In ihrer "Agenda für Europa" kündigte die damals noch designierte Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen im Juli 2019 an, einen "gerechten Mindestlohn" gesetzlich zu verankern und bis 2024 sicherzustellen, dass alle in Vollzeit arbeitenden ArbeitnehmerInnen in der EU einen Lohn erhalten, der einen "angemessenen Lebensstandard" ermöglicht. Damit erhielt die seit Langem schwelende Debatte um einen europäischen Mindestlohn verstärkte politische Aufmerksamkeit und neues Gewicht.
Vor dem Hintergrund, dass Lohnsetzung eine nationale Aufgabe ist und im Wirkungsbereich der Sozialpartner, also der nationalen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände, liegt, stellt sich die Frage, wie dieses Ziel auf europäischer Ebene erreicht werden kann. Und wie weit sind die EU-Mitgliedsländer von gerechten Mindestlöhnen für einen angemessenen Lebensstandard noch entfernt? Um dies einschätzen zu können, ist es auch wichtig, die Vielfalt der nationalen Systeme und Praktiken der Mindestlohnsetzung in Europa zu beleuchten.
Vorschlag der EU-Kommission
Im ersten Halbjahr 2020 hat die EU-Kommission ihre Initiative konkretisiert. Basierend auf den Ergebnissen der ersten Sozialpartnerkonsultation hat sie zunächst einen Bedarf für einen EU-Rahmen festgestellt. Wie Ursula von der Leyen von Beginn an betont hat, geht es dabei nicht um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in allen Mitgliedsstaaten. "Minimum wages should be set according to national traditions, through collective agreements or legal provisions. I am a firm believer in the value of social dialogue between employers and unions, the people who know their sector and their region the best."
Auch strebt die Kommission keine Harmonisierung der nationalen Mindestlöhne an. Nationale Mindestlöhne sollen "angemessen" sein und auch "alle ArbeitnehmerInnen schützen", und sie schlägt vor, dass sich die Mitgliedsstaaten im Rahmen der Initiative darauf einigen, diese beiden Ziele zu verfolgen. Die Wahl der jeweiligen Mittel bliebe dabei weiterhin den Mitgliedsländern überlassen.
Die Angemessenheit umfasst laut Kommission zwei Dimensionen: Fairness gegenüber den Löhnen anderer ArbeitnehmerInnen im selben Land, aber auch das Potenzial, den ArbeitnehmerInnen einen angemessenen Lebensstandard im Verhältnis zum Einkommen anderer Gruppen beziehungsweise in absoluten Zahlen zu bieten.
Als Eckpunkte der Initiative und spezifische Ziele hält die Kommission daher fest:
dass gut funktionierende kollektive Lohnverhandlungssysteme vorhanden sind;
dass nationale Mechanismen der Mindestlohnsetzung und -anpassung klaren und stabilen Kriterien folgen;
dass die Sozialpartner effektiv in die Setzung der Mindestlöhne einbezogen werden, um deren Angemessenheit unterstützen zu können;
dass jegliche Variationen und Ausnahmen von Mindestlöhnen eliminiert oder zumindest limitiert werden;
dass die nationalen Mindestlohn-Rahmenbedingungen effektiv befolgt werden und auch Überwachungsmechanismen vorhanden sind.
Mit Blick auf einzelne Elemente dieser Initiative nehme ich im Folgenden eine vergleichende EU-weite Bestandsaufnahme vor.
Mindestlohnsetzung in Europa
Die EU-Mitgliedsstaaten lassen sich mit Blick auf ihre Mindestlohnsysteme grob in zwei Gruppen einteilen: Die Mehrzahl, nämlich 21 Länder sowie das Vereinigte Königreich, hat einen gesetzlich verankerten Mindestlohn. Dieser wirkt als universelle unterste Lohngrenze und kann auf Stunden-, Wochen- oder auch Monatsbasis festgelegt sein. Mit wenigen gesetzlichen Ausnahmen, zum Beispiel geringere Sätze für Jugendliche oder Auszubildende in manchen Ländern, wirken diese Sätze als bindende Untergrenze, die auch von Tarifvereinbarungen im Allgemeinen nicht unterschritten werden dürfen.
