Einleitung
Was haben Wolf Graf Baudissin (1907-1993), einer der "Väter der Inneren Führung", und Carl von Clausewitz (1780-1831), einer der größten Strategietheoretiker der Geschichte, gemeinsam? Beide gingen von einem ganzheitlichen, Politik, Gesellschaft, Geschichte und Ethik integrierenden Ansatz aus. Die Wechselwirkungen dieser Kräfte spiegeln sich wider in den Streitkräften und den Kriegsbildern. Beide sind Teil dieses dynamischen Beziehungsgeflechts. Innere Führung als Führungsphilosophie und Strukturmerkmal demokratieverträglicher deutscher Streitkräfte muss sich also angesichts eines veränderten Kriegsbildes anpassen und zugleich ihren unverrückbaren Kern bewahren.
Dabei gilt es auch heute die Mahnung Baudissins an die Politik zu beherzigen: "Die Parteien müssen (...) die Clausewitz-These vom politischen Charakter alles Militärischen ernst nehmen."
Bewaffnete Konflikte und die damit verbundenen Kriegsbilder haben sich drastisch verändert. Das stellt die Bundeswehr als "Armee im Einsatz" und die politische Führung vor große Herausforderungen und hat zugleich gravierende Auswirkungen auf das Markenzeichen der Bundeswehr - die Innere Führung.
Innere Führung während des Ost-West-Konflikts
Die Frage nach dem vorherrschenden Kriegsbild, also "nach Erscheinungsform, Intensität, Ausdehnung und damit nach den Möglichkeiten, Mitteln und Zwecken - kurz, dem Wesen eines kommenden Krieges",
Dem Leitbild des "Bürgers in Uniform" liegt das Postulat der Verträglichkeit von freiheitlich-demokratischer Ordnung und liberaler pluralistischer Gesellschaft einerseits und hierarchisch strukturierten, dem Prinzip von Befehl und Gehorsam unterworfenen Streitkräften andererseits zu Grunde. Der Soldat muss Staatsbürger sein, "um seiner Aufgabe gewachsen zu sein".
Aus dieser Traditionslinie und dem nuklearen Kriegsbild leitete Baudissin auch das Leitbild des "Soldaten für den Frieden" ab. Ein kritisch denkender, mit Urteilskraft und fester moralischer Basis ausgestatteter Soldat, der sich als Teil einer rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung begreift, soll gewappnet sein gegen totalitäre und freiheitsbedrohliche Sirenengesänge. Er ist befähigt zu erkennen, dass es angesichts des neuen Kriegsbildes "mit seinen eigengesetzlichen, alles vernichtenden Kräften (...) kein politisches Ziel (gibt), welches mit kriegerischen Mitteln angestrebt werden darf und kann - außer der Verteidigung gegen einen das Leben und die Freiheit zerstörenden Angriff".
Die Demokratisierung der deutschen Streitkräfte hatte eine staatsrechtliche und eine gesellschaftspolitische Seite. Hauptsächlich ging es darum, die Kontrolle über die Streitkräfte, den Primat der Politik und die Einbindung der Armee in die demokratisch verfasste Bundesrepublik sicherzustellen. Dies geschah durch die entsprechenden Verfassungsartikel, etwa durch Art. 115a GG, wonach der Bundestag den Verteidigungsfall feststellt; Art. 53a, der die Kontrolle des Bundestags auch während des Verteidigungsfalls regelt; Art. 115b, der die politische Ausübung der Befehls- und Kommandogewalt festlegt; Art. 87a, der die Aufstellung und Befugnisse der Streitkräfte regelt und letztere auf die Verteidigung einschränkt; Art. 45a, der bestimmt, dass der Verteidigungsausschuss auch die Rechte eines Untersuchungsausschusses wahrnehmen kann; oder Art. 45b über die Berufung eines Wehrbeauftragten zum Schutz der Grundrechte und als Hilfsorgan des Bundestags bei der Ausübung seiner parlamentarischen Kontrolle.
Bereits die Präambel des Grundgesetzes benennt den politischen Auftrag, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen". Die Grundrechte gelten auch für die Soldaten, wenngleich einzelne von ihnen gemäß Art. 17a durch Gesetze für Zwecke der Verteidigung eingeschränkt werden können. Wegen ihrer Selbstbindung müssen noch drei weitere Grundgesetzartikel erwähnt werden: Art. 24 erlaubt es dem Bund, sich zur Wahrung des Friedens einem kollektiven Sicherheitssystem einzuordnen und hierbei in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einzuwilligen; Art. 25 erhebt die allgemeinen Regeln des Völkerrechts in unmittelbaren Gesetzesrang; Art. 26 verbietet die Vorbereitung und Führung eines Angriffskrieges.
