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Bedingungsloses Grundeinkommen als Grundrecht? Geschichte, Gegenwart und Zukunft einer (bisher) utopischen Forderung

Philip Kovce

/ 14 Minuten zu lesen

Im Juli 2020 veröffentlichte das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen eine Studie, die sich mit der Einführung eines temporären Grundeinkommens zum Schutz der Armen und Bedürftigen in Entwicklungsländern befasst. Den Autoren der Studie erscheint ein solches Grundeinkommen als Gebot der Stunde. Es könne, so folgern sie, nicht zuletzt die Corona-Pandemie gerade dort einzudämmen helfen, wo Menschen ihr besonders schutzlos ausgeliefert seien – weil normalerweise weder Arbeits- noch Lebensbedingungen Präventionsmaßnahmen wie Home-Office oder social distancing erlaubten. Achim Steiner, Leiter des UN-Entwicklungsprogramms, konstatierte: "Introducing a Temporary Basic Income (…) has emerged as one option. This might have seemed impossible just a few months ago."

Die UN-Studie steht beispielhaft dafür, dass im Zuge der Corona-Pandemie Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen weltweit Konjunktur haben. So auch in Deutschland. Bereits im März 2020 lancierte die Modedesignerin Tonia Merz eine Petition, in der sie eine zunächst auf sechs Monate befristete Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in Höhe von monatlich 800 bis 1.200 Euro pro Person forderte. Die Petition, die inzwischen knapp eine halbe Million Menschen unterzeichnet haben, endet mit den Worten: "Ich beschränke diese Forderung bewusst nicht auf einzelne Gruppen, denn was das ganze Land jetzt braucht, ist Unterstützung, und es ist unser gemeinsames Geld! Eine bessere Möglichkeit, das Konzept Grundeinkommen zu testen, gibt es nicht – in der Krise liegt die größte Chance."

Eine weitere Grundeinkommenspetition, die deutschlandweit Aufsehen erregte, wurde ebenfalls im März 2020 von der Tagesmutter Susanne Wiest auf den Weg gebracht. Bereits 2009 hatte sich Wiest mit einer Petition an den Bundestag gewandt und die unbefristete Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle Bürgerinnen und Bürger gefordert. Damals wurde das binnen eines Monats zu erreichende Quorum von 50.000 Unterschriften, das für eine Anhörung im Petitionsausschuss des Bundestages vorgesehen ist, in letzter Minute erreicht. Nun wurde das Quorum in Windeseile – bereits vier Tage nach Veröffentlichung der Petition – erfüllt. Bis zum Ablauf der Frist hatten über 175.000 Menschen die Petition unterzeichnet – wobei ein bedingungsloses Grundeinkommen in existenzsichernder Höhe diesmal nicht unbefristet gefordert wurde, sondern "kurzfristig und zeitlich begrenzt, aber so lange wie notwendig".

Zu den Petitionen von Tonia Merz und Susanne Wiest gesellen sich eine Vielzahl an Aufrufen und Appellen, die angesichts der Corona-Pandemie die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens fordern. Tenor: Wann, wenn nicht jetzt, werde deutlich, dass das Existenzminimum jedes Einzelnen unabhängig von bezahlter Arbeit und nachweisbarer Bedürftigkeit jederzeit zu garantieren ist? Freilich sind ebenso Gegenstimmen vernehmbar, die anmahnen: Wann, wenn nicht jetzt, werde deutlich, dass ein Grundeinkommen für alle viel zu teuer und unspezifisch ist, um denen, die wirklich Hilfe benötigen, passgenau zu helfen?

Wie dem auch sei: Dass das Grundeinkommen derzeit lautstark diskutiert wird, liegt sicherlich auch daran, dass die Corona-Pandemie gewisse Entwicklungen zuspitzt, die zwar nicht neu sind, mit einem Grundeinkommen aber ganz anders gestaltet werden könnten. So herrscht in Zeiten teils übermäßigen Reichtums vielerorts weiterhin verheerende Armut. Außerdem sind Arbeits- und Lebenswelt mit den epochalen Folgen der Digitalisierung konfrontiert. Könnte ein Grundeinkommen in Sachen Armut endlich Abhilfe schaffen? Wären wir damit für das digitale Zeitalter besser gerüstet? Kurzum: Ist das bedingungslose Grundeinkommen ein Freiheits- und Gerechtigkeitserfordernis – oder gerade das Gegenteil: ungerecht und illiberal? Genau darüber wird gestritten, wenn über das Grundeinkommen gestritten wird – und das nicht erst seit heute.