Sechs weitere Mitgliedsstaaten – Dänemark, Finnland, Italien, Österreich, Schweden und Zypern – haben keinen universell gültigen gesetzlich verankerten Mindestlohn, sondern legen meist auf Branchenebene über sozialpartnerschaftlich verhandelte Tarifverträge verschiedene Mindestlöhne fest. Durch dieses System können allerdings Lücken entstehen. Ein solcher sinkender und niedriger Abdeckungsgrad von Tarifverträgen war auch einer der Hauptbeweggründe für die Einführung des Mindestlohns in Deutschland 2015.
In den meisten Ländern ohne gesetzlichen Mindestlohn liegt der tarifliche Abdeckungsgrad allerdings noch vergleichsweise hoch: Österreich erreicht durch die verpflichtende Mitgliedschaft von privaten Unternehmen bei der Wirtschaftskammer, die ihrerseits fast flächendeckend Branchenkollektivverträge mit den Gewerkschaften verhandelt, sogar eine fast vollständige Abdeckung. In Finnland werden die verhandelten Branchentarifverträge in hohem Ausmaß auch auf nichtunterzeichnende Unternehmen gesetzlich ausgedehnt; in Schweden und Dänemark ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad noch derart stark, dass trotz fehlender gesetzlicher Ausweitung weiterhin eine hohe Abdeckung gewährleistet bleibt. Gleichzeitig ist in diesen Ländern auch die soziale Kontrolle sowohl von unternehmerischer als auch von gewerkschaftlicher Seite stark ausgeprägt: Auch Unternehmen, die nicht dem Geltungsbereich eines Vertrags unterliegen, tendieren dazu, diesen anzuwenden; in Dänemark haben die Gewerkschaften zusätzlich die Möglichkeit, gerichtlich gegen Fälle von starker Unterzahlung vorzugehen. Daher wurde bislang auch in keinem dieser Länder die Einführung eines gesetzlich festgelegten Mindestlohns in Erwägung gezogen.
Anders gestalten sich derzeit die Debatten in Italien und Zypern. Auch Italien hat vordergründig einen hohen Tarifdeckungsgrad, der Anteil nicht umfasster ArbeitnehmerInnen steigt jedoch. Mangels einer klaren Regelung der Repräsentativität der Sozialpartner hat das Land mit dem Phänomen von "piratischen" Tarifverträgen zu kämpfen, die von kleineren Organisationen mit einzelnen Betrieben abgeschlossen werden und die Lohn- und Arbeitsbedingungen der flächendeckenden Tarifverträge unterbieten. Zypern wiederum hat ein freiwilliges und rechtlich nicht bindendes Tarifvertragssystem, das nur etwa die Hälfte der Beschäftigten abdeckt. Gleichzeitig hat die Regierung die Möglichkeit, gesetzliche Mindestlöhne für bestimmte Berufsgruppen festzulegen. In beiden Ländern wird nunmehr laut über die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns nachgedacht: In Italien wurden mehrere Gesetzesvorschläge im Parlament debattiert, die sich jeweils hinsichtlich der vorgeschlagenen Höhe und der Einbindung der Sozialpartner unterscheiden, und die zypriotische Regierung prüft eine Einführung auf Grundlage einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation.
Aber auch in den EU-Ländern mit gesetzlichen Mindestlöhnen gibt es eine Vielfalt an Regelungen, die bestimmen, wie diese regelmäßig anzupassen sind. In Belgien und Estland wird der nationale Mindestlohn von den Sozialpartnern auf höchster Ebene verhandelt und anschließend vom Gesetzgeber per Dekret oder Gesetz verabschiedet. Diese Möglichkeit besteht auch in anderen EU-Ländern, vielfach wird die Anpassung des Mindestlohns wie in Bulgarien, Tschechien, Polen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien letztlich aber einseitig von den Regierungen bestimmt. Ausnahmen waren 2019 und 2020 Ungarn, Lettland und auch Spanien, wo sozialpartnerschaftliche Übereinkünfte erreicht wurden.
