Trotz Mindestlohn hat Deutschland nach wie vor einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Durch die Corona-Krise wird einmal mehr offensichtlich, dass das deutsche Wirtschafts- und Sozialmodell hier über ein grundlegendes Funktionsdefizit verfügt, und der Problemdruck steigt gleich in mehrfacher Hinsicht.
Zum einen sind Beschäftigte in den Niedriglohnsektoren von den ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie besonders betroffen. Wie keine andere Beschäftigtengruppe werden sie mit Kurzarbeit konfrontiert und müssen entsprechende Einkommenseinbußen hinnehmen. Dabei greifen sozialpolitische Kompensationsmaßnahmen wie die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes gerade für diese Beschäftigtengruppen am wenigsten. Mit der Corona-Krise droht demnach erneut eine Zunahme der ohnehin schon sehr ausgeprägten Lohn- und Einkommensungleichheit in Deutschland.
Zum anderen hat die Corona-Pandemie in aller Deutlichkeit zutage gefördert, dass viele der heute als "systemrelevant" anerkannten Berufe und Tätigkeiten extrem schlecht bezahlt werden. Angesichts der hohen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedeutung dieser Beschäftigtengruppen gibt es hier eine extreme soziale Schieflage, die eine grundlegende lohnpolitische Aufwertung verlangt. Allerdings besteht die Gefahr, dass notwendige Veränderungen in der deutschen Arbeitsmarktordnung zur Eindämmung des Niedriglohnsektors durch die Corona-Krise eher verschoben werden. Dies gilt etwa für eine deutlichere Anhebung des Mindestlohns, die nach der jüngsten Empfehlung der Mindestlohnkommission zunächst eher moderat ausfällt und erst mit einiger zeitlicher Verzögerung stärker wirksam wird. Zugleich zeigen jüngste politische Initiativen wie zum Beispiel in der Fleischindustrie, dass die Corona-Krise auch zum Auslöser werden kann, um langjährige strukturelle Probleme auf dem Arbeitsmarkt anzugehen.
Umfang, Entwicklung und Struktur des Niedriglohnsektors
Nach internationalen Konventionen gilt ein Lohn dann als Niedriglohn, wenn er weniger als zwei Drittel des sogenannten Medianlohns beträgt, also des mittleren Einkommens aller Vollzeitbeschäftigten. Entsprechend dieser Definition arbeiten je nach Datenlage zwischen einem Viertel und einem Fünftel aller Beschäftigten in Deutschland im Niedriglohnsektor.
In Deutschland ist der Niedriglohnsektor vor allem in den 1990er und 2000er Jahren kontinuierlich gewachsen. Die Ursachen lagen in einer umfangreichen Liberalisierung und Deregulierung des Arbeitsmarktes, die in den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung ihren Höhepunkt fanden. Dass die Förderung des Niedriglohnsektors dabei ein gezieltes politisches Projekt war, wurde spätestens mit der mittlerweile berühmt gewordenen Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Weltwirtschaftsforum 2005 in Davos deutlich, in der er nicht ohne Stolz verkündete, dass "wir (…) einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut [haben], den es in Europa gibt".
Mit der Liberalisierung des Arbeitsmarktes, dem anhaltenden ökonomischen und technologischen Strukturwandel sowie nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit kam es zugleich auch zu einer grundlegenden Machtverschiebung im Verhältnis von Arbeitgebern und Gewerkschaften, die in immer mehr Bereichen der Wirtschaft mit einer Erosion der traditionellen Institutionen des deutschen Arbeitsbeziehungsmodells einhergingen.
Der Rückgang der Tarifbindung fand seine spiegelbildliche Entsprechung in einer Ausdehnung des Niedriglohnsektors. Bis heute gibt es eine enge Korrelation zwischen Lohnhöhe und Tarifbindung. Während Mindestlohnbeschäftigte mit einem Monatseinkommen von etwas über 1.500 Euro nur zu knapp einem Drittel in Unternehmen mit Tarifvertrag arbeiten, sind es bei einem Einkommen zwischen 1.500 und 2.000 Euro bereits 40 Prozent und bei einem Einkommen über 3.000 Euro fast 60 Prozent.