Geschichte des Grundeinkommens

Wer sich der Geschichte des bedingungslosen Grundeinkommens widmet, der muss mit einer simplen Feststellung beginnen: Ein existenzsicherndes Einkommen, das jedem Einzelnen lebenslang jenseits von Arbeitspflicht und Bedarfsprüfung gewährt wird, ist historisch beispiellos. Insofern ist die Geschichte des Grundeinkommens bis heute die Geschichte einer Utopie. Und sie nimmt passenderweise nicht zuletzt mit dem genreprägenden Roman "Utopia" Fahrt auf, den der britische Staatsmann und Humanist Thomas Morus 1516 veröffentlicht. Darin werden unter anderem die politischen und sozialen Verhältnisse im damaligen England reflektiert – und zur Kriminalitätsbekämpfung wird anstelle der Todesstrafe eine Einkommensgarantie gefordert.

Im 18. Jahrhundert befassen sich beispielsweise die Philosophen Thomas Paine und Thomas Spence mit dem Grundeinkommen. Im 19. Jahrhundert diskutieren es unter anderem Charles Fourier, Victor Considerant, John Stuart Mill, Joseph Carlier und Paul Lafargue. Vor allem Lafargues Streitschrift "Das Recht auf Faulheit" von 1883 macht Furore. Lafargue lehnt es ab, dass Menschen mit Maschinen um Arbeitsplätze konkurrieren. Jeder Arbeitsplatz, den eine Maschine übernehme, befreie einen Menschen, so Lafargue. Als Arzt setzt er sich mit arbeitsmedizinischen Studien auseinander, die zeigen, dass zu viel beziehungsweise falsche Arbeit sowohl die Leistung als auch die Gesundheit beeinträchtigt. Schließlich diagnostiziert er nicht mehr den Mangel, sondern den Überfluss als gesellschaftliches Hauptproblem, dem nicht mit mehr Arbeit, sondern mit mehr Freizeit beizukommen sei. Deshalb fordert Lafargue nicht nur ein Grundeinkommen, sondern auch eine drastische Arbeitszeitverkürzung. Anstelle der Fetischisierung des Fleißes strebt er eine Demokratisierung der Muße an.

Vom "Recht auf Faulheit" ist es nicht weit bis zum "Lob des Müßiggangs" – ein Buch, das der britische Philosoph Bertrand Russell 1935 publiziert. Russell fordert darin Freizeit und Muße für alle – und dafür ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das hatte er bereits 1918 in seinem Buch "Wege zur Freiheit" vorgeschlagen und damit unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Großbritannien eine erste öffentliche Grundeinkommensdebatte befeuert. Lange hatten die vereinzelten Grundeinkommensauseinandersetzungen ausschließlich in kleinen gelehrten Kreisen stattgefunden. Erst im 20. Jahrhundert etabliert sich ein öffentlicher Grundeinkommensdiskurs, dessen erster britischer Höhepunkt sich vor allem an der "sozialen Frage" infolge des Ersten Weltkrieges entzündet.

Im Mittelpunkt einer zweiten großen Grundeinkommensdebatte in den USA der 1960er Jahre stehen einerseits die vielfachen Benachteiligungen vor allem der afroamerikanischen Bevölkerung, andererseits die weitreichenden Folgen zunehmender Automatisierung. An der Debatte beteiligen sich unter anderem die Ökonomen Milton Friedman, Kenneth Galbraith, Robert Theobald und James Tobin, aber auch Hannah Arendt, Erich Fromm und Martin Luther King.

In den 1980er Jahren erreicht eine dritte große Grundeinkommensdebatte erstmals Kontinentaleuropa. Deren Protagonisten sind unter anderem Ralf Dahrendorf, Ulrich Beck, Joseph Beuys und André Gorz. Die Themen lauten: Armutsbekämpfung, Krise der Industriegesellschaft mit Blick auf Arbeits- und Umweltschutz, Geschlechtergerechtigkeit, Bürgerrechte, Bürokratieabbau – und nicht zuletzt "Befreiung von falscher Arbeit", wie 1984 die erste aufsehenerregende deutschsprachige Grundeinkommenspublikation betitelt ist. 1986 wird mit dem Basic Income European (später: Earth) Network ein bis heute ebenso akademisch wie zivilgesellschaftlich engagiertes Grundeinkommensnetzwerk gegründet. Diesem internationalen Netzwerk schließt sich später auch das deutsche Netzwerk Grundeinkommen an, das an jenem Tag des Jahres 2004 ins Leben gerufen wird, an dem der Bundesrat dem Hartz-IV-Gesetz der Schröder-Regierung zustimmt.