Die gesellschaftspolitische Seite der Demokratisierung der Streitkräfte muss als zäher und konfliktreicher Prozess beschrieben werden. 1950 schlug mit der "Himmeroder Denkschrift" die Geburtsstunde des "Inneren Gefüges", später Innere Führung genannt. Dass sie überhaupt das Licht der Welt erblicken konnte, lag an vielen Faktoren, etwa dem moralischen Versagen der deutschen Eliten während des Nationalsozialismus, dem Versuch, deutsches Militär wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder akzeptabel zu machen, der Kontrolle der Siegermächte, dem Kalten Krieg und der antimilitaristischen Grundhaltung großer Bevölkerungsteile. Gleichwohl stießen die Ideen Baudissins bei ihrer Umsetzung auf teils heftigen Widerstand, brachen sie doch radikal mit den Vorstellungen von Traditionalisten und Technokraten. Die einen hielten der Inneren Führung - oftmals diffamiert als "Inneres Gewürge" - die vermeintlich "ewig gültigen" Werte des Soldatentums als einer Profession sui generis entgegen, die anderen reduzierten sie funktionalistisch auf eine Technik zur angemessenen Menschenführung.
Kriegsbild im Zeitalter der "postinternationalen Beziehungen"
Baudissin betonte, dass es in Umbruchzeiten besonders schwierig ist, "ein zutreffendes Bild eines möglichen Krieges zu entwerfen".
In den postinternationalen Beziehungen hat die militärische Gewaltanwendung ihren Charakter verändert. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat es nur eine Handvoll zwischenstaatlicher Kriege gegeben. Der mittlerweile vorherrschende Kriegstyp ist der so genannte low intensity conflict,
Innerstaatliche Konflikte sind zu einem signifikanten Ausdruck des politischen Wandels geworden. Diese Entwicklung hat Einfluss auf die sicherheitspolitische Funktion von Streitkräften. Lautete der Auftrag der Bundeswehr früher primär Landesverteidigung, so dient ihr Einsatz gemäß der offiziellen Sprachregelung heute "dem Ziel aktiver Sicherheitsvorsorge: durch vorbeugende, zeitgerechte Maßnahmen gewaltsame Konflikte zu verhindern, sie einzudämmen und/oder in der Folge eines bewaffneten Konflikts die nachhaltige Stabilisierung und den Wiederaufbau staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen zu unterstützen".
Stabilisierungsoperationen können notwendig sein zur Unterstützung krisenhafter Länder oder Regionen.
Asymmetrische Kriege in Form von Aufstandsbekämpfung sind auf globaler Ebene das dominierende Kriegsbild der Zukunft.
Ob und wie die demokratischen Staaten aus dieser widersprüchlichen Lage herausfinden, ist nicht abzusehen. Zivil-militärische Konzepte der Aufstandsbekämpfung, der vernetzten Sicherheit oder des comprehensive approach werfen große Probleme auf.
Innere Führung im Wandel
Der radikale Wandel des internationalen Umfeldes und das veränderte Kriegsbild haben zwangsläufig Auswirkungen auf die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik. Spätestens mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 sind die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für den Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb des Bündnisgebietes geklärt. Die Bundeswehr ist zur Einsatzarmee geworden. Die Frage ist, wie sich die Innere Führung vor diesem Hintergrund entwickelt hat. Neben der völkerrechtlichen und parlamentarischen Legitimität gelten deren ursprüngliche Ziele weiterhin:
"Legitimation, d.h. Vermittlung ethischer Normen und politischer und rechtlicher Begründungen für den militärischen Auftrag sowie den soldatischen Dienst.
Integration, d.h. Einbindung der Bundeswehr und des Soldaten in Staat und Gesellschaft, Verständnis erzielen für die Aufgaben der Bundeswehr im Bündnis und in Systemen kollektiver Sicherheit sowie Beschränkungen der Unterschiede zwischen Streitkräften und dem zivilen Umfeld auf das für die militärische Auftragserfüllung notwendige Maß.
Motivation, d.h. Stärken der Bereitschaft des Soldaten zur gewissenhaften Erfüllung seiner militärischen Pflichten.
