Einleitung
Die Geschichte der Moderne ist zugleich eine Geschichte der Kulturkritik der Moderne.
Integration ist daher selbst dann ein Thema moderner Gesellschaften, wenn es nicht bloß um die Frage nach der Eingliederung von Menschen mit Migrationshintergrund geht. Als vor etwa zehn Jahren Wilhelm Heitmeyer zwei Bücher unter den programmatischen Titeln "Was hält die Gesellschaft zusammen?" bzw. "Was treibt die Gesellschaft auseinander?" herausgegeben hat,
Damit wären wir bei beidem angelangt: bei der Frage nach der nötigen Kompetenzstruktur des Einzelnen, also bei einer genuin pädagogischen Frage, und bei der Rolle der Kultur in diesem Prozess. Und damit sind zugleich die beiden entscheidenden Horizonte abgesteckt, wenn man kulturelle Bildung in ihrer Bedeutung für sozialen Zusammenhang betrachtet.
Doch was versteht man überhaupt unter kultureller Bildung, die so etwas leisten könnte? Gibt es entsprechende Erfahrungen und Belege - oder gehört auch dies zu den unerfüllten Versprechungen der Moderne oder den "Versprechungen des Ästhetischen"?
Was ist kulturelle Bildung?
Der Zusammenhang von Pädagogik und Politik ist nicht neu. Neu ist vielmehr, dass man heute glaubt, beides getrennt voneinander behandeln zu können. Es gehört zur Tradition der europäischen Geistesgeschichte, die Frage nach der gelingenden politischen Gestaltung des Gemeinwesens mit der Frage nach den dazu notwendigen individuellen Kompetenzen zu verbinden. Deshalb lassen sich etwa profunde Aussagen zur Bildung in bedeutenden staatstheoretischen Schriften finden.
Zwei Beispiele: Platon befasst sich in den Dialogen "Der Staat" und in den "Gesetzen" immer wieder mit pädagogischen Fragen, wobei als Bildungsmittel Musik und Gymnastik eine wichtige Rolle spielen. Über 2000 Jahre später schreibt Wilhelm von Humboldt seine "Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen", ein Grundbuch des politischen Liberalismus, und liefert hierbei die vielleicht bedeutendste Bestimmung des Bildungsbegriffs: "Der wahre Zweck des Menschen (...) ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. In dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedeutung."
Pädagogik, so ein erstes Zwischenfazit, kann nur in Verbindung mit Politik gedacht werden. "Bildung" als einer der Kernbegriffe der Pädagogik enthält bis heute das Humboldt'sche Versprechen auf Freiheit und Emanzipation in einer wohlgeordneten Gesellschaft. Daran ist gerade angesichts der schlechten PISA-Ergebnisse zu erinnern. Bildung kann ein Medium zur Herstellung von sozialem Zusammenhalt sein. Bildung, so der französische Soziologe Pierre Bourdieu in den 1960er Jahren, ist aber oft genug auch ein wirkungsvolles Instrument der Desintegration.
Doch was genau ist "Bildung"? Unter grober Vernachlässigung der gerade in Deutschland so reichen Tradition bildungsphilosophischer Erwägungen genügt es hier, Bildung als Lebenskompetenz zu verstehen.
Doch was meint dann "kulturelle Bildung", wenn "Bildung" bereits auf Kultur bezogen ist? Mit diesem Begriff soll offenbar ein besonderer Akzent auf ein bestimmtes gesellschaftliches Feld gelegt werden, auch wenn die entsprechenden Kompetenzen und Dispositionen bereits im Bildungsbegriff enthalten sind. Zudem geht möglicherweise nicht jeder von einem sozial sensiblen Bildungsbegriff aus, so dass der Hinweis darauf, dass eine politische, soziale, ökonomische und kulturelle Handlungsfähigkeit zur gebildeten Persönlichkeit gehören, nicht unwichtig ist.
