Executive Outcomes aus Südafrika oder Sandline International aus Großbritannien, multinationale Minenkonglomerate und ukrainische Waffen- und libanesische Diamantenhändler, die sowohl mit den Rebellen als auch mit der sierra leonischen Regierung gute Geschäfte machten - allen internationalen Sanktionen und Handelsembargos zum Trotz. Die internationale Öffentlichkeit wurde erst aufgeschreckt, als im November 2001 Berichte auftauchten, wonach neben den Milizen im Libanon auch Al-Qaida in den Diamanten- und Waffenhandel involviert war.
Diese Speerspitzen global agierender krimineller Netzwerke waren in guter Gesellschaft mit ECOMOG-Truppen
Die in diesem Konflikt zu Tage tretende Gewaltbereitschaft war verstörend und führte zu vorschnellen Urteilen über Afrika als immerwährendem Hort der Anarchie und Barbarei - Vorstellungen, die unter anderem auch die US-amerikanische Afrikapolitik im Vorfeld des Genozids in Ruanda beeinflussten.
Gescheiterte Demokratisierung
Während sich in vielen Teilen des afrikanischen Kontinents Anfang der 1990er Jahre Demokratisierungsbewegungen erfolgreich durchsetzten und die allgemeine Aufbruchstimmung insbesondere die Hoffnungen junger Menschen auf eine bessere Zukunft beflügelte, blieben den Jugendlichen in Sierra Leone grundlegende Veränderungen zu ihren Gunsten versagt.
Korrupte Regierungen trieben das rohstoffreiche Land in den ökonomischen Ruin und unternahmen nichts für den Aufbau oder Erhalt staatlicher Strukturen, die Infrastruktur sowie das Bildungs- und Gesundheitssystem verrotteten. Unter den Verhältnissen litten vor allem Kinder und Jugendliche; so war Sierra Leone über Jahre Spitzenreiter in den international vergleichenden Statistiken zu extremer Armut und zur Kinder- und Müttersterblichkeit. Gleichzeitig sorgten die Diamantengeschäfte für märchenhafte Gewinne, die allerdings am Staatshaushalt vorbei in die Taschen einiger weniger flossen.
Die Situation der ohnehin schon verarmten Landbevölkerung verschlechterte sich weiter, als die sierra leonische Regierung in den 1980er Jahren im Rahmen der vom internationalen Weltwährungsfond verhängten Strukturanpassungsmaßnahmen staatliche Dienstleistungen nahezu einstellte. Währenddessen brachen die Preise für Exportgüter wie Kaffee und Kakao auf dem Weltmarkt ein. Vor allem junge Menschen wurden jeglicher Zukunftsperspektiven beraubt. So war es für die RUF in den Anfangsjahren vergleichsweise einfach, junge Männer mit vagen Versprechungen auf ein besseres Leben zum Kampf gegen die korrupte Regierung zu mobilisieren.
Macht alter Männer
In ländlichen Gebieten waren junge Männer in jeder Hinsicht von der Gunst alter und einflussreicher Familienoberhäupter abhängig. Dies betraf vor allem den Landzugang und die Eheschließungen. Beides waren Grundvoraussetzungen für die gesellschaftliche Anerkennung als vollwertiger erwachsener Mann. Oft mussten sich die Jungen jahrelang auf den Feldern wohlhabender Landbesitzer verdingen und alte Männer heirateten junge Mädchen, mit denen junge unverheiratete Männer bereits geheime Liebesbeziehungen aufgebaut hatten. Oft lautete die Strafe für solchen Ehebruch: Jahrelange Zwangsarbeit auf den Feldern der Alten oder das Verbot, überhaupt eine Ehe schließen zu dürfen.
Für Konflikte zwischen Männern unterschiedlichen Status' und Alters sorgte auch die Tatsache, dass alle männlichen Jugendlichen eine mehrmonatige Initiation durchlaufen mussten, die als weitere Voraussetzung für die Anerkennung als Erwachsene galt. Alle Initianten wurden beschnitten und als rangniedrige Mitglieder in Lokalgruppen des traditionellen Männerbundes Poro aufgenommen, der weit verbreitet und politisch sehr einflussreich war. So mutmaßte die politische Elite in der sierra leonischen Hauptstadt Freetown, dass einzelne Poro-Leiter in politische Morde verwickelt waren. Poro-Leiter galten als Herren über Leben und Tod und als Vermittler zwischen Menschen- und Geisterwelt. Diese Macht nutzten die Poro-Leiter zur Disziplinierung junger Männer bei Initiationen. Nur ranghohe Jungen wurden teilweise in das Herrschaftswissen alter Poro-Leiter über die Geister und die Naturkräfte eingeweiht; der Mehrheit der Initianten blieb diese Welt verborgen.
