Einleitung
In Firdausis berühmtem Epos "Buch der Könige" aus dem 11. Jahrhundert tötet der Held Rostam in einer Schlacht den jungen Sohrab, ohne zu erkennen, dass dieser sein eigener Sohn ist. An diese Erzählung, die immer wieder auch als politische Metapher gelesen wird,
Iran hat heute eine der jüngsten Bevölkerungen weltweit. 35 Prozent sind junge Menschen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren. Sie stellen etwa 40 Prozent der Stimmberechtigten bei Wahlen und sind die am besten ausgebildete Generation in der Geschichte des Landes.
Zahlreiche in den vergangenen Jahren erschienene journalistische und wissenschaftliche Texte thematisieren bittere soziale Frustrationen junger Menschen im Iran und porträtieren dessen junge Generation zugleich als Avantgarde und Agentin eines ersehnten gesellschaftlichen und politischen Wandels. Die großenteils kulturanthropologisch ausgerichteten Studien präsentieren dabei ein faszinierendes ethnographisches Material, das Einblicke in vielfältige subkulturelle Lebenswelten von jungen Frauen und Männern bietet: die geschilderten Aktivitäten reichen von freizügigen Techno-Parties über konspirative Lektüreseminare bis zu Ashura-Feiern, bei denen die traditionellen Trauer-Rituale zu Parties mit Festival-Atmosphäre umfunktioniert werden. Im Fokus der Untersuchungen stehen großenteils Jugendliche aus den wohlhabenderen Segmenten der modernen städtischen Mittel- bis Oberschichten insbesondere Teherans.
Unklar oder umstritten bleibt zum einen die Frage, ob sich die in den angeführten Studien repräsentierten Einstellungen und Verhaltensmuster auf eine materiell privilegierte und global vernetzte Minderheit beschränken oder inwieweit sie auch Jugendliche aus den ärmeren Schichten und ländlichen Regionen erfasst haben. Kontrovers beurteilt wird zudem die Frage, wie weit Verhaltensweisen, die sich an den Werten und Attributen globaler Konsumkultur orientieren, als widerständig und emanzipatorisch gefeiert werden können.
Im Folgenden werden verschiedene Facetten der sozialen und politischen Situation junger Menschen in Iran in ihren unterschiedlichen sozialen Kontexten skizziert und Potenziale für Unzufriedenheit und Protest benannt. Des Weiteren werden komplexe und widersprüchliche Strategien beleuchtet, mit denen die Kinder der Islamischen Republik versuchen, unter schwierigen und repressiven Bedingungen privat und öffentlich Freiräume zu erkämpfen und soziale und politische Handlungsspielräume auszuweiten. Theoretisch orientieren sich die vorgestellten Überlegungen am Konzept der "Sozialen Exklusion".
Soziale Exklusion und enttäuschte Erwartungen
Die iranische Gesellschaft erlebte in den Jahrzehnten nach der Islamischen Revolution von 1979 rasante Transformations- und Modernisierungsprozesse.
Im iranischen Bildungssystem spielt der Concours, die hoch kompetitive Aufnahmeprüfung für die Universitäten, eine zentrale Rolle. Von den 1,5 Millionen Jugendlichen, die jährlich an dieser Universitätseingangsprüfung teilnehmen, erreichen nur etwa 15 Prozent die erforderlichen Ergebnisse, um eine öffentliche oder private Universität zu besuchen. D.h. wenige gewinnen, die meisten verlieren. Im Rahmen eines ideologisch ausgestalteten Quotensystems werden zudem junge Leute bevorzugt, die dem Regime nahe stehen und beispielsweise "revolutionären Organisationen" angehören.
Während in der islamischen Welt Status und Identität von Erwachsenen seit jeher mit früher und genereller Eheschließung verknüpft sind, sehen sich gegenwärtig in Iran wie im gesamten Orient zunehmend mehr junge Menschen gezwungen, die Heirat als Tor zu Unabhängigkeit und sozialem Respekt aufzuschieben. Die Hälfte von ihnen lebt bei den Eltern. Der Prozentsatz von unverheirateten jungen Männern und Frauen im Alter zwischen 25 und 29 Jahren hat sich drastisch erhöht, nämlich von acht auf über 25 Prozent bei jungen Frauen und von 20 auf fast 40 Prozent bei jungen Männern.