In einem ersten Anlauf ist kulturelle Bildung ein Sammelbegriff für alle pädagogischen Umgangsweisen mit den Künsten, mit den Medien, mit Spiel. Dieser Begriff ist offen für neue Entwicklungen. So werden inzwischen Zirkuspädagogik oder die Arbeit mit Kindermuseen dazugezählt. Viele sehen in dem Attribut "kulturell" zudem einen klaren Bezug zur "Gesellschaft". Dabei schwingen durchaus verschiedene Kulturbegriffe mit: Ein anthropologischer Kulturbegriff, der unter "Kultur" die Gemachtheit der menschlichen Welt (einschließlich des Menschen selbst) versteht; ein soziologischer Kulturbegriff, der als gesellschaftliches Subsystem die Bereiche der Künste, der Wissenschaften, der Sprache und der Religion versteht und auf die Wertebasis einer Gesellschaft zielt; ein ethnologischer Kulturbegriff, der die Gesamtheit aller Lebensäußerungen einer Gesellschaft erfasst; und schließlich ein enger Kulturbegriff, der Kultur mit der ästhetischen Kultur und hier vor allem mit den Künsten gleichsetzt. Das einflussreiche Kulturkonzept der UNESCO versucht, alle genannten Dimensionen zu integrieren.
Je nach Verständnis von "Kultur" ist also die systematische Verbindung von kultureller Bildung und sozialem Zusammenhalt offensichtlich. Vielleicht irritiert der soziale und politische Bezug bei den Künsten am meisten. Daher im Folgenden einige Anmerkungen dazu.
Wie politisch ist Kunst?
Gerade in Deutschland führt die in der Überschrift genannte Frage immer wieder zu heftigen Debatten. Sehr schnell wird von der "Autonomie der Kunst" gesprochen. Das Problem hierbei ist, dass es vermutlich kaum einen anderen Topos in der deutschen Sprache gibt, der in ähnlicher Weise ideologisch so aufgeladen ist wie jener von der Kunstautonomie. Dass ästhetische Prozesse wesentlicher Teil der Menschwerdung sind und hierbei - auch als Motoren der Entwicklung - eine wichtige Rolle gespielt haben, ist unstrittig.
Schiller übernahm diese Grundidee von Kant, wendete sie jedoch gleich ins Politische: Künste seien in der Tat ein Feld, in dem der Mensch Freiheit in der Gestaltung erleben könne. Sie seien quasi eine Oase, in der man entlastet sei von den Anforderungen des Alltags. Diesen Genuss an Freiheit - zunächst nur in dem abgegrenzten Bereich der Künste - erwecke im Menschen den Wunsch, Freiheit auch in anderen Gesellschaftsfeldern durchzusetzen. Die Dialektik Schillers besteht also darin, dass gerade eine zweckfreie "autonome" Kunst für einen politischen Zweck nützlich ist.
Der weitere Verlauf im 19. Jahrhundert war allerdings frustrierend. Alle Hoffnungen auf eine ähnliche politische Entwicklung wie in anderen Ländern scheiterten spätestens mit der misslungenen Revolution von 1848. Daher suchte sich das (Bildungs-)Bürgertum ein anderes Feld der Identitätsentwicklung. So entstand eine reichhaltige Theaterlandschaft, wurden Museen, Konzert- und Opernhäuser gebaut.
Kulturelle Bildung und sozialer Zusammenhalt heute
Heute muss man davon ausgehen, dass es in dem Arbeitsfeld "kulturelle Bildung" eine ganze Reihe von Bezeichnungen gibt, die nebeneinander verwendet werden, abhängig von den Traditionen der Anbieter: musische und musisch-kulturelle Bildung, Soziokultur, ästhetische und künstlerische Bildung, (Jugend-) Kulturarbeit etc. Gelegentlich werden dabei durchaus vergleichbare Angebote mit unterschiedlichen Begriffen, gelegentlich aber auch sehr verschiedene Praxen mit dem gleichen Begriff bezeichnet. Insgesamt dürfte die ideologiekritische Phase der späten 1960er Jahre an keiner Einrichtung wirkungslos vorübergegangen sein, so dass eine soziale und oft genug auch eine politische Dimension von Kulturarbeit mitgedacht wurde. Kulturelle Bildungsarbeit findet - im Hinblick auf Kinder und Jugendliche - in zumindest drei Politikbereichen statt: in der Jugend-, der Schul- und Bildungs- und in der Kulturpolitik.