Eigentlich sollten die gemeinsam erlittenen Schmerzen alle Beschnittenen vereinen - so die Ideale des Bundes. Faktisch verstärkte aber die Mannwerdung durch die Initiation und das Spannungsverhältnis zwischen Zugehörigkeit und Exklusion sowie die Hierarchie auf der Basis von Geheimnis und Unwissenheit sowohl die Konflikte zwischen Alt und Jung als auch zwischen Jungen unterschiedlicher Herkunft. Diese Ungleichheiten zwischen Männern resultierten aus der Geschichte des Landes, denn in Sierra Leone wurde über Jahrhunderte das System der Haussklaverei praktiziert, das die gesellschaftliche Schichtung verfestigte. Die sozialen Disparitäten wurden durch den transatlantischen Sklavenhandel intensiviert, von dem einzelne ranghohe lokale Autoritäten profitierten.
Die Entdeckung großer Diamantenvorkommen in den 1930er Jahren ermöglichte jungen, sozial marginalisierten Männern nur begrenzt ein besseres Leben, denn in den Diamantenminen etablierten lokale Landbesitzer rasch neue Ausbeutungsverhältnisse. Eheschließungen blieben für sie ein Problem, jedoch bauten die jungen Diamantenschürfer Beziehungen mit jungen Frauen auf, die vor alten gewalttätigen Ehemännern geflohen waren. Deren Macht und der ihrer älteren Mitfrauen in polygamen Ehen hatten sich die jungen Frauen unterzuordnen.
Dem Poro-Männerbund entsprach bei den Frauen der traditionelle Sande-Bund, der dafür sorgte, dass alle Mädchen genital beschnitten wurden und ihnen im Rahmen von vorehelichen Initiationen vermittelte, die soziale Hierarchie fraglos zu akzeptierten.
Geschlechterhierarchien in der RUF
Wie in vielen anderen Guerilla-Kriegen wurden die Kombattantinnen vor allem für Trägerdienste, Nachrichtenübermittlung, Spionage, Plünderungen, Folterungen von Gegnern, Versorgungsleistungen und die Pflege von Verwundeten eingesetzt. Zwar waren sie bewaffnet und auch immer wieder an Angriffen beteiligt, doch blieben ihnen militärische Führungsfunktionen mehrheitlich vorenthalten. Trotz ihrer sozialrevolutionären Parolen war der in der sierra leonischen Politik verbreitete Klientelismus auch für die RUF strukturprägend. Folglich verhielten sich die fast ausnahmslos jugendlichen Kommandanten wie mächtige alte Männer. Häufig übernahmen besonders gewaltbereite Kindersoldaten Führungsposten. Als neue Herren über Leben und Tod vertrieben oder ermordeten sie mancherorts die Leiter des Poro-Männerbundes. Allerdings befolgten sie bei wichtigen strategischen Entscheidungen die Anweisungen der Warlords und deren Hintermänner, die sie mit Waffen, Munition und Drogen versorgten. Während die RUF die Altershierarchie zwischen Männern durchbrach und vorgab, gerade sozial marginalisierten Jugendlichen zu helfen, schrieb sie gleichzeitig patriarchale Geschlechterverhältnisse fest.
So nahm die RUF Frauen und Mädchen als Sex-Sklavinnen gefangen; manche von ihnen erklärten die Kommandanten zu "Bush-Wives", also zu Ehefrauen. Wie die alten, einflussreichen Männer bauten sie polygame Haushalte auf, wobei sie auf die Hierarchie unter den Frauen achteten. Diese Rangfolgen erschwerten die Solidarität zwischen den Frauen und Mädchen. Die weniger privilegierten unter ihnen wurden als Sex-Sklavinnen benutzt, um den Zusammenhalt der Kombattanten zu festigen und sie für erfolgreiche Kampfeinsätze zu belohnen. Um den Massenvergewaltigungen zu entgehen und ihre Existenz zu sichern, versuchten einige junge Mädchen, den vergleichsweise bevorzugten Status als "Bush-Wife" zu erwerben. Jedoch war dieser Status fragil, weil etliche Kämpfer ihre Partnerinnen verstießen oder bei Gefechten starben.