Mit den Diskussionen um die Hartz-Reformen steht das Grundeinkommen in Deutschland erneut im Fokus der Öffentlichkeit. Der Unternehmer Götz Werner fordert in seinem gleichnamigen Bestseller 2007 ein "Einkommen für alle" und nennt Hartz IV einen "offenen Strafvollzug in gesellschaftlicher Isolation". 2016, 500 Jahre nach dem Erscheinen von Morus’ "Utopia", wird in der Schweiz als weltweit erstem Land über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens abgestimmt. Obwohl sich eine deutliche Mehrheit dagegen ausspricht, ist das Grundeinkommen seither weltweit, vor allem angesichts andauernder Armut und fortschreitender Digitalisierung, Gegenstand unzähliger Debatten.

Das Grundeinkommen im Meinungsstreit

Gemäß dem Netzwerk Grundeinkommen zeichnet sich ein bedingungsloses Grundeinkommen durch folgende vier Grundelemente aus: "Existenz- und Teilhabesicherung; individueller Rechtsanspruch für alle Menschen; keine Bedürftigkeitsprüfung; kein Zwang zur Arbeit oder zu anderen Gegenleistungen." Für diese Definition spricht unter anderem, dass sich ein bedingungsloses Grundeinkommen damit klar und deutlich von all den Sozialleistungen abgrenzen lässt, die der Bismarck’sche Sozialstaat in bald eineinhalb Jahrhunderten hervorgebracht hat – und deren Bezug fast immer an zwei Bedingungen geknüpft ist: Bedürftigkeit sowie Vor- und/oder Gegenleistungen. Auf diese Bedingungen verzichtet ein bedingungsloses Grundeinkommen. Um den definitorischen Anforderungen zu genügen, müsste es hierzulande unter Berücksichtigung der Pfändungsfreigrenze, der Armutsgrenze sowie des Grundfreibetrags derzeit bei rund 1.000 Euro monatlich pro Person veranschlagt werden.

Eine klare Abgrenzung des bedingungslosen Grundeinkommens auch von allerlei anderen sozialpolitischen Errungenschaften wie betrieblicher Mitbestimmung, Mindestlohn oder Arbeitszeitverkürzung scheint nicht zuletzt deshalb sinnvoll, weil sich erst dann fundiert darüber streiten lässt, ob das Grundeinkommen beispielsweise als Mittel zur Armutsbekämpfung taugt, welche Auswirkungen es auf die Arbeitswelt hätte und ob es schließlich einen Freiheits- und Gerechtigkeitsgewinn oder -verlust bedingt.

Befürworter sehen darin nicht selten den Königsweg zur Armutsbekämpfung, da ein Grundeinkommen das Existenzminimum jedes Einzelnen dauerhaft gewähren würde – ohne kostspielige Antrags- und Kontrollbürokratie. Armut werde also nicht erst behoben, nachdem sie entstanden ist, sondern bereits vorgebeugt. Gegnerinnen des Grundeinkommens wenden ein, dass allein das Ziel der Armutsbekämpfung deutlich günstiger und wirksamer zu erreichen sei, denn ein Grundeinkommen erhielten unnötigerweise zahlreiche Personen, die finanziell gesehen gar nicht darauf angewiesen sind. Außerdem sei es eine Illusion zu glauben, dass Armut bloß mittels Geldzahlungen zu beheben sei. Vielmehr bedürfe es dafür ausgeklügelter Hilfsprogramme, die über ein Grundeinkommen weit hinausgehen.

Mit Blick auf die Arbeitswelt erscheint Befürworterinnen ein Grundeinkommen oftmals als Antwort auf bestehende oder bevorstehende Arbeitslosigkeit, da das Grundeinkommen die finanziellen Folgen von Arbeitslosigkeit nahezu bürokratiefrei abmildern würde. Auch hier wird entgegnet, dass Arbeitslosigkeit allein mit anderen Mitteln weitaus effizienter zu bekämpfen sei, da auch jede Menge Gutverdiener das Grundeinkommen bekämen.