In der Jugendpolitik bilden das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), die entsprechenden Ausführungsgesetze auf Länderebene und die sich hierauf stützenden Förderprogramme die maßgebliche Grundlage. Die Berücksichtigung der sozialen Dimension und insbesondere des sozialen Zusammenhalts ist eine klare Leitlinie in diesem Feld, die bereits im ersten Paragraphen des KJHG zum Ausdruck kommt: Dort geht es nicht um den isolierten Einzelnen und seine Fähigkeiten, sondern um eine "gemeinschaftsfähige Persönlichkeit". In der Praxis ist dies in allen Kulturprojekten im Kontext der Jugendförderung auch zu spüren. Dieses Selbstverständnis drückt sich etwa in dem "Kompetenznachweis Kultur" der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung aus. Dieser ist ein Bildungspass für nicht-formelle Bildung, der unter anderem soziale Kompetenzen, die in Kulturprojekten erworben wurden, erfassen und dann auch bestätigen soll. Grundlage ist ein Konzept von Schlüsselkompetenzen, wie es ähnlich auch in dem Projekt "DeSeCo" (Definition and Selection of Key-Competencies) der OECD (Organisation für Economic Cooperation and Development; verantwortlich etwa für PISA) erarbeitet wurde und bei dem soziale Kompetenzen eine wichtige Rolle spielen.
Auch eine ökonomische Sichtweise geht in diese Richtung. So hatte die OECD etliche Jahre die "soziale Kohäsion" in der Gesellschaft auf der Tagesordnung, weil man davon ausging, dass wirtschaftliches Wachstum (das zentrale Ziel der OECD) nur in einer Gesellschaft ohne größere Spannungen gelingen kann. In der Bildungs- und Schulpolitik liegt der Fall ähnlich wie in der Jugendpolitik. Man möge nur einmal die Präambeln bzw. Zielparagraphen der Schul- oder Weiterbildungsgesetze der Länder lesen, die sich von den Bildungs- und Erziehungszielen nicht sonderlich vom KJHG unterscheiden. Auch in der Schulpädagogik wird Schule als spezifischer sozialer Ort verstanden, oft genug auch in Anschluss an den amerikanischen Philosophen und Demokratietheoretiker John Dewey als embrionic society, wo viel Energie in die Einübung von Regeln eines gedeihlichen Miteinanders gelegt wird. Das Problem ist natürlich, dass dies in der Praxis nicht immer gelingt.
In der Kulturpolitik ist es im Grundsatz ähnlich. Doch muss man davon ausgehen, dass die seinerzeit von Albrecht Göschel nachgewiesene Abfolge unterschiedlicher Verständnisweisen von Kultur (im Zehnjahresabstand erfolgt ein Wechsel) auch die Beziehung zum Sozialen betrifft.
Natürlich polarisierte ein solcher Ansatz. Denn es gab und gibt genügend Kulturschaffende und -einrichtungen, die sich lieber an der "Autonomie der Kunst" orientieren wollen und die in dem social-coherence-Programm eine unzulässige Instrumentalisierung von Kunst verstanden. Zudem gab es heftige Zweifel am Erfolg dieses Ansatzes. In dieser Situation spielten ambitionierte Evaluationsprojekte unter der Leitung von Francois Matarasso eine Rolle.
Aktuelle Probleme
Es dürfte heute auf der theoretischen Ebene unstrittig sein, dass es eine deutliche Relation zwischen der Bildung des Einzelnen und der sozialen Ordnung gibt. Auch im Verständnis der meisten Praktiker in diesem Feld hat Kulturarbeit eine soziale und eine individuelle Dimension: Kulturarbeit bedeutet auch soziales Lernen. Bei Praxisformen wie Musik, Tanz, Theater, Zirkus, die ohnehin gruppenförmig ablaufen, wird dies bereits durch die Logik der Kunstform nahegelegt. Es gibt (wie dargestellt) sogar Erfassungsmöglichkeiten und empirische Belege, dass dies sowohl im Hinblick auf den Einzelnen als auch auf die Gruppe und Gesellschaft funktioniert.