Gestalten der inneren Ordnung, d.h. ihre Ausrichtung an effizienter Ausführung militärischer Aufgaben als auch deren menschenwürdige Umsetzung."
Die Innere Führung hat sich nur allmählich an die einschneidenden Veränderungen angepasst. Zwar kam es bereits drei Jahre nach dem Beitritt der DDR zum Bundesgebiet zur Neufassung der ZDv 10/1. Sie konnte den weltpolitischen Veränderungen aber nicht Rechnung tragen. Das darin vorherrschende Selbstverständnis entsprach eher dem eines funktionierenden Großbetriebs. Angesichts der Aufgabe der Verschmelzung zweier deutscher Streitkräfte ("Armee der Einheit") gab es eine stärkere Betonung der politischen Bildung, von Einsätzen wurde hingegen "nur unspezifisch und eher hypothetisch gesprochen".
Dieses Thema findet sich erst in der neuen, 2008 erlassenen ZDv 10/1. Demnach sollen die Soldaten in den Grundsätzen der Inneren Führung Sicherheit für ihr Handeln finden, denn, so die klare Aussage, "der militärische Auftrag erfordert in letzter Konsequenz, im Kampf zu töten und dabei das eigene Leben und das Leben von Kameraden einzusetzen."
Das veränderte Kriegsbild und der erweiterte Auftrag haben zu vielen Anpassungsschritten genötigt. So wurde die Bundeswehr einem permanenten Transformationsprozess unterzogen. Sie mutierte de facto zu einer Freiwilligenarmee. Im Zentrum für Innere Führung wurden eine zentrale Offiziers- und Unteroffiziersausbildung sowie neue Ausbildungsinhalte für Auslandseinsätze entwickelt. Reintegrationsseminare zur Einsatzvor- und -nachbereitung wurden konzipiert, Lehrinhalte zur Menschenführung im Einsatz den neuen Anforderungen angepasst und Kriseninterventionsteams zur Vermeidung Posttraumatischer Belastungsstörungen ausgebildet. Die Bundeswehr öffnete sich für Frauen, führte Gender-Mainstreaming ein, befasste sich konzeptionell mit Themen wie "Muslime in den Streitkräften" und "Aussiedlerdeutsche in der Bundeswehr" und verstärkte den Stellenwert der politischen Bildung zur Motivation der Soldaten im Einsatz.
Während die Vorschriften zur Inneren Führung also an die Anforderungen des beruflichen Alltags angepasst werden, muss die Frage aufgeworfen werden, ob die Umsetzung des hohen Anspruches des Konzepts überhaupt gelingt. Wie Ende der 1960er Jahre, so erheben sich auch heute kritische Stimmen, die den faktischen Abschied von der Inneren Führung befürchten
Nach eineinhalb Jahrzehnten Einsatzerfahrung wird immerhin von "Gefallenen" gesprochen, das Wort Krieg aber tunlichst vermieden. Deutschland wird zwar seit Jahren am Hindukusch verteidigt, und Art. 5 des NATO-Vertrages ist seitdem in Kraft, aber den Verteidigungsfall gemäß Art. 115a GG will die Bundesregierung nicht ausrufen, unter anderem, weil sich das Kriegsbild radikal geändert hat.
Schlussfolgerungen
Innere Führung ist eine pragmatische Theorie, in der die Wechselwirkungen "zwischen Militär auf der einen und Demokratie, Geschichte und Kriegsbild auf der anderen Seite historisch-systematisch reflektiert werden".
Der traditionelle Typ des Kämpfers ist längst aufgegeben worden, weil er nicht taugt - weder im Ideal noch in den Einsätzen. Der "postmoderne Soldat" ist nicht nur Kämpfer, sondern auch Friedenswahrer, Vermittler, Retter und Helfer. Er sollte geleitet werden von dem Bewusstsein, Teil einer tendenziell universellen Werte- und Risikogemeinschaft zu sein, aber auch erkennen können, wenn er für bloße Interessenpolitik missbraucht wird. Ob es gelingt, einen verantwortungsvollen Soldaten für den Frieden unter den neuen Bedingungen zu prägen, hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt auch von der Beantwortung der friedensethischen Frage, "welches Maß und welche Art von Solidarität Deutschland den jeweils Betroffenen schuldet und was unser Staat, unsere Gesellschaft darüber hinaus leisten können und sich zumuten wollen".