Wo die Ambitionen auf gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung blockiert sind und viele der jungen gut ausgebildeten Männer und Frauen nicht heiraten können, da sie über keine feste Anstellung verfügen, sind Enttäuschung und Unzufriedenheit, die sich nicht zuletzt gegen die Regierung richten, weithin die Folge. Kritik an Korruption, Nepotismus und mangelnder Verteilungsgerechtigkeit ist weit verbreitet.
Der schwelenden sozioökonomischen Legitimationskrise sucht die Regierung durch propagandistisch augenfällige wohlfahrtspolitische Maßnahmen zu begegnen. Im Zuge seines Wahlversprechens "den Leuten die Erdöleinnahmen auf den Tisch zu bringen", ließ Präsident Mahmoud Ahmadinedschad beispielsweise gleich zu Beginn seiner ersten Amtszeit den "Imam Reza Wohltätigkeitsfonds" einrichten. Damit sollte jungen Leuten geholfen werden, eine Arbeit zu finden und sich eine Hochzeit und ein Haus leisten zu können. Diese populistische Allokationspolitik zeigte nur bedingt die beabsichtigte Wirkung. Zwar konnte sich Ahmadinedschad in den unterprivilegierten sozialen Schichten weithin erfolgreich als Vertreter der Armen profilieren; gleichzeitig wurde jedoch die zweistellige Inflationsrate weiter angeheizt. Auch der Unmut in den gebildeten modernen Mittelschichten über die Marginalisierung der intellektuellen Elite, die neuerliche Verschärfung sozialer Restriktionen und den reformpolitischen Rückwärtsgang ließ sich damit nicht beschwichtigen.
Das Private ist politisch
Seit ihren Anfängen ist eine strikte Reglementierung des Alltagslebens und der Geschlechterbeziehungen konstitutiv für das religiös-politische Selbstverständnis der Islamischen Republik, die eine "makellose Gesellschaft" schaffen wollte. Eine speziell eingerichtete Moralpolizei erzwang mit dem Auftrag, "das Gute durchzusetzen und das Schlechte zu verbieten" islamische' Verhaltensweisen am Arbeitsplatz, auf den Straßen und in den Parks der Städte. Zentral in diesem Zusammenhang wurden die für Frauen vorgeschriebene "islamische Bedeckung" (hedschab) und die Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum. Seit Ende der 1990er Jahre ließen sich zunehmend weniger Menschen durch die Moralpolizei einschüchtern. Viele Frauen und Männer lehnten die staatliche Reglementierung ihres Alltagslebens unter dem Vorzeichen des Islam ab und favorisierten eine Individualisierung und Privatisierung der Religionsausübung. Insbesondere in den großen Städten überschritten die jungen und gebildeten Angehörigen der modernen Mittelschichten in ihrem Alltagsverhalten unübersehbar die Tugend-Regeln der "Republik der Frömmigkeit"
Während in der Reform-Ära unter Präsident Mohammed Chatami (1997 bis 2005) die sozialen Restriktionen in Alltagsleben, Freizeitverhalten und den sozialen Beziehungen der Geschlechter gelockert worden waren, setzte mit der neokonservativen Machtverschiebung seit 2005 ein moralpolitischer Backlash ein.
Auch der Erfahrungsraum der jungen Generation im Iran ist heute von globalen Dynamiken bestimmt. Hunderttausende haben Kontakte zur iranischen Diaspora. Zahllose Jugendliche, die medial zwischen Teheran und Tehrangeles vernetzt sind, vergleichen die Verheißungen der globalen Konsumgesellschaft und die Bilder jugendlicher Lebenswelten anderswo nicht nur mit den restriktiven Möglichkeiten, die ihre eigene Gesellschaft ihnen bietet, sondern sie leiten aus den wahrgenommenen Ungleichheiten den Impuls ab, gegen ihre Einschränkungen zu rebellieren. Dabei setzen sie nicht zuletzt diejenigen Mittel ein, durch die sie sich subjektiv als Teil des globalen Bezugsrahmens erleben können. Nicht untypisch für viele Jugendliche aus den materiell privilegierteren Schichten Teherans mag folgende Äußerung der jungen Anahita sein: "Oh, es ist die meiste Zeit so langweilig. Wir sehen im Satelliten-Fernsehen, wie frei und glücklich die Jugend in anderen Ländern ist. Aber schauen Sie uns an: wir können uns nicht kleiden, wie wir wollen, können nicht die Musik hören, die uns gefällt, wir können nicht mit einem Jungen sprechen ohne Angst schikaniert oder verhaftet zu werden. Uns wird die ganze Zeit vorgehalten, was gut und was schlecht ist. Und wir machen das Gegenteil!"