Doch gibt es eine Reihe von Wermutstropfen. Die Künste und speziell die künstlerische Förderung von Menschen wirken nicht per se sozial. So lässt sich oft genug dort eine Parallele zwischen Leistungssport und Kunst ziehen, wo es um Wettbewerbe und Leistungsvergleiche geht. Daher sind viele Pädagogen skeptisch, ob die Arbeitsformen in den professionellen Künsten auch die richtigen Arbeitsformen in der Bildungsarbeit sind. "Kultur" insgesamt und speziell die Künste sind zudem nicht ohne weiteres Medien der Integration, sondern sie sind auch Medien der Unterscheidung. Zwar liest oder hört man oft genug, dass etwa die (nicht verbale) Musik universelles Verständigungsmittel quer durch alle Kulturen sei. Dass dies so nicht richtig ist, lässt sich leicht feststellen. Dabei muss man sich mit seinem mitteleuropäisch geprägten Ohr noch nicht einmal mit Musikkulturen anderer Länder auseinandersetzen, es genügt oft genug bei Erwachsenen eine Begegnung mit den Hits ihrer Kinder oder der Nachbarn.
Die Macht der Unterscheidung gilt also nicht nur zwischen Kulturen aus verschiedenen Ländern, sondern bereits im eigenen Land. Hier ist erneut an Pierre Bourdieu zu erinnern, der in groß angelegten empirischen Studien gezeigt hat, dass es nicht nur starke ästhetisch-kulturelle Prägungen unterschiedlicher Milieus in der Gesellschaft gibt, sondern dass über die jeweiligen ästhetischen Präferenzen als Teil des Habitus ihrer Träger zugleich wichtige Entscheidungen über die Möglichkeit zu politischer Teilhabe getroffen werden.
Trotz dieser (alten) Erkenntnis, dass man über Geschmack nicht streiten kann - eben weil jeder das Recht auf eigene ästhetische Präferenzen hat, funktioniert natürlich Kulturarbeit in der Praxis auch in sozialer Hinsicht. Es gibt die Möglichkeit, Menschen verschiedener Generationen, Geschlechter oder Herkunftsfamilien miteinander in Kontakt zu bringen. Deshalb spielt Kulturarbeit etwa im internationalen Jugendaustausch eine wichtige Rolle. Weiß man um die trennende Kraft von Kunst, dann lässt sich doch eine Atmosphäre inszenieren, in der man sich auf Fremdes einlassen kann. Kant und auch Schiller hatten natürlich Recht damit, dass eine handlungsentlastete Atmosphäre große Bildungswirkungen ermöglicht. Vor diesem Hintergrund ist also der Slogan der UNESCO, "Kulturelle Bildung für alle", gut zu begründen.
Doch stellt sich dann gleich die Frage: Wird dieses Ziel erreicht? Erreichen wir mit dem Kulturangebot alle Bevölkerungsgruppen? Und natürlich heißt die Antwort: Nein. Es gibt nämlich nicht nur das Problem der Bildungsungerechtigkeit im allgemeinbildenden Schulwesen, so wie es PISA noch einmal verdeutlicht hat, es gibt das Problem ungleicher Zugangschancen auch in Hinblick auf kulturelle Teilhabe. Dabei ist zu berücksichtigen, dass man sich hierbei nicht mehr auf der Ebene freiwilliger Leistungen bewegt, sondern sich vielmehr im Wirkungsbereich verbindlicher völkerrechtlicher Abmachungen befindet, die ein Recht auf Kunst, Spiel und Bildung formulieren (u.a. Kinderrechtskonvention, Pakt für soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklung, Konvention zur kulturellen Vielfalt).
Sozialer Zusammenhalt ist also möglich und kann durch Kulturarbeit gefördert werden. Allerdings sind hierbei auch die Potenziale zur Unterscheidung und Trennung in Rechnung zu stellen. Und es gibt das bislang nur unbefriedigend gelöste Problem gleicher Zugangsmöglichkeiten zu Bildung, Kunst und Kultur.