Seit Beginn der 2010er Jahre ist die Größe des Niedriglohnsektors relativ konstant. Auch die Einführung und spätere Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns hat daran nichts verändert. So lag das Niveau des Mindestlohns bislang stets deutlich unterhalb der Niedriglohnschwelle und hat deshalb das Ausmaß des Niedriglohnsektors kaum beeinflussen können. Erst der langanhaltende Aufschwung in den 2010er Jahren hat sich schließlich am Ende des Jahrzehnts erstmals auch in einem leichten Rückgang des Niedriglohnsektors niedergeschlagen.
2018 lag die Niedriglohnschwelle bei 11,40 Euro pro Stunde.
Darüber hinaus arbeiten Niedriglohnbeschäftigte insbesondere in bestimmten Dienstleistungssektoren. Hierzu zählen das Gastgewerbe, der Einzelhandel, die Reinigungsbranche, der gesamte Bereich Bildung, Gesundheit und Soziales sowie zahlreiche weitere personen- und unternehmensbezogene Dienstleistungsbranchen. Besonders viele Niedriglohnempfänger finden sich außerdem in der Landwirtschaft und in einigen Bereichen der Nahrungsmittelindustrie wie etwa in der Fleischwirtschaft. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil liegt der geringe Verdienst bei der Mehrheit der Beschäftigten jedoch nicht an einer mangelnden Berufsqualifikation. Vielmehr verfügen mehr als 60 Prozent der Niedriglohnbeschäftigten über einen Berufsbildungsabschluss und weitere 10 Prozent sogar über einen Hochschulabschluss.
Deutliche Unterschiede zeigen sich hingegen vor allem im Hinblick auf den Beschäftigungsumfang. Während bei den Vollzeitbeschäftigten knapp 13 Prozent im Niedriglohnsektor arbeiten, ist ihr Anteil bei den sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten mit etwa 26 Prozent bereits doppelt so hoch. Von den geringfügig beschäftigten Minijobbern erhalten sogar fast drei Viertel lediglich einen Niedriglohn. Auch andere Formen prekärer Beschäftigung wie zum Beispiel ein befristetes Arbeitsverhältnis oder Leiharbeit gehen mit einem deutlich höheren Niedriglohnrisiko einher. Schließlich zeigen aktuelle Studien, dass der Niedriglohnsektor eine sehr geringe Aufstiegsmobilität aufweist und für die meisten Beschäftigten eher eine Sackgasse ist, aus der sie auch nach Jahren der Berufstätigkeit kaum herauskommen.
Niedriglohnbeschäftigte in der Corona-Krise
Viele Indikatoren weisen darauf hin, dass Niedriglohnbeschäftigte von den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie in besonderer Weise betroffen sind. So zeigen die Ergebnisse einer aktuellen repräsentativen Befragung, dass Erwerbstätige mit niedrigem Einkommen zugleich am häufigsten mit Einkommenseinbußen konfrontiert waren. Während im Durchschnitt 26 Prozent aller Erwerbstätigen über Einkommensverluste klagten, lag ihr Anteil unter den Erwerbstätigen mit einem Netto-Haushaltseinkommen von unter 1.500 Euro pro Monat mit 40 Prozent deutlich darüber. Mit steigendem Einkommen sank insgesamt die Wahrscheinlichkeit von Einkommenseinbußen.
Ein wesentlicher Grund für die aktuellen Einkommensverluste in der Corona-Krise liegt in der Kurzarbeit. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit arbeiteten in den Monaten April und Mai 2020 jeweils mehr als 6 Millionen Beschäftigte in Deutschland in Kurzarbeit.