Bei Überfällen auf Dörfer wurden Mädchen und junge Frauen oft öffentlich vergewaltigt und anschließend zwangsrekrutiert. Weibliche Familienangehörige angeblicher Feinde wurden bevorzugt malträtiert. Durch die öffentlichen (Massen)Vergewaltigungen griffen die Täter das maskuline Selbstbild der jeweiligen männlichen Familienangehörigen an, die in ihrer Wehrlosigkeit als Versager verhöhnt wurden. RUF-Kämpfer vergewaltigten auch Männer, um sie zu entmännlichen. Ebenso wurden sie gelegentlich von RUF-Kombattantinnen sexuell misshandelt. So war sexualisierte Gewalt eine verbreitete Kriegstaktik, um den familiären und sozialen Zusammenhalt der jeweiligen Feinde langfristig zu brechen. Dazu ordneten RUF-Kommandanten auch Inzesthandlungen an, die als absolutes kulturelles Tabu und als Verrat an den Ahnen galten. In der Folge hatten die dazu gezwungenen Jungen, die anschließend als RUF-Kämpfer zwangsrekrutiert wurden, keine Chance, zu ihren Familien zurückzukehren. Während der langen Kriegsjahre wurden sie selbst zu Gewaltakteuren, wobei die RUF als Sozialisationsinstanz wirkte.
Kriegsende und Nachkriegsentwicklungen
Die RUF hatte gegenüber der sierra leonischen Armee leichtes Spiel. Während des Krieges kam es wiederholt zu Putschen und etliche Soldaten wechselten mehrfach die Fronten. Der lukrative Diamantenschmuggel verschaffte der RUF zudem gute Einnahmen. Wiederholt scheiterten Friedensverhandlungen und die internationale Staatengemeinschaft unternahm jahrelang keine Anstrengungen zur Konfliktbeilegung. Erst im Oktober 1999 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1270 als Grundlage für die UNAMSIL-Friedensmission mit zunächst 6000, später über 17 000 Blauhelmsoldaten. Etliche von ihnen trumpften in ihrer Freizeit mit besitzergreifendem Sexualverhalten gegenüber der lokalen männlichen Bevölkerung auf, was vor allem junge Männer als Affront wahrnahmen.
Zahllose Frauen und Mädchen, die vergewaltigt worden waren, wurden von ihren Familien fortgeschickt. Vor allem die männlichen Verwandten wollen nicht an das eigene Versagen erinnert werden. Kinder, die bei den Vergewaltigungen gezeugt worden waren, wurden als Bedrohung der familiären Erbfolge wahrgenommen.
Die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft wurden mehrheitlich enttäuscht. Während der Demobilisierung und Reintegration wurde es versäumt, gewaltgeprägte Männlichkeitsvorstellungen zu ändern. Zahllose demobilisierte Kombattanten nutzten Gewalt weiterhin als Machtbeweis - insbesondere gegenüber Frauen. Mancherorts eignen Vertreter der alten Elite sich Entwicklungsgelder an, weil Hilfsorganisationen in Unkenntnis der lokalen Hierarchien mit ihnen kooperieren. So sind Nepotismus und Korruption auch beim Wiederaufbau staatlicher Institutionen erneute Strukturprobleme. Nur einzelne zivilgesellschaftliche Gruppen prangern die Fortsetzung von Machtmissbrauch und Gewalt an. Sie haben aber einen schweren Stand.
Die übereilt eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission und das Sondertribunal trugen nur ansatzweise zur erhofften Aufdeckung der Gräueltaten oder zur Bestrafung von Kriegsverbrechern bei. Bloß wenige geschlechtsspezifische Gewaltakte wurden strafrechtlich verfolgt. Mangels Alternativen sind viele junge Männer gezwungen, sich als schlecht bezahlte Diamantenschürfer zu verdingen, als Kleinkriminelle in den Städten ihre Existenz zu sichern oder als Söldner in einem Nachbarland weiterzukämpfen.
In Sierra Leone zeigt sich beispielhaft, wie notwendig es ist, sexualisierte Kriegsgewalt umfassend aufzuarbeiten und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Zudem müssen neue, kulturell angepasste Foren für Männer unterschiedlichen Alters und Status' etabliert werden, um Maskulinität jenseits besitzergreifender Sexualität, umfassender Dominanzansprüche, Gewaltbereitschaft und ausgeprägter Hierarchien zu definieren.
Das Fallbeispiel Sierra Leone illustriert auch, dass detaillierte Analysen der Geschlechterhierarchien, die insbesondere die Machtverhältnisse zwischen Männern untersuchen und diese systematisch mit gesellschaftlichen Strukturen, historischen Kontexten sowie mit politischen und ökonomischen Entwicklungen in Beziehung setzen, neue Impulse für ein differenziertes Verständnis von Kriegen und die Debatte über "Neue Kriege" geben können.