Außerdem wird das Grundeinkommen hinsichtlich möglicher Auswirkungen auf Arbeitsbedingungen, Arbeitsmotivation und den grundsätzlichen Stellenwert von Arbeit diskutiert. Befürwortern zufolge würde es schlechten Arbeitsbedingungen Einhalt gebieten, weil damit "am Arbeitsmarkt der Kern aller Freiheit, nämlich die Freiheit, ‚nein‘ zu sagen, zur Geltung gebracht würde". Die mit dem Ende des latenten Arbeitszwangs einhergehende Freiwilligkeit in Sachen Arbeit sei außerdem die beste Voraussetzung guter Leistung, weil Demotivation die Produktion nicht länger behindere. Zu guter Letzt wird darauf verwiesen, dass die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt der Digitalisierung exakt den Tugenden des Grundeinkommens entsprächen: Da Maschinen früher oder später alle berechenbaren Tätigkeiten übernehmen könnten, käme es nicht länger auf Fleiß und Gehorsam, sondern vielmehr auf Kreativität und Selbstbestimmung an. Gegnerinnen gehen demgegenüber davon aus, dass das Grundeinkommen Lohndumping befördere, weil es mit den Erwerbseinkommen verrechnet würde, und ein fataler Motivationshemmer sei, weil es dauerhaft leistungsloses Einkommen verspreche, das über kurz oder lang die Arbeitsmoral zerrütte. Außerdem kritisieren sie überzogene Erwartungen von der Digitalisierung.

Wohl am meisten scheiden sich die Geister bei der Frage, welche Auswirkungen ein Grundeinkommen auf den grundsätzlichen Stellenwert von Arbeit hätte. Befürworterinnen sehen im Grundeinkommen nicht nur eine Aufwertung der Muße, sondern auch eine Aufwertung sowohl der bezahlten als auch der unbezahlten Arbeit, weil nun Freiheit statt Zwang das zentrale Motiv zur Arbeit und demzufolge aus Frondienst Freiwilligendienst werde. Gegner des Grundeinkommens befürchten dagegen eine Entwertung der Arbeit als privilegierter Sinngenerator sowie eine Spaltung der Gesellschaft in wenige hochqualifizierte, fleißige Grundeinkommensfinanziers und viele unqualifizierte, faule Grundeinkommensempfänger.

Von den Auswirkungen des Grundeinkommens auf die Arbeitswelt hängt letztlich auch die vieldiskutierte Finanzierungsfrage ab. Wer davon ausgeht, dass die Menschen faul werden und Erwerbsarbeit an Attraktivität einbüßt, dem gilt ein bedingungsloses Grundeinkommen ziemlich sicher als unbezahlbar. Wer dagegen annimmt, dass ein Grundeinkommen nicht zu allgemeiner Lethargie und Untätigkeit verführt, dem erscheint seine prinzipielle Finanzierbarkeit durchaus realistisch, erst recht angesichts der Tatsache, dass ein Grundeinkommen – abhängig von seiner Höhe – unzählige kompliziert verwaltete Sozialleistungen relativ einfach ersetzen könnte.

Und wie steht es um Freiheit und Gerechtigkeit? Als liberal und gerecht wird das Grundeinkommen vor allem von denen empfunden, die darin nicht in erster Linie eine armuts- oder arbeitsmarktpolitische Maßnahme sehen, sondern in der bedingungslosen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Grundrecht erkennen, ohne das andere Grundrechte – etwa das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie auf freie Berufswahl – zumindest potenziell gefährdet sind. Wer ein Grundeinkommen dagegen als unangemessene Haftung der Gemeinschaft für private Selbstverwirklichungsexzesse betrachtet, der weist es entschieden als illiberal und ungerecht zurück.

Das Grundeinkommen im (vermeintlichen) Praxistest

Wer sich unsicher ist, welche Auswirkungen die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens hätte und ob sie zu befürworten oder abzulehnen sei, der ruft nicht selten nach Experimenten. Seit der großen amerikanischen Grundeinkommensdebatte der 1960er Jahre gibt es Feldversuche, die sich explizit als Grundeinkommensexperimente verstehen – und deren Aussagekraft dennoch äußerst umstritten ist.