Beschäftigte in Kurzarbeit erhalten ein Kurzarbeitergeld von 60 Prozent des für die reduzierte Arbeitszeit entgangenen Nettoeinkommens beziehungsweise 67 Prozent, wenn diese zu versorgende Kinder haben. In vielen Branchen wird das Kurzarbeitergeld auf der Grundlage von tarifvertraglichen oder betrieblichen Regelungen durch die Unternehmen auf 80, 90 oder in manchen Fällen sogar auf bis zu 100 Prozent des Einkommens aufgestockt.
Bei Niedriglohnempfängern führt der Einkommensverlust durch Kurzarbeit in der Regel schnell zu einer Schwelle, bei der diese auf ergänzende Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II ("Hartz IV") angewiesen sind. Vor diesem Hintergrund wurde im März und April 2020 intensiv über eine gesetzliche Erhöhung des Kurzarbeitergeldes diskutiert.
Systemrelevanz von Niedriglohnbeschäftigten
Durch die Corona-Pandemie wurde schlagartig bewusst, dass viele Beschäftigtengruppen im Niedriglohnsektor für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen und sozialen Lebens unabdingbar sind. Diese heute als "systemrelevant" bezeichneten Beschäftigten umfassen den gesamten Bereich der Versorgung von der Landwirtschaft und der Produktion von Nahrungsmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs über den Einzelhandel und den Bereich der öffentlichen Infrastruktur mit Ver- und Entsorgung, Transport, Reinigung und Sicherheit bis hin zum gesamten Gesundheits- und Sozialwesen. Die meisten der systemrelevanten Beschäftigtengruppen werden deutlich unterhalb des Durchschnitts bezahlt.
Folgt man dem öffentlichen Diskurs über die "Held*innen des Alltags", so scheint die Corona-Pandemie hier tatsächlich einen grundlegenden Wandel anzudeuten. So wird mittlerweile kaum mehr bestritten, dass die wachsende gesellschaftliche Anerkennung für die genannten Beschäftigtengruppen sich auch in einer besseren Bezahlung niederschlagen muss.
Ob die nun anvisierten Veränderungen in der Fleischindustrie auch mit einer Beendigung von Niedriglohnbeschäftigung in diesem Sektor einhergehen, ist hingegen noch nicht ausgemacht. Hierfür wäre es vor allem nötig – wie in anderen Niedriglohnbranchen auch – die Verhandlungsposition der Beschäftigten deutlich zu stärken. Dies erfordert zuallererst Gewerkschaften, die in diesen Branchen in der Lage sind, neue Organisationsmacht aufzubauen und durch die Etablierung gewerkschaftlich orientierter Betriebsräte abzusichern.
Darüber hinaus sind Tarifverträge notwendig, die jeweils für die gesamte Branche gelten und deshalb gegebenenfalls für allgemeinverbindlich erklärt werden müssen. So ist es in vielen Niedriglohnbranchen gerade das Fehlen branchenweit verbindlicher Lohnstandards, die eine entsprechende Aufwertung behindern. Dass tarifpolitisch eine Aufwertung von Niedriglohnbranchen gelingen kann, hat erst im März 2020 der neue Tarifabschluss in der Systemgastronomie gezeigt. Hier ist es den Tarifvertragsparteien gelungen, mit einem mehrjährigen Anpassungsplan den Lohn in Fast-Food-Restaurantketten auf ein strukturell höheres Niveau anzuheben.
Corona-Krise und Reform des Mindestlohngesetzes
Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland 2015 erfolgte mit dem Ziel, den Niedriglohnsektor zu begrenzen und allen Beschäftigten – zumindest bei einer Vollzeittätigkeit – wieder ein existenzsicherndes Einkommen zu ermöglichen. Obwohl der Mindestlohn tatsächlich zu kräftigen Lohnsteigerungen im unteren Lohnsegment geführt hat, konnten bislang beide Ziele noch nicht erreicht werden.