Wo Alltagsleben und Freizeitverhalten so weitgehend politisiert sind wie im Iran, nehmen "spielerische Rebellionen" im Hinblick auf Kleidung, Frisur oder bevorzugte Musik, mit denen Jugendliche anderswo sich einfach nur von der Elterngeneration abgrenzen mögen, rasch die Funktion widerständiger kommunikativer Statements gegenüber dem Regime an,
Zahllose Jugendliche quer durch alle Schichten ersehnen nicht unbedingt einen Regimewechsel, aber ein Leben mit mehr Freiheiten, ohne die rigiden sozialen Restriktionen des Alltagsverhaltens und ohne staatliche Sittenwächter. "Ich will mit meiner Freundin Hand in Hand durch die Straßen laufen dürfen", erklärte ein junger Mann während der Demonstrationen im Juni 2009.
Die Basidsch-Jugend
Wie andere Allokationsstaaten
An vorderster Front gegen die angeblichen Bedrohungen der nationalen Sicherheit durch "Feministinnen, Derwische, Teufelsanbeter, Journalisten, Blogger, säkular orientierte Studenten und Intellektuelle und Reformisten"
Während nach Schätzungen der International Crisis Group drei bis sechs Millionen Menschen auf der Lohnliste der Organisation stehen, sind mindestens 200 000 von ihnen aktive Mitglieder, und etwa eine Million könnten in einer Krisensituation mobilisiert werden. Insbesondere in Kleinstädten und in der Provinz bilden die Basidsch mehr eine soziale Gruppierung als eine Miliz. Ein 24-jähriges Mitglied erzählt: "Der einzige Grund, weshalb ich bei den Basidsch bleibe, ist das Geld (95 000 Toman im Monat, entspricht 107 US-Dollar). Viele meiner Freunde bei den Basidsch sind unglücklich mit der Regierung."
Mit ihrer privilegierten Position dehnen sich die Basidsch heute in verschiedene Sphären der Zivilgesellschaft aus, um soziale Unruhen zu unterbinden. Die Aktivistinnen der Basidsch-Schwestern engagieren sich vorrangig für die Wiederherstellung der "moralischen Ordnung" im öffentlichen Raum, gegen "unzureichende Bedeckung" ("bad hedschab") und für ein traditionelles weibliches Rollenverständnis.
Viele Jugendliche aus den wohlhabenden Vierteln Nord-Teherans begegnen ihren Altersgenossen aus dem armen Süden der Hauptstadt mit Herablassung und Verachtung.
Perspektiven
Zweifellos prägen die unterschiedlichen sozialen Zugehörigkeiten der jungen Frauen und Männer ihre jeweiligen politischen Präferenzen und soziokulturellen Orientierungen. Unter den Jugendlichen aus dem ländlichen Raum und den städtischen Armenvierteln finden sich sicherlich mehr Anhänger des Regimes als unter Studierenden aus den modernen Mittelschichten Teherans. Gleichzeitig entziehen sich zahlreiche junge Menschen gängigen und vereinfachenden Zuordnungen. So begegnet Khosravi beispielsweise einem jungem Basidsch, der aus einer wohlhabenden Teheraner Arztfamilie stammt
Die Beispiele verweisen auf eine komplexe und dynamische soziale Realität, in der Jugendliche sich in Iran bewegen und handeln. Angesichts weitreichender sozialer Restriktionen und politischer Repression verabschieden sich viele junge Menschen in die innere oder äußere Emigration. Hunderttausende haben sich der Protestbewegung angeschlossen und versuchen mit demokratischen Mitteln eine freiere Gesellschaft zu erringen. Die Hoffnung, dass die Sehnsucht nach Freiheit sich nicht dauerhaft unterdrücken lässt, beschwört der eingangs erwähnte Song junger Teheraner Demonstranten: "Himmel, lass es regnen auf diese dunkle Nacht/in der sie das Feuer auf Liebende eröffnen/sie antworten uns mit Blei und Kugeln/Aber, Mann mit der Axt: Der Wald stirbt nicht." Realistisch betrachtet mag die Zukunft der Reformbewegung nicht zuletzt auch davon abhängen, wie weit sie überzeugende Antworten auf die sozialen Nöte der jungen und alten Menschen aus den ärmeren Schichten der Bevölkerung findet.