Jüngst wurde etwa der Abschlussbericht des weltweit ersten gesetzlich vorgeschriebenen landesweiten randomisierten Grundeinkommensexperiments in Finnland veröffentlicht. Zwischen Anfang 2017 und Ende 2018 erhielten 2.000 zufällig ausgewählte finnische Arbeitslose 560 Euro monatlich vom Staat – ohne die sonst üblichen Auflagen oder Abzüge bei Hinzuverdienst. Durchschnittlich waren sie damit signifikant zufriedener und weniger gestresst als die Kontrollgruppe, außerdem arbeiteten sie ein bisschen mehr, wurden also keineswegs fauler. Doch was lässt sich aus einem solchen Grundeinkommensexperiment schlussfolgern, von dem ein Großteil der Bevölkerung – alle Nicht-Arbeitslosen – bereits im Vorhinein ausgeschlossen wurde, dessen Zahlungen nur binnen 24 Monaten gewährt wurden und außerdem weit unter dem finnischen Existenzminimum von rund 1.000 Euro pro Monat bemessen waren? Wäre es nicht aussagekräftiger, wenn beispielsweise 10.000 repräsentativ ausgewählte finnische Bürgerinnen und Bürger für zehn Jahre monatlich 1.000 Euro erhalten hätten? Solche Fragen rühren an fundamentale methodische Probleme von Grundeinkommensexperimenten.

Erstens: Ein Grundeinkommen, das allen Bürgerinnen und Bürgern eines Gemeinwesens lebenslang ausgezahlt wird, lässt sich nicht sinnvoll testen, wenn nur eine bestimmte Gruppe über einen begrenzten Zeitraum bedingungslose Zuwendungen erhält. Das Verhalten der Testpersonen bleibt dann zwangsläufig auf das Leben jenseits des Experiments bezogen.

Zweitens: Selbst wenn sich die Testpersonen subjektiv so verhielten, wie sie es mit einem lebenslangen existenzsichernden Grundeinkommen tatsächlich tun würden, müssten sie ihre Lebensentscheidungen dennoch objektiv weiterhin in einer Gesellschaft treffen, die ihrerseits alles ohne Grundeinkommen entscheidet und rechtfertigt.

Drittens: Selbst wenn man davon ausginge, dass sich mittels eines großflächigen, langfristigen, repräsentativen, randomisierten Feldversuchs tatsächlich feststellen ließe, wie sich ein bedingungsloses Grundeinkommen etwa auf Arbeit, Bildung, Gesundheit und Familie auswirkt, sagen diese Daten nichts darüber aus, wie sie politisch zu bewerten sind. Sind mehr oder weniger geleistete Arbeitsstunden besser oder schlechter? Sind mehr oder weniger studierte Semester besser oder schlechter? Sind mehr oder weniger verschriebene Psychotherapien besser oder schlechter? Sind mehr oder weniger geschiedene Ehen besser oder schlechter? Solche Bewertungsfragen und dementsprechend auch die Frage, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen nun eingeführt werden sollte oder nicht, lassen sich durch Grundeinkommensexperimente grundsätzlich nicht beantworten.

Kurzum: "Wenn man wissen will, wie ein Grundeinkommen die Gesellschaft verändert, muss man es einführen." Das heißt natürlich nicht, dass man es nur überstürzt und ohne jedes Vorwissen einführen kann. Allerdings ist das relevante Vorwissen nicht in sogenannten Grundeinkommensexperimenten zu gewinnen. Vielmehr lassen sich im Rahmen der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse Beobachtungen anstellen, Schlüsse ziehen und Argumente ins Feld führen, die für oder gegen ein Grundeinkommen sprechen und bei seiner Einführung auf die Probe gestellt würden.

Zukunft des Grundeinkommens

Am 18. Juli 2020 forderte UN-Generalsekretär António Guterres in einer Grundsatzrede zur Bekämpfung globaler Ungleichheit anlässlich des 102. Geburtstages von Nelson Mandela unter anderem "a new generation of social protection policies with new safety nets including Universal Health Coverage and the possibility of a Universal Basic Income". Auch die Weltbank veröffentlichte vor Kurzem einen ausführlichen Leitfaden zum bedingungslosen Grundeinkommen, in dem betont wird: "A Universal Basic Income holds an attractive promise of change across many lines." Auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum steht das Thema seit Jahren immer wieder auf der Tagesordnung, und Linksintellektuelle wie der Historiker Rutger Bregman, der Philosoph Philippe Van Parijs, der Linguist Noam Chomsky oder der Ökonom Thomas Piketty sprechen sich ebenso dafür aus wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, Twitter-Gründer Jack Dorsey, Tesla-Gründer Elon Musk oder Ebay-Gründer Pierre Omidyar. Steht die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens also kurz bevor?