Wieder andere Länder – und dies ist ein Trend der vergangenen zwei Jahrzehnte – haben ihre jährliche Mindestlohnsetzung mithilfe von ExpertInnenkommissionen stärker institutionalisiert oder sie teilweise auch einem klar umrissenen formelbasierten Regelwerk unterworfen, das meist die Entwicklung von anderen Löhnen, Preisen und ähnlichen Indikatoren heranzieht. Vorreiter war hier das Vereinigte Königreich, das anlässlich der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns zur Jahrtausendwende zugleich auch die Low Pay Commission einrichtete. Diese ist staatlich finanziert, paritätisch mit den Sozialpartnern und unabhängigen ExpertInnen besetzt und erforscht und beobachtet die Auswirkungen von Mindestlohnerhöhungen, um jährlich eine Empfehlung zur Anpassung des Mindestlohns abzugeben. Auch Frankreich hat seit 2008 ein mit ForscherInnen besetztes ExpertInnengremium (groupe d’experts SMIC), das zusätzliche Erhöhungen des französischen Mindestlohns vorschlagen kann, die auch über die rechnerisch ermittelten Ergebnisse einer gesetzlich definierten Formel hinausgehen können. Deutschland und Irland haben sich mit der Einführung der Mindestlohnkommission 2015 beziehungsweise der Low Pay Commission 2016 wiederum an diesen Modellen orientiert, und kürzlich haben auch Griechenland und Kroatien ähnliche Einrichtungen aus der Taufe gehoben.
Bei näherem Hinsehen unterscheiden sich auch diese Modelle, zum einen hinsichtlich der Methode und des Spielraums der ExpertInnenkommissionen beim Erstellen ihrer Vorschläge, zum anderen mit Blick auf den jeweiligen Einflussgrad von Sozialpartnern und ExpertInnen. In Deutschland etwa kommt der Mindestlohnkommission eine Rolle beim Beobachten und Erforschen der Auswirkungen von Mindestlohnveränderungen zu, die Festlegung der Höhe orientiert sich aber am Tariflohnindex. Somit haben die Sozialpartner hier auch weiterhin einen starken indirekten Einfluss, zusätzlich zu ihrer Vertretung in der Kommission. In Irland und im Vereinigten Königreich wird die Höhe der Anpassung unter den Mitgliedern der Kommission verhandelt, Frankreich hingegen hat sein ExpertInnengremium zwar mit der Sammlung von Inputs von Sozialpartnerseite beauftragt, es ist aber vom zusätzlich stattfindenden formellen Konsultationsprozess mit den Sozialpartnern getrennt, und auch Griechenland hat die Sozialpartner nicht direkt eingebunden, sondern konsultiert diese nur.
Relativ "mechanistisch" erfolgt dagegen die jährliche Anpassung in den Niederlanden und Malta, wo die Entwicklung der Mindestlöhne an die voraussichtliche (Tarif-)Lohnentwicklung beziehungsweise an die Preisentwicklung angepasst ist.
Auch alternative Ansätze zur Bestimmung von "Lebenslöhnen", die den Beschäftigten und ihren Familien ein sozial akzeptiertes angemessenes Auskommen ermöglichen sollen, wurden in wenigen EU-Ländern bereits angedacht. In der umfassendsten Variante wird dabei mithilfe von ExpertInnen und Betroffenen im Bottom-up-Verfahren ein "Warenkorb" mit Gütern und Dienstleistungen festgelegt, der eine dem jeweiligen Land entsprechende, sozial angemessene Versorgung von LebenslohnbezieherInnen und deren Familien sicherstellen soll. Allerdings finden sich diese Ansätze im Allgemeinen noch außerhalb der regulären Mindestlohnsysteme und werden von einzelnen Unternehmen auf freiwilliger Basis angewendet.
Die Methoden und Praktiken zur Feststellung und Anhebung der Mindestlöhne in Europa sind vielfältig und entwickeln sich von Jahr zu Jahr weiter. Dies geschieht teils als Reaktion auf interne politische oder andere Entwicklungen, die die Sozialpartner betreffen, teils aber auch als Reaktion auf Einflüsse von außen, etwa durch länderspezifische Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters, dem jährlichen sechsmonatigen Koordinationsrahmen für wirtschafts-, finanz- und beschäftigungspolitische Maßnahmen der EU-Mitgliedsländer.
Sind nationale Mindestlöhne "fair"?
In der politischen Debatte zur Höhe des Mindestlohns wird häufig auf den sogenannten Kaitz-Index zurückgegriffen. Dieser gibt das Verhältnis zwischen den (gesetzlichen) Mindestlöhnen und den mittleren oder durchschnittlichen Lohnniveaus eines Landes an. Je niedriger diese Kennzahl ist, desto größer ist der Unterschied im Lohnbezug eines Mindestlohnbeziehers im Verhältnis zu anderen Beschäftigten.