Vor diesem Hintergrund hat sich bereits einige Zeit vor der Corona-Krise eine politische Debatte entwickelt, aus der im Kern die Forderung entstanden ist, den Mindestlohn durch eine außerordentliche Erhöhung auf ein existenzsicherndes Niveau anzuheben. Als Ziel hat sich dabei die Marke von 12 Euro herauskristallisiert, die heute nicht nur von einem breiten politischen Spektrum, das von der Partei Die Linke, der SPD, den Grünen, den Gewerkschaften bis zum Arbeitnehmerflügel der CDU reicht, sondern auch von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird.
Auf der Seite der Arbeitgeber wurden angesichts der Corona-Krise auch diejenigen Stimmen immer lauter, die jede weitere Kostensteigerung für die Unternehmen ablehnten und deshalb – wenn nicht gar für eine Reduzierung – zumindest für ein Einfrieren des Mindestlohnniveaus plädierten. Damit lagen die jeweiligen Ausgangspositionen innerhalb der Mindestlohnkommission 2020 extrem weit auseinander: Während die Arbeitgeber mit Hinweis auf die Corona-Krise am liebsten eine Nullrunde vereinbart hätten, forderten die Gewerkschaften eine überproportionale Erhöhung oberhalb des Tarifindex, um einen möglichst großen Schritt in Richtung 12 Euro zu gehen.
Am 30. Juni 2020 veröffentlichte die Mindestlohnkommission schließlich einen Vorschlag, wonach der Mindestlohn von derzeit 9,35 Euro pro Stunde ab dem 1. Januar 2021 auf zunächst 9,50 Euro und danach im jeweils sechsmonatigen Abstand auf 9,60 Euro, 9,82 Euro und 10,45 Euro steigen soll.
Vor dem Hintergrund der Spielräume, die eine konsensorientierte Entscheidung innerhalb der Mindestlohnkommission ermöglicht, haben die Gewerkschaften ein achtbares Ergebnis erzielt. Gleichwohl hat dieser Kompromiss sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gewerkschaften, insbesondere seitens einiger Wohlfahrtsverbände, auch kritische Stimmen hervorgerufen, die darauf hinweisen, dass der Mindestlohn auch in den nächsten beiden Jahren kein existenzsicherndes Niveau erreichen wird und die Erhöhung aus dieser Perspektive insgesamt nach wie vor zu langsam erfolgt.
Die Kritik am Mindestlohnkompromiss verdeutlicht, dass der bisherige Anpassungsmodus an seine Grenzen gestoßen ist. Er ist von sich aus kaum in der Lage, das Strukturproblem eines deutlich zu geringen Ausgangsniveaus bei der Einführung des Mindestlohns zu beheben. Bei der Vorstellung des aktuellen Vorschlags der Mindestlohnkommission hat auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil noch einmal auf genau diese Grenzen verwiesen und für den Herbst 2020 Vorschläge für eine Weiterentwicklung des Mindestlohngesetzes angekündigt. Hierbei soll für die Mindestlohnkommission neben der Orientierung an den Tariflöhnen eine "zweite Leitplanke" eingezogen werden, die "den Schutz vor unzureichender Entlohnung stärker in den Fokus nimmt".
Ein mögliches Kriterium für eine solche "zweite Leitplanke" könnte der sogenannte Kaitz-Index sein, der das Verhältnis vom Mindestlohn zum jeweiligen nationalen Medianlohn zum Ausdruck bringt. Gegenwärtig liegt der Mindestlohn in Deutschland bei etwa 48 Prozent des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten. Der international anerkannten Schwelle von 60 Prozent für einen existenzsichernden Mindestlohn entspräche in Deutschland ein Mindestlohn von etwa 12 Euro.
Ein reformiertes Mindestlohngesetz, das neben der Tariflohnorientierung auch ein klares Kriterium für eine absolute Untergrenze im Sinne eines existenzsichernden Mindestlohns benennt, würde in der Tat den Spielraum auch für größere Anpassungsschritte erweitern.