Wohl kaum. Trotz pandemiebedingt steigender Armut und digitalisierungsbedingt beschleunigtem Wandel von Arbeits- und Lebenswelt gibt es für das bedingungslose Grundeinkommen derzeit keine parlamentarischen, sondern nur Umfragemehrheiten. Und es gibt – außer in der Schweiz – gegenwärtig auch keine Möglichkeiten, strittige Grundsatzfragen von Verfassungsrang direktdemokratisch zu entscheiden.

Das heißt freilich nicht, dass das immer so bleiben muss – und es heißt auch nicht, dass wir uns hierzulande nicht längst auf dem Weg in Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens befinden. Mit Kindergeld und Grundrente kennen wir bereits mehr oder weniger bedingungslose Sozialleistungen am Lebensanfang und -ende. Das Bundesverfassungsgericht hat das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums mehrfach bekräftigt – zuletzt, indem es die Hartz-IV-Sanktionen für teilweise verfassungswidrig erklärte. Darüber hinaus lassen sich Maßnahmen wie die zunehmende Steuerfinanzierung ursprünglich beitragsfinanzierter Sozialleistungen "als – oft uneingestandene und halbherzige – Schritte auf einem Weg interpretieren, der zum bedingungslosen Grundeinkommen führt".

Dennoch: Auch mehr oder weniger bedingungslos etablierte und steuerfinanzierte Sozialleistungen sind von einem bedingungslosen Grundeinkommen begrifflich scharf zu trennen. Und wer vorgibt, ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen, obwohl er entweder dessen Betrag zu niedrig ansetzt oder dessen Auszahlung an diese Not oder jene Tugend knüpft, der führt kein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern ein trojanisches Pferd zur Durchsetzung grundeinkommensfremder Ziele ein. Ganz egal, wie ehrenwert diese Ziele sein mögen, ob es sich dabei um nachzuweisenden Bildungserfolg (etwa Schul- oder Hochschulabschlüsse), nachzuweisende Gesundheitsvorsorge (etwa Impfungen) oder nachzuweisendes Wohlverhalten (etwa Vorstrafenfreiheit) handelt – ein Grundeinkommen, das darauf Rücksicht nimmt, ist kein unveräußerliches Grundrecht, sondern fungiert wahlweise als Belohnung oder Bestrafung.

Eine besondere Pointe der Grundeinkommensforderung besteht schließlich darin, dass seine Einführung der Gesellschaft sowohl einen gesteigerten Individualismus als auch gesteigerte Solidarität abverlangt. Eine dominant individualistische Gesellschaft wird niemals die Solidarität aufbringen, allen – und das heißt aus Sicht des Einzelnen vor allem: allen anderen – ein bedingungsloses Grundeinkommen zuzugestehen. Umgekehrt wird eine dominant solidarische Gesellschaft die Individuen niemals so freilassen, wie es die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens erfordert. Anders gesagt: Die Individualisierung des Individuums, die das Grundeinkommen ermöglicht, lässt sich nur dann verwirklichen, wenn sich die Gesellschaft zugleich solidarischer begreift. Und die Solidarisierung der Gesellschaft, die das Grundeinkommen ermöglicht, lässt sich nur dann verwirklichen, wenn das Individuum zugleich individualistischer begriffen wird.

Praktisch heißt das: Will ich die Freiheiten eines bedingungslosen Grundeinkommens für mich selbst in Anspruch nehmen, muss ich bereit sein, sie allen anderen ebenfalls zuzubilligen. Ich muss mich nicht nur für meine eigene, sondern gleichermaßen für die Freiheit der anderen einsetzen. Der neue Gesellschaftsvertrag, den das bedingungslose Grundeinkommen erforderlich macht, umfasst sowohl Freisinn als auch Gemeinsinn, Eigeninitiative ebenso wie Interesse am anderen. Wenn wir diese Bedingtheiten eines bedingungslosen Grundeinkommens berücksichtigen und willens sind, ihnen Rechnung zu tragen, dann muss seine Forderung nicht länger utopisch bleiben.

ist Research Fellow an der Seniorprofessur für Wirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke und forscht am Basler Philosophicum. E-Mail Link: philip.kovce@philosophicum.ch