In der EU-Debatte zu Mindestlöhnen wurde bereits in den vergangenen Jahren häufig auf derartige Kennzahlen verwiesen, nicht zuletzt auch, weil sie unabhängig vom jeweiligen Lohnniveau Vergleiche über Länder hinweg erlauben. Vorschläge, dass ein EU-weiter Mindestlohn 60 oder 50 Prozent der nationalen Löhne ausmachen könnte, standen bereits vor Ankündigung der neuen Initiative im Raum und waren 2019 im EU-Wahlkampf Thema. Teils wurden diese Größen auch analog zur gängigen Definition der relativen Armutsgrenze als "Lohn-Armutsgrenze" bezeichnet.
Obschon die EU-Kommission auf keine derartige relative Zielgröße abstellte, sondern diese als Gradmesser für die "Fairness" der Mindestlöhne in Bezug auf andere Beschäftigte eines Landes bezeichnete, standen viele Beiträge der ersten Phase der öffentlichen Debatte im Zeichen eines derartigen Prozentsatzes. Auch auf nationaler Ebene ist seit 2019 teilweise ein verstärkter Fokus auf dieses Verhältnis zu beobachten: Eine neue Regelung in der Slowakei erlaubt es der dortigen Regierung nunmehr, die Mindestlöhne auf 60 Prozent der Durchschnittslöhne des vergangenen Jahres anzuheben, sollten die Sozialpartner vorher keine Einigung auf eine andere Höhe erzielen. Auch in Spanien wurde über die gesetzlich geregelte Kopplung der Mindestlöhne an die Durchschnittslöhne mit der Zielmarke 60 Prozent nachgedacht, und das Vereinigte Königreich kündigte diesen Schritt bereits 2015 für 2020 an und will sie nunmehr bis 2024 weiter auf 66 Prozent anheben.
Die gesetzlichen Mindestlöhne haben sich im Laufe der beiden vergangenen Jahrzehnte im Vergleich zum jeweiligen Lohnniveau des Landes meist erhöht (Abbildung). Ausnahmen sind unter den Ländern mit verfügbaren Zahlen Belgien, die Niederlande und Irland. Mindestlöhne sind demnach tendenziell "fairer" geworden, wenn man als Bezugsgröße die anderen ArbeitnehmerInnen eines Landes heranzieht. Allerdings muss auch dieser Befund relativiert werden: Viele der mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedsländer hatten zu Beginn des Jahrtausends besonders niedrige Ausgangswerte, und auch 2018 liegen die gesetzlichen Mindestlöhne in den meisten EU-Ländern unter 60 Prozent, häufig auch noch unter 50 Prozent der Medianlöhne.
Sind die nationalen Mindestlöhne ausreichend?
Obwohl sich die nationalen gesetzlichen Mindestlöhne im vergangenen Jahrzehnt innerhalb der EU etwas angeglichen haben, sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern noch immer beachtlich: So ist der Mindestlohn in Luxemburg mit 12,08 Euro pro Stunde nominell fast 6,5 mal so hoch wie in Bulgarien mit 1,87 Euro. Dieser Unterschied verringert sich etwas, wenn das jeweilige Preisniveau des Landes berücksichtigt wird, bleibt aber weiterhin bestehen. Der Angleichungsprozess der Löhne war in den Jahren nach der Finanzkrise 2008 auch eine Zeitlang ausgesetzt, da insbesondere Länder mit geringeren Löhnen diese oft und lang "eingefroren" hielten, und erst in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre kam es zu einem neuerlichen Aufholprozess. Griechenland war das einzige Land, in dem die Kürzung des Mindestlohns im Zuge der Krise über einen längeren Zeitraum hinweg nicht nur real, sondern auch nominell erfolgte, und zwar von 877 Euro pro Monat im ersten Halbjahr 2012 auf 684 Euro bis 2019.
Vor diesem Hintergrund ist das Bild zu sehen, das sich aus der jährlichen Erhebung zu den Einkommens- und Lebensbedingungen in der EU ergibt, bei der EU-BürgerInnen unter anderem gefragt werden, ob sie mit ihrem Einkommen auch bis zum Monatsende auskommen und wie schwer oder leicht ihnen das fällt. Identifiziert man in diesem Datensatz die Gruppe der MindestlohnbezieherInnen und stellt deren Antworten denen der anderen Beschäftigten gegenüber, zeigt sich zum einen, dass MindestlohnbezieherInnen "eher Schwierigkeiten" haben, mit ihrem Einkommen auszukommen, als andere: Sieben von zehn MindestlohnbezieherInnen geben an, zumindest "einige Schwierigkeiten" zu haben, während bei den anderen Beschäftigten jeder Zweite entsprechend antwortet. Betrachtet man noch diejenigen, die angeben, "Schwierigkeiten" oder "große Schwierigkeiten" zu haben, mit ihrem Einkommen auszukommen, wird ein gewaltiger Unterschied zwischen den einzelnen Staaten sichtbar. In den skandinavischen Ländern und Deutschland ist dieser Anteil mit 10 Prozent oder weniger der Befragten recht niedrig, während er in Zypern, Kroatien und Bulgarien bei über 50 Prozent und in Griechenland sogar bei mehr als 80 Prozent liegt.
Ausblick
Auch wenn 2019/20 erst der Auftakt zu einem EU-Regelungsprozess war, kann bereits festgehalten werden, dass die EU-Mindestlohninitiative ihre Wirkung potenziell auch über die Gruppe der MindestlohnbezieherInnen hinaus entfalten könnte. Hier zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab: Während die nationalen kollektiven Lohnverhandlungssysteme im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise in einigen EU-Ländern, darunter Portugal, Griechenland, Irland und Rumänien, stark unter Druck gerieten beziehungsweise wie in den baltischen Staaten, Bulgarien, Ungarn und Polen bereits zuvor schwach ausgebildet waren, scheint es nun eine (Rück?-)Besinnung auf deren Errungenschaften zu geben. Nach dem vom ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker 2015 proklamierten "Neustart für den Sozialdialog", der vor allem die Rolle der Sozialpartner in europäischen und nationalen politischen Prozessen stärken sollte, setzt die neue Kommission diese Linie mit dem klaren Bekenntnis zur Umsetzung der Europäischen Säule der Sozialen Rechte weiter fort. Als Teil dieses Vorhabens kann die Mindestlohninitiative wohl auch dazu beitragen, das Augenmerk wieder auf die Rolle von kollektivvertraglicher Absicherung im Allgemeinen zu legen, der insbesondere in Krisenzeiten eine wichtige "Versicherungsfunktion" zukommt, da Tariflöhne konjunkturelle Veränderungen der Wirtschaftsleistung nicht im gleichen Ausmaß abbilden wie nichttarifliche Löhne.
Die Corona-Pandemie und die mit ihr einhergehende Wirtschafts- und Sozialkrise stellen die politischen EntscheidungsträgerInnen sowie die lohnsetzenden Akteure aber vor weitere Herausforderungen. Die Stabilisierung von Löhnen und Einkommen ist nicht zuletzt auch als nachfragestabilisierende Maßnahme ein Gebot der Stunde, das EU-weit rasch umzusetzen versucht wurde.Angemessene Mindestlöhne können ihren Beitrag zur Einkommenssicherung leisten, insbesondere da sie in einigen Ländern auch Referenzwerte für andere Einkommen sind, beispielsweise für Elterngeld, Kurzarbeitergeld oder Pensionen.
Die Frage, inwieweit sich Mindestlohnerhöhungen oder auch deren Einfrieren vor dem Hintergrund sinkender Löhne und steigender Arbeitslosigkeit auf die Beschäftigungsentwicklung auswirken werden, wird in den kommenden Jahren weiterhin wichtig bleiben. Die empirischen Befunde der vergangenen Jahre haben überwiegend gezeigt, dass die Beschäftigungswirkungen von Mindestlohnerhöhungen im Allgemeinen gering, allerdings für einzelne stärker betroffene Gruppen etwa in Niedriglohnregionen, bei Niedrigqualifizierten oder jüngeren ArbeitnehmerInnen durchaus messbar waren. Eine größere Studie im OECD-Ländervergleich zeigt, dass Mindestlohnerhöhungen auch in wirtschaftlich schlechten Phasen keinen signifikanten Rückgang der Zahl der erwachsenen Beschäftigten, wohl aber der jugendlichen sowie der "marginal Beschäftigen" nach sich zogen. Man wird daher auch im Zuge der Mindestlohninitiative der EU-Kommission auf die Frage der Jugendbeschäftigung und flankierende Maßnahmen für diese Gruppe eingehen müssen. "Angemessene" und "faire" (Mindest-)Löhne werden ein wichtiger Bestandteil für die wirtschaftliche und soziale Erholung sein.